Kitabı oku: «Leoparden unter kaltem Mond»

Yazı tipi:

Jessie Adler Gral
LEOPARDEN UNTER KALTEM MOND
Roman

Copyright © 2013 Jessie Adler Gral

Published by: epubli

ISBN 978-3-8442-6472-2

Cover: Judith Hamann, Tübingen

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Für meine Mutter,

die meine Liebe zur Sprache weckte

Prolog

Sancho war fest entschlossen, nicht zu weinen. Er kniete nackt auf den steinernen Fliesen der Polizeiwache und versuchte, sein Zittern zu unterdrücken. Neben ihm kauerten Lobinho und Cielito, ebenfalls nackt und zitternd. Die Kinder froren erbärmlich, denn die Bullen hatten sie drei Stunden ohne Kleider auf dem nächtlichen Hof stehen lassen und wieder und wieder mit kaltem Wasser überschüttet. Aber das Zittern kam nicht nur von der Kälte. Es war ja keineswegs der erste Überfall der grünen Hühner, und die Kinder wussten genau, was ihnen bevorstand. Luna hatten die Bullen gleich zu Anfang von der Truppe isoliert, um sie ungestört im Nebenzimmer zu vergewaltigen.

Sancho biss die Zähne zusammen und unterdrückte ein Stöhnen. Diese elenden Hurensöhne! Vor allen Dingen nicht weinen, hämmerte er sich ein. Auch schreien durfte er nur im äußersten Notfall. Schließlich war er der Anführer. Er musste seinen Leuten ein gutes Beispiel geben.

„Los, ihr Ratten!“, brüllte der Polyp, der Camargo hieß, und gab seinen Untergebenen durch die geöffnete Tür einen Wink. Zwei weitere grüne Hühner kamen herein und trieben die nackten Jungen mit Faustschlägen über den Korridor in einen lichtlosen kleinen Verschlag.

„Nicht die Papageienschaukel, bitte!“, heulte Sancho auf und wich zurück, bis er mit dem nackten Hintern an die Wand stieß. Der Anblick der runden Stange, die etwa einen Meter über dem Betonfußboden angebracht war, versetzte ihn in helle Panik.

Flavio Camargo grinste. Jetzt hatten die kleinen Scheißer natürlich die Hosen voll. Aber auf der Straße, vollgepumpt mit Kleister, waren sie unerhört tapfer und rissen ihre ungewaschenen schwarzen Mäuler sperrangelweit auf. Was diese kleinen Kanalratten für einen Unflat von sich gaben! Aber hier auf dem Revier schlotterten sie natürlich vor Angst. Polizeioffizier Camargo packte den nackten Sancho grob am Arm und schleppte ihn durch den Raum. Er hob den dünnen Jungen hoch und hängte ihn mit den Knien über die Stange. Sancho machte sich schwer und blieb wie ein Kartoffelsack mit den Schultern auf dem Boden liegen.

„Los, heb gefälligst Deinen Arsch und streck die Arme unter der Stange durch“, bellte Camargo, der langsam die Geduld verlor. „Sonst mach ich Dich so fertig, dass Dich Deine eigene Mutter nicht mehr erkennt.“ Er riss Sanchos Arme nach oben und führte sie unterhalb der Stange an seinen Knien vorbei. Dann fesselte er die Handgelenke des Pivete mit einem Strick über den verschränkten Füßen und gab ihm einen leichten Stoß.

Der Pivete pendelte hilflos vor und zurück. Er war verschnürt wie ein Paket und unfähig, ein Glied zu rühren. Kopf, Geschlechtsteile und Fußsohlen waren schön exponiert und jeder Willkür preisgegeben. Camargo betrachtete die fest zusammengekniffenen Lider des aufgehängten Moleque und lächelte dünn. Jetzt würde er dem unverschämten Bürschchen ein bisschen Respekt beibringen. Das würde ihn lehren. In dieser Hinsicht war die Papageienschaukel unübertroffen. Er griff zu dem biegsamen Stock, der an der Wand hing und verpasste Sancho einen saftigen Hieb auf die Fußsohlen.

Der Pivete riss die Augen auf und keuchte.

„Das war erst der Anfang, Du nichtswürdige Ratte“, sagte Camargo mit seidenweicher Stimme und grinste bösartig. Er holte aus und platzierte den nächsten Hieb auf die offen daliegenden Genitalien des Jungen.

