Kitabı oku: «Damnificados», sayfa 4
KAPITEL 6
Das Wasser steigt – Achthundert Brote – Das Geplapper – Stromausfall – Gilgamesch – Vishnu – Streit im Turm – Eine Moskitoplage – Die Damnificados zittern – Gerettet von Libellen – Eine Botschaft an die Außenwelt – Rettung
Der Regen peitscht das Land. Er prasselt in gewaltigen Massen herunter, jeder einzelne Tropfen detoniert an den Mauern des Monolithen und auf dem alten zurückeroberten Ödland. Die Straßen sind überschwemmt vom Wasser, schlammig braun und pockennarbig von Millionen Tropfen. Strichmännchen rennen durchweicht durch die Straßen, halten sich Plastik oder Styropor zum Schutz über die Köpfe. Autos werden stehen gelassen, die Motoren husten wie alte Männer.
Die ersten Regenfälle, die Agua Suja und Oameni Morti überfluteten, waren nur das Hors d’œuvre, ein kleiner Vorgeschmack.
In Mundanzas, Sanguinosa und Blutig, wo die Städte an fruchtbares Land und Regenwälder grenzen, wachsen über Nacht riesige Blätter. Pflanzen schießen mannshoch auf und Blumen erblühen mit gelben und violetten Staubgefäßen. Sämtliche Tiere sind bereits fort, auf höhere Ebenen geflogen, gesprungen, galoppiert oder gekrochen. Zwei Tage bevor der Regen kam, gab es Berichte, Dutzende von Schlangen seien gesehen worden, wie sie Bäche hinaufschwammen, Schweine seien davongelaufen, Maulesel hätten ihre Haltestricke durchgenagt und sich die Hänge hinaufgeflüchtet.
Nur wenige Siedlungen bleiben in Gudsland und Balaal, wo das Wasser einst süß war und man alles anbauen konnte: Yams, Mais, Bohnen, Reis. Hinter den Plastikverblendungen ihrer Holzhäuser oder unter Vordächern aus Bananenblättern spähen die Gesichter der Damnificados hervor. Sie sind weit weg von allem. In der Ferne sehen sie, wie Straßen weggespült werden. Der Boden unter ihren Füßen gerät in Bewegung.
Auch am Rand von Favelada steigt das Wasser. Die neue Tür des Turms steht schon halb unter Wasser, der Chinese zieht seinen verstärkten Stuhl in Nachos Zimmer im ersten Stock und schaut über die Sintflut hinweg. Er beugt sich vor, kneift die Augen zusammen gegen den Regen, der durch die Fensteröffnung peitscht.
Nacho ist bei den Bäckern oben.
»Harry, wie viel Teig hast du?«
Harry sitzt auf seinem Hocker im Hauptteil des Ladens, der Ofen befindet sich hinter ihm, im anderen Raum.
»Warum?«
»Die Straßen sind weg. Vielleicht können wir tagelang nicht raus. Das bedeutet, wir können keine Vorräte holen. Wie viel Brot kannst du backen?«
»Ich bin Bäcker. Nicht Jesus. Ich lasse mit meinem Brot keine Wunder geschehen.«
»Ich hab dich nicht um ein Wunder gebeten. Ich hab dich gefragt, wie viel Teig du hast.«
Harry schiebt seinen fleischigen Körper auf dem Hocker herum, kratzt sich an den Koteletten. »Wir haben keinen Teig. Wir haben Mehl, Hefe, Salz und Wasser. Daraus backt man Brot. Geht auch ohne Salz. Wir machen zweihundertfünfzig Brote pro Tag, dreihundert, wenn wir uns ins Zeug legen. In der Vorratskammer sind Zutaten für etwa drei Tage. Das heißt, ich kann dir ungefähr achthundert Brote backen und du brauchst für jede Familie eins. Mehr geht nicht.«
»Achthundert«, sagt Nacho. »Hier leben ungefähr achthundert Menschen.«
»Was du nicht sagst. Hör mal, es ist Regenzeit. Es regnet jedes Jahr. Irgendwann hört es wieder auf und dann wird wieder alles normal.«
»Schau raus.«
Harry schaut aus dem Fenster. Und sieht ein Auto vorbeitreiben.