Der Pivete brüllte auf und begann dann stoßweise zu schluchzen. Die beiden anderen nackten Elendsgestalten, die auf dem Betonboden an der Wand hockten, stöhnten und ließen die Köpfe hängen.

„Augen auf!“, brüllte Camargo. „Schaut genau hin, ihr kleinen Scheißer. Ihr kommt als nächste dran!“

1

Quentin Hofhacker schlenderte durch den schattigen Wald des Königsforsts und pfiff einen alten Song der Beach Boys vor sich hin - California Girls. Seit er Bobbi wiederhatte, war er ein rundherum glücklicher Mann. Als Quentin pensioniert wurde, hatte der glänzend schwarze Dobermann mit den senfgelben Pfoten noch zwei weitere Dienstjahre abzureißen. Hofhacker hatte alle Hebel in Bewegung gesetzt, um Bobbi freizukriegen, doch es hatte nichts genützt. Zwar war Bobbi nicht mehr jung, doch er war erstklassig trainiert, und seine Ausbildung war bei weitem zu teuer gewesen, um ihn vor Ablauf seiner Dienstzeit in Ruhestand zu versetzen. Da half alles nichts: Bobbi war einfach zu wertvoll.

Zwei Jahre hatte Quentin ohne Bobbis hingebungsvollen Blick und sein vertrautes Hecheln leben müssen - eine furchtbare Zeit für ihn, zumal ein Jahr zuvor auch seine Frau gestorben war. Ohne Frau und Hund fühlte sich Hofhacker beinahe schon selbst halbtot, und der Gedanke, dass jetzt ein neuer Kollege mit Bobbi arbeitete, hatte Ströme von Eifersucht und Besorgnis durch sein altes Blut gejagt. Was, wenn der Kerl schlecht mit Bobbi umging? Bobbi war ein kräftiger und mutiger Hund, aber er war empfindsam. Was, wenn das Tier ihn ganz vergaß? Quentin hatte seinen Kummer und die schmerzliche Sehnsucht nach Bobbi in Bergen von Essen erstickt. Er hatte Brathähnchen, Sahneeis mit Paranüssen, Schweinshaxe und Tiramisu in sich hinein geschaufelt. Dazu Rumkugeln und Berge von Marzipanschweinen, deren rundliche rosige Formen ihm einen eigenartigen Trost vermittelten. Vielleicht wegen Valeria. Auch Valeria war rundlich gewesen, mit frischer rosiger Haut. Quentin seufzte aus tiefster Brust. Er hatte gefressen und gefressen und mehr als fünfzig Pfund Gewicht zugelegt.

Dann war Bobbi aus dem Polizeidienst entlassen worden, und Quentin hatte ihn gekauft. Jetzt zeigte sich, dass das Tier, von dem er sich vertragsgemäß zwei Jahre lang ferngehalten hatte, ihn keineswegs vergessen hatte. Bobbi hatte beim Anblick seines alten Herrchens in allen Tonlagen geheult und gejault. Der muskulöse Rüde hatte Quentin umgerannt, und der alte Mann hatte seine Arme um Bobbi geschlungen und gelacht und geweint, während sich beide wie die Verrückten am Boden wälzten. Ihr Wiedersehen hatte einigen der mit Quentin befreundeten Hundeführern verstohlene Tränen in die Augen getrieben. Hofhacker zog seine Hose hoch und schnaufte leise bei der Erinnerung. Trotz seines Gürtels rutschte die verdammte Hose ständig nach unten, denn seit Bobbi wieder bei ihm war, war sein Übergewicht rapide zusammengeschmolzen. Bobbi, der ihm einige Meter voraustrabte, winselte leise, weil er die Rührung seines Herrn spürte. Der Wald roch aromatisch nach trockenem Laub und warmem Harz, und Quentin erspähte den Kopf eines Maronenröhrlings, der die warme Erde durchbrach. Die ersten zusammengerollten braunen Blätter und Nadeln bedeckten den Waldboden, denn der Sommer war ausnehmend trocken gewesen. In ganz Südeuropa hatten wochenlang furchtbare Waldbrände gewütet.

Bobbi, der zwischen ein paar jungen Tannenschösslingen herumschnüffelte, jaulte plötzlich auf und sank bewegungslos auf ein kleines freies Areal zwischen den jungen Trieben. Quentin drehte sich um und pfiff, doch der Hund jaulte wieder und blieb regungslos liegen. Der alte Mann erstarrte. „Das ist nicht dein Ernst, Bobbi?“, sagte er mit rauer Stimme, und der Hund jaulte erneut und blieb liegen wie ein Stein, die Schnauze auf den warmen Erdboden gesenkt. Vielleicht machte Bobbi ja bloß Faxen, aber was, wenn nicht? Doch ehe er jetzt ein ganzes Bataillon von Ex-Kollegen zu Hilfe rief und sich womöglich lächerlich machte, würde er die Sache erst mal selbst überprüfen.

Quentin schlug die Augen zum Himmel und seufzte. „Okay, alter Junge, Du bleibst brav hier, und ich komme wieder, so schnell ich kann. Rühr Dich nicht vom Fleck, hast du verstanden?“ Bobbi kläffte leise zur Erwiderung.

Quentin keuchte erbärmlich, als er mit Spaten, Gartenhandschuhen und Schaufeln zu seinem Hund zurückkam. Er war mit seinem alten Lada so weit wie möglich in den Wald hineingefahren, was zwar gesetzwidrig, in diesem Fall aber zu entschuldigen war, denn er musste so schnell wie möglich zu Bobbi zurück. Natürlich war der Hund ausgezeichnet trainiert und sehr gehorsam, aber wenn man ihn länger als eine Stunde alleinließ, konnte er leicht die Lust verlieren und sich zu einem Spaziergang aufmachen.

Doch Bobbi lag noch immer brav auf dem kleinen kahlen Fleckchen zwischen den Tannenschösslingen. Hofhacker lobte ihn über den grünen Klee und warf ihm einen mitgebrachten Hundekuchen zu. Bobbi sprang hoch und schnappte den Kuchen mit einer eleganten Drehung aus der Luft heraus, während Quentin sich schweren Herzens ans Graben machte. Leichenspürhunde absolvierten ein langes Training, damit sie ausschließlich auf menschlichen Leichengeruch reagierten. Mit ihrer seismografisch empfindlichen Nase konnten sie einen toten menschlichen Körper noch in einer Tiefe von drei Metern unter einem Bauschutthügel riechen. Oder auch eine in Plastikbahnen verpackte Leiche, die unter dem Steinfußboden eines Kellers eingemauert war. Hatten sie einen Toten erschnüffelt, stießen sie einen langgezogenen Jaulton aus, legten sich über der entsprechenden Stelle nieder und blieben bewegungslos liegen.

Quentin wischte sich über das schweißfeuchte Gesicht und schaufelte schneller, während Bobbi schweifwedelnd über die Lichtung tobte.

In einer Tiefe von nur etwa eineinhalb Metern stieß Quentin auf eine kleine schwarze Hand, die wie um Hilfe flehend aus der nackten Erde ragte.

2
Recife, 7. September 2000

Sancho fluchte. Seit mindestens fünf Minuten strampelte er sich ab, unter dem verbeulten Leichtkochtopf aus Aluminium Feuer zu machen. Vom Meer her fegte ein scharfer Wind ins Land, und er hatte nur ein paar Holzsplitter und kaum Papier, um das Feuer zu entfachen. Die verdammten Sucateiros rissen jeden Fetzen Papier an sich, den die Straßenreinigung übersehen hatte, um ihn zusammen mit anderen kostbaren Abfällen zu verscherbeln. Er verbrannte sich die Hand an seinem dreizehnten Streichholz und fluchte erneut.

Sancho war der Anführer der Leoparden, einer Bande von sechs elternlosen, verlassenen Straßenkindern, wie es sie in brasilianischen Großstädten zu Tausenden gibt. Die Leoparden lebten auf der Praça Joaquim Nabuco, praktisch zu Füßen der Statue des berühmten Sklavenbefreiers. Das war ein Witz, dessen bittere Bedeutung den Kindern keineswegs entging, denn mit einer Ausnahme waren alle Mitglieder der Bande schwarz. Waren sie nicht so etwas wie moderne Sklaven?

Sancho pustete auf das winzige Häufchen von Holzsplittern, verschluckte sich am aufsteigenden Rauch und hustete. Endlich gelang es ihm, eine dünne Flamme am Brennen zu halten. Nicht, dass es viel zu kochen gegeben hätte. Außer drei Litern Wasser waren in dem alten Alukochtopf bloß Gemüseabfälle - zwei Zwiebeln, eine matschige Tomate, eine halbe Aubergine und mehrere dicke Kartoffeln. Dazu ein klitzekleines Stückchen Fisch. Der Fisch wog höchstens hundertachtzig Gramm, schätzte Sancho. Die Madonna mochte wissen, wie davon sechs Leute sattwerden sollten.