Das Unwetter tobt weiter. Nacho lässt die Bewohner in jedem Stockwerk von den Anführern durchzählen.
»Wozu?«, fragt Regenmantel. »Alle, die nicht hier sind, sind woanders. Und was sollen wir machen? Mit einem Rettungsboot rausfahren? Da draußen bist du entweder bei jemandem zu Hause untergekommen oder schon tot.«
Aber er tut es trotzdem. Von den Bewohnern des Gebäudes fehlen dreißig bis vierzig, aber einige sind Landstreicher, die sowieso ihr Leben lang vermisst wurden. Ein weiteres Dutzend putzt in Hotels oder Einkaufszentren und wurde dort vom Wetter überrascht, konnte nicht mehr nach Hause zurück.
Nacho sitzt in seinem Zimmer. Er hat ein Bücherregal, das ihm der Zimmermann gebaut hat, ein paar Kisten als Stühle und einen Schreibtisch. Er liest, während der Regen tost. Er legt sich auf seine Holzpalette. Er hat den Großteil seines Lebens auf Holzpaletten geschlafen. Einmal, mit Mitte zwanzig, hat er in einem Hotel übernachtet. Das brachte ein Übersetzerauftrag für eine Gruppe von Geschäftsleuten mit sich. Er legte sich hin und hatte das Gefühl einzusinken. Mit seinem gesunden Arm versuchte er das Problem zu beseitigen – eine absurd dicke Matratze –, aber sie war zu schwer. Er nahm den Hörer des Hoteltelefons und bat um Hilfe. Dreißig Minuten später traf ein Kellner mit einem Omelett ein. Er rief erneut an und erklärte noch einmal, er bräuchte jemanden, der ihm mit dem Bett helfen würde. Dann wartete er wieder, hörte nach zehn Minuten ein leises Klopfen an der Tür, öffnete und ließ eine Prostituierte herein, mit Absätzen war sie einen Meter achtzig groß.
»Würden Sie mir helfen, die Matratze vom Bett zu ziehen?«, sagte Nacho.
Die Frau kam seiner Bitte nach, ohne mit einer ihrer zehn Zentimeter langen Wimpern zu zucken. Gemeinsam zogen sie das Ding auf den Boden, brachten nur die harten Holzlatten und eine dünne Schaumstoffmatte zum Vorschein.
»Und jetzt?«, fragte die Dame.
»Danke!«, sagte Nacho.
Der Monolith ergibt sich dem Geplapper. Familien versammeln sich um den Fernseher, die Kinder sitzen im Schneidersitz auf dem Boden. Aber an Tag drei der Flut scheint das Gebäude zu ächzen, und plötzlich fällt der Strom aus. Die Lampen flackern und erlöschen, die Fernseher knistern kurz, dann werden sie schwarz. Nacho schleppt sich sofort hinauf in die Bäckerei. Die sechs Brüder hocken oder stehen vor ihrem Ofen. Eine Ladung halb fertig gebackenes Brot liegt darin. Sie drehen sich um und schauen Nacho an, als dieser den Raum betritt.
Harry sagt: »Kein Strom, kein Brot.«
Nacho ruft die Zwillinge.