Er blies auf die dürftige Flamme, schichtete einige dünne Zweige mikadoartig über dem Feuer auf und verzog sorgenvoll das Gesicht. Tatsache war, dass es den Leoparden nicht gutging. Alle Bandenmitglieder waren barfuß und halb verhungert. Alle waren Analphabeten, und die jüngeren Leoparden gingen in Lumpen. Nur der fünfzehnjährige Sancho und seine Freundin Luna waren mit Bermudas und knappen Tank-Shirts halbwegs manierlich angezogen. Sancho rückte den verbeulten Alukochtopf über dem Feuer zurecht und seufzte. Er wusste natürlich, dass es den Leoparden hauptsächlich deshalb schlechtging, weil er als Straßenvater viel zu jung war. Ein Straßenvater war der Boss einer Kindergang. Er knobelte die Raubzüge aus, nahm das Geld in Verwahrung und verteilte Beute und Essen. Ein Straßenvater wusste, wie man an Waffen kam. Doch Sancho fehlte es an Lebenserfahrung und Abgebrühtheit. Er war einfach noch kein Profiräuber, und wie man an Waffen kam, wusste er auch nicht. Seine Bande begnügte sich noch immer mit einigen verschrammten Messern und den obligatorischen Rasierklingen.

Die dreizehnjährige Luna wickelte sich fest in ihre lumpige Decke. Sie fröstelte, denn sie hatte seit gestern Abend keinen Happen mehr zwischen die Zähne bekommen. Auch die übrigen Leoparden hockten apathisch auf ihren Pappunterlagen. Sie hatten alle Hunger, denn der Fischzug der gestrigen Nacht war voll in die Hose gegangen. Nachdem sie mit ihrem Glasschneider endlich das Oberlicht des Elektrogerätegeschäfts durchhatten, war ein schriller Alarm losgegangen, und wie aus dem Nichts waren plötzlich drei Bullen aufgetaucht. Sie waren um Haaresbreite entkommen, indem sie kopflos vom Dach sprangen und wie die Teufel hakenschlagend und über Mauern springend davonrasten.

Inzwischen waren alle Leoparden wieder eingetrudelt und warteten tödlich erschöpft auf Tupi, der beim Schuster einen Zweiliterkanister Cola de Sapateiro kaufen und den Stoff direkt in ihre kleinen Schnüffelflaschen umfüllen sollte. Der verfluchte Schuster wurde mit jedem Tag dreister und verlangte Unsummen für seinen gottverdammten Kleister. Ein gemeiner Halsabschneider, das war er, aber was konnte man schon dagegen machen? Ihre paar Münzen langten gerade noch für ein bisschen Kleister, aber wovon hätten sie ein anständiges Mittagessen bezahlen sollen? Luna schmiegte sich noch enger in ihre zerfetzte Decke. Wenigstens würden sie Kleister haben, den goldenen himmlischen Klebstoff, dessen Dämpfe alle Qualen und Demütigungen der Straße wegschmolzen. Kleister war lebenswichtig, wichtiger noch als Essen, denn er ließ einen den hungrigen Magen ebenso vergessen wie die Empörung der rechtschaffenen Leute, deren niederträchtige Kommentare noch übler schmerzten als die Prügel der Bullen.

Sie rappelte sich auf und sah teilnahmslos zu, wie Tupi mit einer prall gefüllten Plastiktüte angeschlendert kam. Er sah völlig entspannt aus. Kein Wunder, Tupi hatte ja auch keinen qualvollen Spurt hinter sich und keinen nervenaufreibenden Stress. Keine Todesangst, von den Bullen gepackt, durchgeprügelt und eingelocht zu werden. Stattdessen hatte er - während sich Luna und die anderen auf dem Dach des lausigen Elektrogeschäfts abplackten -, gemütlich in seine Decke gehüllt zusammen mit Moa die Habseligkeiten der Leoparden bewacht.