»Wie viele Gaskocher gibt es im Gebäude?«
Hans zuckt mit den Schultern, wendet sich an Dieter. »Ich weiß es nicht.«
Dieter: »Warum stellt er solche Fragen? Ist das ein Quiz? Frag uns was Leichteres.«
Nacho: »Wir haben keinen Strom. Ich möchte, dass ihr die Anführer fragt, wie viele Gaskocher es auf jedem Stockwerk gibt, damit wir kochen können.«
»Ah, okay.«
Zurück in seinem Zimmer dreht er den Hahn auf und es kommt fauliger Schlamm heraus. Er setzt sich auf eine der Kisten. Das monotone Prasseln des Regens lässt nicht nach. Nacho humpelt zum Fenster. Er sieht nichts als einen See aus Wasser fünf Meter unter dem ersten Stockwerk, aber der Wasserspiegel steigt schnell. Die Bodegas sind fast alle weg, entweder fortgespült oder sie stehen unter Wasser; auch die Hütten und Verschläge. Der reißende Strom führt vorbei am Turm, trägt Trümmerteile mit sich, und ein einsamer Strommast treibt in der Flut, dreht sich immer wieder in langsamer Verwirrung.
Nacho stützt den Kopf auf die Hände, kratzt sich seinen verwuschelten Schopf. Er denkt: »Erst fällt der Strom aus, dann gibt es kein Wasser mehr, kein Abwassersystem. Wie lange können wir durchhalten?« Die Worte einer alten Frau fallen ihm wieder ein. »Das ist ein Zeichen von Gott. Wir dürfen da nicht rein.«
»Aber wir sind drin«, denkt er, »und jetzt kommen wir nicht mehr raus.«
Er erinnert sich an das Haus der Blumen. An einen Schmetterling so groß wie ein Buch, der an seinem Gesicht vorbeiflatterte. Er hatte gelbe Flügel. Nachts lag er wach, las im Licht des Mondes, desselben Mondes, der jetzt fast völlig ausgelöscht ist, nur noch ein Schmierfleck aus weißem Wachs.
Es klopft an Nachos Tür. Ein kleiner Junge.
»Mein Vater will wissen, ob heute Schule ist.«
»Oh! Ja! Ich bin spät dran!«
Er steigt im Dunkeln in den fünften Stock und kann zunächst nichts erkennen, aber dann gewöhnen sich seine Augen an den Kerzenschein und er sieht, dass der Raum voller Männer, Frauen und Kinder ist. Einige stehen hinten, andere sitzen auf Stühlen in der Mitte, auf dem Boden zwischen den Stühlen oder an den Wänden.
»Schön, schön, schön«, sagt er. »Der Regen kommt, der Strom fällt aus, die Wasserzufuhr versiegt und alle kommen in die Schule.«
Kein Geräusch. Sie warten. Nacho bahnt sich einen Weg nach vorne. Direkt vor ihm, auf dem Boden, sitzt Susana, die Frau, die ihn auf eine Weise ansah, die er nicht zu deuten vermochte – Bewunderung, Zuneigung oder einfach Respekt für den Anführer, den Lehrer. Er kratzt sich am Kopf, zieht sich auf einen Stuhl und räuspert sich.
»Ehrlich gesagt, das mit der Schule habe ich heute wegen des Regens ganz vergessen. Dumm von mir, denn ich hätte wissen müssen, dass ihr kommen würdet. Aber ich kann euch ein paar Dinge über Regen erzählen.«
Er hält erneut inne, schaut sich um, versucht möglichst, Susana nicht direkt anzusehen.