Luna seufzte verärgert. Aber es war sinnlos, Tupi auf Diebestouren mitzuschleifen. Der Achtjährige konnte die schweren Geräte nicht heben, und wenn man ihm einen winzigen Sack auf den Rücken packte, brach er zusammen. Tupi war nutzlos. Aber klar, zum Essen und Kleisterschnüffeln war er nicht zu schwach. „Beweg Deinen Arsch und schlaf nicht im Stehen ein!“, herrschte sie den Kleinen an. „Wir warten hier seit einer Ewigkeit und sind hungrig und geschafft.“

Gehorsam beschleunigte der kleine Mulatte seinen Schritt und kramte beflissen in der Plastiktüte, um Lunas Schnüffelflasche als erste herauszuziehen. Luna konnte verflucht gemein werden, wenn sie sauer war. Und sie hatte Macht, denn sie war die Freundin vom Boss.

3

Carolin Arissa trat nahe an die stählerne Bahre und betrachtete das tote Kind, das Sommerfeld und Dominik Merill gestern Abend aus dem Wald geborgen hatten. Heute war ihr erster Arbeitstag nach einem dreiwöchigen Urlaub. Als der Junge ausgegraben wurde, hatte sie sich noch in neuntausend Metern Höhe auf dem Rückflug von Madeira nach Köln befunden. Der kleine Mulatte war nackt bis auf ein grünes Tuch, das ihm locker über Brust und Unterleib hing. Sein spindeldürrer Körper war von alten Narben übersät. Die Narben sahen aus, als hätte man ihn mit einem Stock geprügelt. Auf beiden Unterarmen hatte er verheilte Wunden, die von glühenden Zigaretten stammten, und seine Haut zeigte ein fahles Grau. Er war vielleicht zehn Jahre alt. Beide Augäpfel fehlten.

„Gottverdammt“, sagte Arissa mit brüchiger Stimme und spürte bestürzt, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Cedric Sommerfeld hätte Hauptkommissarin Arissa gerne in die Arme geschlossen, doch er tat es nicht. Er wusste, dass Carolin es hasste, schwach zu erscheinen. Sie war eine beherrschte und stolze Frau. Nach einem kurzen Blick auf ihre in Tränen schwimmenden dunklen Augen wandte er sich taktvoll ab und hängte die Röntgenaufnahmen des Kindes an die Lichtwand. Seit Fionas Tod vor vier Jahren hatte ihn keine Frau mehr so fasziniert wie die spröde Kommissarin Arissa, und er hatte ihre Rückkehr aus dem Urlaub mit jeder Faser seines Herzens herbeigesehnt. Dabei hatte sie ihm während der ganzen Zeit nicht eine einzige Karte geschrieben. Sie hatte auch nicht angerufen. Er hatte nicht die leiseste Ahnung, wie sie zu ihm stand. Doch trotz dieses ernüchternden Faktums und des erbärmlichen Anblicks, den das gemarterte Kind bot, konnte er seine Freude über ihr Wiedersehen kaum zügeln.

Carolin Arissa haderte mit sich. Welche Kommissarin brach schon an der Bahre eines ermordeten Kindes in Tränen aus? Verdammt unbeherrscht, Arissa! Doch der kleine Junge ohne Augen sah so verlassen und geschändet aus, dass es einem wirklich das Herz brechen konnte, verteidigte sie sich in Gedanken. Sie streifte einen transparenten Handschuh ab und wischte sich beiläufig über die Augen. „Ein misshandeltes und ermordetes schwarzes Kind ohne Augen zu sehen, ist nicht gerade ein Vergnügen“, sagte sie heiser, um ihre Tränen auch Sommerfeld gegenüber zu rechtfertigen. „Schließlich bin ich selbst dunkelhäutig.“

Der Rechtsmediziner drehte sich zu ihr um und betrachtete ihre klaren Züge. Carolins Haut war honigfarben, doch natürlich wusste er, dass ihr Vater aus Äthiopien stammte. Und ganz egal, wie hellhäutig diese Menschen waren - nach der rassistischen Farbtypisierung, die aus der Kolonialzeit überlebt hatte, galten diese Leute als schwarz, zumindest aber als dunkelhäutig. Und Arissa, die eine blonde deutsche Mutter hatte, natürlich auch. „Der Junge hat auf Armen, Po und Schenkeln vernarbte Spuren von Stockschlägen“, sagte er sachlich. „Und Folterspuren von brennenden Zigaretten. Außerdem wurden ihm beide Nieren entfernt.“ Er schlug das Laken, das den Körper des Jungen verhüllte, zurück.