»Im Laufe der Geschichte hat der Mensch immer wieder in Angst vor Überschwemmungen gelebt. Sie sind so alt wie die Geschichte selbst. Das Gilgamesch-Epos wurde in Stein gemeißelt. Es erzählt die Geschichte einer Flut, in der alles unterging. Oder fast alles. Natürlich gab es einen Helden, sein Name war Utnapischtim. Einer der Götter gab ihm im Traum einen Befehl, er sagte zu ihm: »Oh Mann aus Schuruppak, Sohn des Ubar-tutu, reiße dein Haus ein. Baue ein Schiff. Gib deinen Wohlstand auf. Sage dich von deinen Besitztümern los. Rette dein Leben.« Und das hat er getan. Er hat ein Schiff sechs Stockwerke hoch gebaut und seine Familie an Bord gebracht und so viele Tiere, wie er finden konnte. Als die Flut kam, war er bereit. Er segelte sechs Tage und sechs Nächte. Dann ließ er eine Taube, eine Schwalbe und einen Raben frei und segelte an trockenes Land, das er oben auf einem Berggipfel fand. Natürlich ähnelt die Geschichte der von Noah, der die Arche baute. Und manche behaupten, es handele sich um ein und dieselbe Geschichte, auch wenn das Gilgamesch-Epos sehr viel älter ist, noch aus der Zeit vor der Erfindung des Papiers stammt.«
Er hört auf. Denkt: »Ich bin mein Vater. Erzähle Geschichten, um die Welt zu verstehen und die Zeit zu vertreiben.«
Der Regen kommt in riesigen Diagonalen herunter, zieht sich wie wuchernde Ranken über den Himmel, die Tropfen zersieben die Mauern des Monolithen. Bauchige Wolken hängen in der Luft, riesige graue Kugelfische. Nacho schaut ihnen einen Augenblick lang zu und kann an nichts anderes denken als an Hunger, Krankheit, Dunkelheit, achthundert Menschen in einer aufrechten Arche, die sich nicht bewegen lässt, aber auch kein Fundament auf Grund und Boden hat. Er wendet sich wieder an seine Klasse. Die Menschen werden unruhig. Ein Kind gähnt.
»Vishnu war ein hinduistischer Gott mit vier Armen und tausend Namen. Sein Körper war blau, denn als Wasser existierte er überall, bevor das Universum geschaffen wurde. Eines Tages wusch ein gläubiger Bürger namens Manu seine Hände im Fluss. Vishnu erschien Manu als kleiner Fisch. Und Vishnu bat Manu, ihn aus dem aufgewühlten Wasser zu retten, und Manu tat dies und er setzte den Fisch in ein Glas. Aber der kleine Fisch wuchs und wuchs, bis er größer war als der größte Wal, und schließlich offenbarte er sich als der Gott Vishnu. Und weil Manu gütig gewesen und ihn gerettet hatte, warnte Vishnu Manu vor einer großen Flut, die kommen würde. Er sagte ihm, er solle ein Boot bauen, das groß genug sei für die Tiere der Welt. Dann kam die Sintflut und das Boot wirbelte umher, wurde sieben Tage und Nächte von der Flut umhergeworfen, bis es schließlich gegen die Gipfel der Malaya-Berge stieß, wo trockenes Land war, und Manus Freunde und seine Familie waren gerettet. Und sie fingen von vorne an. Sie pflanzten die Samen und entließen die Tiere in die Wildnis, bauten Häuser. Manu, der Retter der Erde, wurde ein großer König.«
Eine Kinderstimme: »Werden wir auch ein Boot bauen?«
In den darauffolgenden Tagen trifft Nacho sich erneut mit den Anführern auf jedem Stockwerk und sagt ihnen, dass sie die Lebensmittel rationieren und einander am Leben erhalten müssen, falls die Niederschläge nicht nachlassen. Er sagt ihnen, sie müssen eine Bestandsliste aller Lebensmittel anfertigen, die ihnen auf ihrem Stockwerk zur Verfügung stehen, und sich überlegen, wie sie die Familien dazu bringen, diese zu teilen. Er bittet um Gaskocher, damit die Bäcker weiter Brot backen können, denn es gibt noch immer keinen Strom. Er sagt, sie müssen einen Vorrat an Kerzen, Streichhölzern, Feuerzeugen, Taschenlampen und Batterien anlegen.
Aber die Tage und Nächte sind hart. Der Regen bildet Lachen auf einigen der ungeschützteren Stockwerke, wo die Fenster nicht verbarrikadiert wurden. Auf einem Stockwerk werden die Lebensmittel knapp und auf anderen, wo Alkoholiker oder Junkies leben, wird die Lage allmählich brenzlig. Sie hämmern gegen Türen, wälzen sich auf dem Boden. Zwischen den Familien bricht Streit aus.
Am sechsten Tag der Regenfälle kommt noch eine Moskitoplage hinzu und die Damnificados werden von einem geheimnisvollen Virus heimgesucht. Ihre Augäpfel werden blau und sie fangen an zu zittern. Sechshundert schwitzen und bibbern und müssen ins Bett. Nacho sagt aus Angst vor Ansteckung den Unterricht und alle anderen Versammlungen ab.
»Das kam mit dem Wind«, sagt ein Windbeutel.
»Es gibt keine Hoffnung«, sagt ein Hoffnungsloser.
»Wir sind dem Untergang geweiht«, sagt ein Schwarzmaler.
Weil alle zittern, hört man auf allen Stockwerken zerschlagenes Geschirr klirren, gefolgt von »Shit!«, »Mierda!«, »Scheiße!«, »Merde!«, »Kak!«. Die Menschen knöpfen sich tagelang nicht mehr die Hosen zu, Reißverschlüsse bleiben offen, niemand wagt mehr, sich zu rasieren. Marias Bjuty & Herrsalong bleibt bis auf Weiteres geschlossen, da sie keine Haarbürste halten kann, ganz zu schweigen von einem Lockenstab oder einer Pinzette.
Unter all den Zitternden entpuppen sich die Junkies und die Alkoholiker jetzt allerdings als die Ausnahme. Diejenigen, die schon ihr ganzes Leben lang auf Entzug gezittert haben, gegen die Sucht ankämpfen mussten, stellen jetzt fest, dass sie, von den Moskitos infiziert, das Zittern plötzlich vollkommen einstellen. Sie sind so ruhig wie die Felsen von Balaal. Verwundert kommen sie zusammen und strecken die Hände eigenartig horizontal in die Höhe und vollführen in ihrer Vorstellung Kartentricks, jonglieren mit eingebildeten Messern. In ihrer Phantasie spielen sie Klaviersonaten und führen imaginäre wissenschaftliche Experimente unter Zuhilfenahme von Reagenzgläsern, Mikroskopen und tödlichen Dosen von Arsen durch.
Inzwischen haben sich die Moskitos in den Wasserlachen auf den Gängen des Turms eingenistet, in den Treppenhäusern und auf dem Dach. Sie legen ihre Eier, aus denen sich Larven winden und vom Blut der Damnificados groß und fett werden. Im unablässigen Regen und der Hitze mutieren die Kreaturen und es wird ein neuer Übermoskito geboren. Er hat fünf Zentimeter lange Beine und sieben Sinne, kann sich noch durch das winzigste Loch zwängen und lautlos doppelt so schnell fortbewegen wie die anderen Moskitos. Er greift zu allen Tageszeiten an, lauert auf Betten und an Wänden, ernährt sich von den Lebenden. Er hat einen gezackten dreizinkigen Saugrüssel, der so scharf ist, dass ein Mensch den Stich gar nicht spürt. Seine Fühler enthalten Rezeptoren, die noch auf eine Meile Entfernung das Kohlendioxid im Atem eines Menschen erkennen, und sein Gehirn berechnet, wem dieser Atem gehört – jung oder alt, gesund oder krank, Mann oder Frau.
Einige der Damnificados hängen Moskitonetze auf, aber die neue Art fliegt einfach hindurch, durchsticht das Baumwollnetz, als wäre es Luft. Die Männer und Frauen versuchen es mit Polyethylen, Polyester, Nylon, und bitten die Nichtzitterer, Kleidungsstücke zusammenzunähen und vor die Fensteröffnungen zu hängen, aber die Raubtiere finden immer einen Weg hinein. Die Damnificados zünden Kerzen an und Weihrauch, aber die Übermoskitos warten einfach ab, schauen von ihren Verstecken aus zu, wie der Rauch schwindet und schießen los, sobald die Luft wieder rein ist.
Ganze Familien haben jetzt das Zittern und schwitzen wie Hunde. Ihre Augen werden glasig und ihre Haut ist von winzigen roten Flecken überzogen, dort, wo sie von den Moskitos gestochen wurden.
Dann hören die Moskitoangriffe auf mysteriöse Weise auf. Zunächst behaupten die Damnificados, sie hätten dies bewirkt.