Über den Bauch des Kindes zog sich ein klaffender Längsschnitt.

Arissa schnappte nach Luft. „Ein reiches weißes Kind wäre nicht so leicht zum Opfer geworden“, sagte sie endlich mit rauer Stimme.

Sommerfeld nickte. „Die Bauchwunde war flüchtig mit Vicryl vernäht. Weil der Fall so ungewöhnlich ist, haben wir das Nahtmaterial ausnahmsweise schon vor der Obduktion entfernt und uns die Wunde näher angeschaut. Da zeigte sich dann, dass dem Kind beide Nieren fehlen.“

Arissa hatte sich wieder gefasst. „Ist die Stärke des Vicryl schon bestimmt?“ Sommerfeld schüttelte den Kopf. „Und die Organentnahme - wurde das fachmännisch gemacht oder hat da irgendein Dilettant herumgepfuscht?“

Cedric Sommerfeld wiegte den Kopf. „Ich schätze, dass die Nieren von einem Fachmann entnommen wurden. Andrerseits ist es meiner Kenntnis nach nicht üblich, den ganzen Augapfel herauszuschneiden, wenn man bloß die Augenhornhäute will.“ Er zog die Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. „Man könnte also bei der Augenentnahme von einer eher stümperhaften Ausführung sprechen. Doch dazu sollten wir die Meinung eines Augenarztes einholen.“

Carolin Arissa streifte Sommerfeld mit einem aufmerksamen Seitenblick. Unter seinem flüchtig geschlossenen Kasack lugte ein apfelsinenfarbenes Hemd hervor, auf dem sich kleine schwarze Hasen tummelten, und seine Brauen standen dicht und schwarz über den blassgrünen Augen. Er sah genauso wölfisch aus wie in ihrer Erinnerung, und Carolin atmete in tiefen Zügen, um ihr flatterndes Herz zu beruhigen.

„Was wissen wir denn bis jetzt über das Kind?“

Sommerfeld zuckte die Achseln. „Der Junge ist zwölf oder dreizehn Jahre alt. Er steht am Anfang der Pubertät. Allerdings ist er so klein und schmächtig wie ein Zehnjähriger. Der Körperbau ist leptosom, der Körper selbst sehr gepflegt. Fingernägel, Ohren, Haare, alles picobello gesäubert. Auch keine Schmutzränder unter den Fingernägeln. Die Erdproben vom Leichenfundort sind noch nicht analysiert. Trotzdem zeigt der Zustand von Haut und Zähnen, dass der Kleine über Jahre hinweg Hunger gelitten haben muss. Er ist unternährt und mangelernährt, und trotz seines zarten Alters fehlen ihm schon fünf Zähne. Außerdem hat er umschriebene Hautveränderungen an Mund und Nase.“ Er deutete auf die vollen Lippen des Kindes, die von geröteter, aufgerauter Haut umgeben waren. „Ich vermute, dass er irgendeine Art Lösungsmittel geschnüffelt hat. Das hier sind Entzündungen, die auf den Missbrauch von Lösungsmitteln hindeuten.“ Sommerfeld deckte den Unterleib des Jungen wieder mit dem Tuch zu und betrachtete geflissentlich die Röntgenbilder an der Lichtwand.

Arissa trat neben ihn und machte einen erneuten Versuch, ruhig und tief zu atmen. Sie war sich seiner körperlichen Nähe sehr bewusst und zugleich fassungslos über das Verlangen, das selbst jetzt, im Angesicht des brutal ermordeten Kindes, in ihr aufstieg. Doch Cedric Sommerfeld, der erst vor wenigen Monaten zum Leiter des Rechtsmedizinischen Instituts in Köln berufen worden war, hatte buchstäblich von der ersten Sekunde an diese Wirkung auf sie gehabt. Vor ihrem Urlaub hatten sie vorsichtig geflirtet, waren aber nicht miteinander ins Bett gegangen, obwohl Carolin es liebend gern gewollt hätte. Doch der damals gerade aufgeklärte Mordfall hatte ihr einen gebrochenen Unterschenkel und einige angeknackste Rippen eingetragen, und sie fand den Gedanken, mit Gipsbein und schmerzender Brust in Cedrics Armen zu liegen, nicht gerade verlockend. Von ihrer ersten Liebesnacht mit ihm hatte sie andere Vorstellungen. So war alles zwischen ihnen unausgesprochen und seltsam beunruhigend.

„Der Kleine hat drei verheilte Knochenbrüche an den Armen“, sagte Sommerfeld mit heiserer Stimme. „Außerdem einen alten Bruch des linken Schenkels und einen schlecht verheilten Schlüsselbeinbruch. Das lässt auf massive Gewalteinwirkung während der gesamten Kindheit schließen.“

„Also grobe Misshandlung, Unter- und Mangelernährung und vermutlich Lösungsmittelmissbrauch. Möglicherweise handelt es sich um ein obdachloses Kind, das auf der Straße gelebt hat. Hatte der Junge Kleider an, als er entdeckt wurde?“

„Nicht einen Faden. Es wurden auch keine Gegenstände bei oder an ihm gefunden. Aber vielleicht wird uns eine gründlichere Untersuchung der Leiche und der Erdproben doch noch ein paar vernünftige Hinweise geben.“

„Verdammt und zugenäht!“, fluchte die Kommissarin. „Keine Kleider, keine Unterwäsche. Wie sollen wir das Kind da identifizieren?“ Sie verschränkte die Arme über der Brust und starrte auf die Röntgenbilder.

Sommerfeld musterte sie unter gesenkten Lidern. Carolins normalerweise zimtfarbenes Haar war von der Sonne heller gebrannt und fiel ihr in winzigen Kräusellöckchen über Brust und Rücken. Ihre schrägen schwarzen Augen waren halb geschlossen, und ihr Mund war groß und rot.

Das gleißende Licht der Lampen traf mitten in seine Augen und ließ seine grüne Iris aufleuchten. Gletschergrün wie das wirbelnde Wasser eines Bergbachs, wenn es an sonnigen Tagen zu Tal schießt, dachte Arissa zusammenhanglos.

Mit einer einzigen fließenden Bewegung kamen sie zusammen. Cedric hielt Carolin wortlos an sich gepresst. Carolin schlang die Arme um seinen Hals und drängte ihren Körper an seinen. Beide spürten ihren Herzschlag bis in die Fußspitzen. „Du hast mir schrecklich gefehlt“, flüsterte Cedric in ihr gekräuseltes Haar. Carolin seufzte hingerissen und zerwühlte ihm das schwarze Haar. Sommerfeld gab einen Raubtierlaut von sich und umfasste ihren Hintern in der weichfallenden grünen Seidenhose.

Als die Tür des Autopsiesaals geräuschvoll aufgestoßen wurde, fuhren beide schuldbewusst auseinander. Sommerfelds Stellvertreterin Lila Dailis blieb wie festgenagelt im Türrahmen stehen. Sie trug eine frisch gelegte Dauerwelle im Stil Marilyn Monroes und einen wehenden, türkis gemusterten Kittel über einem knappen gelben Cocktailkleid. Ihre Lippen glänzten blutrot, ihre Lider veilchenblau. Carolin fand, dass sie wie ein Papagei aussah und wandte rasch die Augen ab.

Dailis schoss der albernen Polizistin, die betreten an ihrem Handy herumfummelte, einen wütenden Blick zu. „Wir haben ein Problem mit Ernst Weihmann, Cedric“, sagte sie scharf. „Weihmanns Obduktion ist für viertel nach vier an Tisch drei angesetzt, aber Tisch drei ist zur selben Zeit vom Fall Brigitte Lakers belegt. Wir haben zwar noch einen anderen freien Tisch für diese Zeit, aber keinen freien Obduzenten. Beide Fälle haben Dringlichkeitsstufe A. Welchem geben wir Priorität?“

Sommerfeld wandte sich ihr zu und erwiderte gleichmütig ihren Blick. “Das kannst Du doch allein entscheiden, Lila. Ich bin in einer dringenden Besprechung mit Hauptkommissarin Arissa.“

„Stimmt, das hab ich gesehen“, erwiderte Lila mit spöttischem Blick und drehte ihm unvermittelt den Rücken zu. Die Tür des Autopsiesaals schloss sich mit einem leise schmatzenden Laut, und eine Wolke ihres süßlichen Parfüms trieb langsam zu Sommerfeld und Arissa hinüber. Wie auf Kommando drehten sich beide wieder zur Lichtwand um und starrten auf die Bilder des toten Kindes.