»An meiner Unterhose vor dem Fenster sind sie nicht vorbeigekommen!«
»Ich hab dir doch gesagt, gestern hab ich zwei erledigt!«
»Ich habe Kampfer verbrannt. Daran hat es gelegen!«
Aber tatsächlich war Folgendes geschehen: Die Übermoskitos gingen dazu über, die Moskitos zu fressen. Die Moskitos verteidigten sich, indem sie sich zu Banden zusammenschlossen. Ein Krieg entfesselte sich. Die Übermoskitos gewannen. Aber während der Krieg noch tobte, kam eine Armee von Libellen aus Fellahin und griff die Übermoskitos an. Trotz ihres siebten Sinns, der sie auf drohende Gefahren aufmerksam machte, waren die infolge des Krieges verwundeten und geschwächten Übermoskitos leichte Beute. Und wurden vollständig ausgelöscht.
Innerhalb von vierundzwanzig Stunden wurden die milchigen Augäpfel der infizierten Damnificados, die auf dem Höhepunkt der Krankheit dunkelblau verfärbt waren, wieder weiß. Die Zitterer wachten auf und stellten fest, dass sie nicht mehr zitterten. Mit weit aufgerissenen Augen knöpften sie ihre Kleidung zu, hoben Becher mit dampfendem Kaffee und berührten ihre Lieben mit steter Hand.
Die Junkies und Alkoholiker dagegen zitterten wieder. Sie waren gerade dabei, imaginäre Cembalo-Konzerte zu geben oder Phantasiebomben zu entschärfen, als sie an sich hinunterschauten und verschwommen ihre Finger zittern sahen.
Der Regen fällt weiter. Nacho schaut aus seinem Fenster und sieht den Gang überschwemmt. Er weiß, er muss in ein höheres Stockwerk ziehen. Aber er weiß auch, dass er kurz vor der Verzweiflung ist. Jeden Tag versucht er, die Nachrichten und den Wetterbericht im Radio zu hören. Aber der Empfang ist schlecht und der Bericht verrauscht. Er fingert an den Radioknöpfen, bekommt aber nur einen Sender mit aserbaidschanischen Volksliedern, eine Kaffeewerbung auf Swahili, einen Tennisbericht auf Gujarati, eine Sketch-Sendung auf Isländisch.
In seiner Verzweiflung befragt er ein Medium im fünfundvierzigsten Stock. Der Chinese nimmt ihn auf die Schultern und steigt die nasse Treppe hinauf. Die Frau öffnet die Tür in einem schmutzigen, rosafarbenen Morgenmantel und sagt: »Entschuldige meinen Aufzug. Ich habe niemanden erwartet.« Sie bittet sie herein, schaut sich Nachos Handfläche an und sagt: »Du wirst ein langes und glückliches Leben führen«. Und er erwidert: »Danke, aber ich brauche einen Wetterbericht.« Sie rührt in ein paar Teeblättern in einem Becher mit Wasser, studiert diese und sagt: »Regen.«
Der Chinese bringt Nacho die letzten fünfzehn Stockwerke hinauf bis aufs Dach und Nacho betrachtet die sie umgebende Wasserlandschaft. Der Regen ist jetzt ein dichtes Nieseln, ein grauer Schleier, der den Himmel verbirgt. Mit Mühe kann er eine Handvoll anderer Türme und Wolkenkratzer in der Stadt ausmachen, die noch stehen.
Er sagt: »Wir müssen eine Botschaft aussenden. Wir brauchen Hilfe. Lebensmittel. Wasser. Aber wie? Wir sind Nicht-menschen. Damnificados. Niemand wird uns helfen, weil wir nicht existieren.«
Der Chinese steht neben Nacho und schaut in den Abgrund, scheint zustimmend die Lider zu bewegen.
Nacho, dem der Regen durchsichtige Perlen ins Haar zaubert, wendet sich plötzlich zu seinem Freund um. Er hat eine Idee.