Was für ein peinlicher Auftritt, dachte Arissa beschämt. Es war würdelos, sich neben einem ermordeten Kind in den Armen zu liegen, schlimmer noch: Es war erbärmlich. Aber es hatte sie einfach fortgerissen. Sie blickte Sommerfeld unauffällig von der Seite an. Ihm schien die Situation ebenfalls peinlich zu sein, seine Züge waren ausdruckslos.

„Was haben wir sonst noch an Informationen?“, fragte sie mit belegter Stimme.

„Der Anus des Jungen ist vernarbt und wulstig, was auf wiederholten brutalen Missbrauch schließen lässt.“

„Sexueller Missbrauch kann ein weiterer Hinweis auf ein ungeschütztes Dasein als Straßenkind sein. Möglicherweise ist der Junge aus einem Waisenhaus oder einer ähnlichen Einrichtung ausgerissen und hat sich seitdem auf der Straße durchgeschlagen. Vielleicht hat er sich prostituiert wie so viele Straßenkinder. Wie lange ist der Kleine jetzt tot?“

Sommerfeld blinzelte. „Der Körper ist noch ziemlich frisch, allerdings sind die Totenflecke kaum mehr wegzudrücken. Es gibt ein paar geringfügige Fäulniserscheinungen im rechten Unterbauch. Ich schätze, er war ungefähr dreiundvierzig Stunden tot, als er gefunden wurde. Nach der Autopsie weiß ich es genauer.“

„Also lag das Kind nicht mal zwei Tage in dem Erdloch, als Hofhackers Dobermann ihn aufspürte.“

Sommerfeld lachte kurz auf. „Ja, dass da ein pensionierter Leichenspürhund des Weges kommt und das Versteck ausschnüffelt, war wirklich ein Glücksfall.“ Er tippte flüchtig auf das Laken, das den Körper des Kindes bedeckte. „Noch etwas: Auf der Leiche gibt’s weder Fliegeneier noch Fliegenmaden.“

Arissa zog die Stirn kraus. In freier Natur setzten Schmeißfliegen ihre Eier auf Menschen ab, sobald sie tot waren. Manchmal auch schon, während sie starben. Dabei zeigten sie eine Vorliebe für die Körperöffnungen. „Wenn keine Fliegeneier oder Maden da sind, ist das Kind in einem geschlossenen Raum getötet und anschließend luftdicht eingepackt worden“, sagte sie. „Die Verpackung kann erst Sekunden vor dem Vergraben entfernt worden sein. Sofort danach hat der Täter das Kind mit Erde bedeckt.“ Sie starrte auf den toten schwarzen Jungen. „Warum hat er diese komische aschfahle Farbe?“

Sommerfeld seufzte. „Ich bin so gut wie sicher, dass ihm das gesamte Blut entzogen wurde. Das war vermutlich sogar die Todesursache.“

Carolin hob bestürzt den Kopf. „Aber die entnommenen Nieren und Augen?“

„An einer Nierenexplantation stirbt man nicht gleich. Auch nicht an herausgeschnittenen Augäpfeln. Solange das Herz schlägt und Blut durch den Körper pumpt, lebt der Mensch noch ein Weilchen weiter. Ich vermute, dass der Junge durch Ausblutung starb. Jemand hat ihm das Blut abgezapft und ihn dadurch umgebracht.“ Er zog das Laken, das über dem Unterleib des Kindes lag, erneut herab und spreizte die Bauchwunde behutsam. „Man sieht, dass das Gewebe hier in dem Schnitt auffallend bleich und blutleer ist. Auch die verbliebenen Organe sind bleich.“

„Ausgeschlachtet wie ein Ersatzteillager und dann ausgeblutet“, murmelte Arissa. „Großer Gott, was für Schweine!“ Ihr Handy läutete, und sie riss sich fahrig den zweiten Handschuh von den Fingern.

„Ich war grad in der Gegend und stehe jetzt gegenüber der Rechtsmedi“, sagte Merills leicht polternde Stimme. „Ich kann Dich zum Präsidium chauffieren, wenn Du magst. Hast Du noch länger zu tun?“

„Ich ..... nein ... eigentlich sind wir fertig“, erwiderte Arissa überrumpelt. Sie hatte Nick Merill seit ihrem Urlaub noch nicht wiedergesehen. Sie war überhaupt noch nicht im Präsidium gewesen, sondern sofort nach Dombrowskys Anruf ins Rechtsmedizinische Institut gerast. Woher wusste Merill, dass ihr Wagen noch in der Inspektion war?