»Wir brauchen Brieftauben.«
Eine Umfrage im Gebäude ergibt, dass von den sechzehn Tauben, die die Damnificados hielten, zehn gegessen wurden, zwei sind nicht mehr die alten, seit sie von Übermoskitos gestochen wurden und das Zittern bekamen, eine ist an natürlichen Ursachen gestorben und drei sind geflohen. Nacho gibt die Idee wieder auf und beschlagnahmt stattdessen ein Dutzend weiße Laken.
»Was zum Teufel soll das werden – eine Gespensterparty?«, fragt Regenmantel, als Hans sich sein schönstes kunstseidenes Laken schnappt und Dieter die Schaumstoffmatratze wieder zurechtschiebt.
»Buhuuuuuuuuuuuuuu!«, heult Hans Regenmantel ins Gesicht.
»Verpiss dich«, sagt Regenmantel. »Hast du gehört?«
»Er spricht deutsch!«, sagt Dieter zu Hans.
»Ja, und ich will mein Laken bis heute Abend wiederhaben, sonst trete ich euch zwei abgehalfterte Krauts ins Nirwana. Verstehst du?«
»Ja, mein Herr!«, sagt Dieter, die Füße bereits auf den Stufen.
Nachdem sie die Laken zusammengenäht haben, so dass jetzt vier große Rechtecke entstanden sind, malt Nacho auf jedes Laken »Hilfe!« in acht Sprachen und hängt sie im dreißigsten Stockwerk auf, eines auf jede Seite des Gebäudes. Der Regen peitscht die Laken, durchnässt sie, bis die Worte nur noch Suppe sind und Nacho nimmt sie ab und fängt von vorne an. Dies macht er sechs Mal die Woche. Aber er weiß, dass die Stadt blind ist. Er hat seit zwölf Tagen keine Menschenseele mehr in der Nähe des Turms gesehen. Er hat Autos die Straße heruntertreiben sehen, Laternenpfähle, einen Chinarindenbaum, Moskitos und Libellen, die sich im gebrochenen Licht duellieren, aber niemanden von der Außenwelt.
Und was ist das?
In den trüben Wassermassen, im peitschenden grauen Regen, zeichnet sich ein Umriss ab, bewegt sich durch die Stadt, nähert sich dem Turm, klein und resolut. Nacho kann ihn gerade so erkennen. Er bewegt sich im Slalom zwischen den Dächern der wenigen verbliebenen Bodegas hindurch, den Spitzen der noch aufrechten Laternenpfähle, dem umhertreibenden Abfall. Im Näherkommen wird der Umriss immer größer, auch wenn er kaum über einen Meter misst.
Eine Stimme singt in geschmeidigem Bariton und nur ein kleines bisschen schief: »Row row row your boat gently down the stream! Merrily merrily merrily merrily, life is but a dream!«
Die Stimme wird vom strömenden Regen gedämpft, aber sie wiederholt den Refrain. Der Umriss wird als Boot erkennbar. Eine verbeulte Rostwanne aus Blech und Balsaholz, ein Stück gewelltes Plastik als Dach. Seitlich sind Reifen mit Stricken befestigt. Eine schlaffe Fahne auf dem Dach, ein Flickwerk an Lumpen in gelb, schwarz und grün. Vorne im Boot sitzt ein adretter Pirat, dem der Regen nichts auszumachen scheint, herausgeputzt mit Kopftuch und einem Zweiwochenbart, er hat einen Fuß auf eine Kiste gestellt, während er mit den Händen steuert. Das Boot wird mit Säcken, Kisten und Plastiktüten beschwert. Es ist fast schon am Eingang des Turms.
»Row row row your boat gently down the stream! Merrily merrily merrily merrily, life is but a dream!«
Nacho ruft: »Emil! Emil!«
Andere Gesichter kommen an die Fenster auf der Nordseite. Sie jubeln. Und in diesem Augenblick schaut auch Maria, die Friseurin, hinaus und verliebt sich.
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