Kitabı oku: «Hände weg!?»
Joachim Kügler
Hände weg!?
Joachim Kügler
Hände weg!?
Warum man die Bibel
nicht lesen sollte …
… und warum doch
Inhalt
Die Bibel ist …
Vorwort
… nichts für normale Leser/-innen!
mehr als ein Text
mehr als ein Erzählfaden
eher ein Textparlament
lesen und springen
ein gewachsenes Geflecht
viele Textsorten
… nichts für Laien!
eine Frage des Wissens
eine Frage der Macht
… nur für den Gottesdienst!
heilige Texte im heiligen Raum
eine andere Heiligkeit
… nichts für Frauen!
Frauen unter der Herrschaft der Männer
Lesestrategien
… nichts für „Friedenstauben“!
Gewalt im Namen Gottes und durch Gott selbst
Aus Terrortexten Gewaltverzicht lernen
Die Bibel ist …
… nichts für Fremde, Andersgläubige und andere „Minderheiten“!
Vorsicht vor Moabiterinnen und Götzendienern!
Lustknaben und Knabenschänder sind ein Gräuel
… nichts für den christlich-jüdischen Dialog!
Menschenfeinde und Teufelskinder
Erklärungsversuche …
… und Lesestrategien
… gefährlich für den Glauben!
Wort Gottes?
Gottes Wort – nicht Gottes Wörter!
Gott offenbart keinen Text
Offenbarung im Text, im Lesen oder im Leben?
Schlussgedanken
Anmerkungen (für alle, die es genau wissen wollen)
Dieses Buch ist dem Andenken
meines Bayreuther Kollegen
Robert Ebner
(1940–2008)
gewidmet,
dem ich auf diese Weise
für alles danken möchte,
was er mir, anderen Kollegen und
Generationen von Studierenden
Gutes getan hat.
Vorwort
Wenn ein Bibelwissenschaftler – und das bin ich nun einmal – empfiehlt, dass man die Bibel nicht lesen sollte, dann liegt der Verdacht nahe, dass er die Sache nicht ganz so ernst meint. Immerhin liegt die Bedeutung seines Berufes ja darin, dass das Buch, das er erforscht, für Menschen weltweit eminent wichtig ist. So liegt auch im Falle dieses Buches der Verdacht des Unernsthaften nahe – und er ist durchaus berechtigt. Natürlich möchte ich gerne, dass viele Menschen die Bibel in die Hand nehmen und darin lesen. Ich liebe die Bibel. Ihre Botschaft fasziniert mich. Und das ist der wichtigste Grund, warum ich das manchmal recht mühselige Geschäft der Bibelwissenschaft bis heute ausgehalten habe.
Trotzdem ist das Abraten vom Bibellesen nicht nur ein Gag, denn ich weiß natürlich auch, was „fromme“ Leser mit der Bibel alles schon gemacht haben. Wenn Papst Benedikt XVI. in seinem umjubelten Jesus-Bestseller schreibt, dass Bibelauslegung „in der Tat zum Instrument des Antichrist werden“ könne1, dann weiß er, wovon er spricht. Der Gebrauch der Bibel zur Begründung von Gewalt, Unterdrückung und Ausbeutung ist nämlich ein trauriges Faktum, das nicht zu leugnen ist. Mit einer grässlich blutigen Spur zieht sich ein solches Bibellesen – gegen die Frauen, gegen die Armen, gegen die Andersgläubigen, gegen die Fremden – durch die Geschichte der Menschheit. Diese Blutspur führt immer wieder bis in die Mitte der Kirche hinein und sie ist bis heute nicht abgerissen.
Wer diese dunkle Seite des Bibellesens einmal wirklich wahrgenommen hat, der/die muss sich natürlich ernsthaft fragen, ob solche Leseweisen einfach nur Missverständnisse, falsche Auslegungen und Missbrauch sind oder ob es nicht auch an der Bibel selbst liegt, dass sie so gelesen wird. Eine solche Frage ist für christlich (und jüdisch) Glaubende natürlich schmerzhaft und wir neigen deshalb dazu, die Bibel gegen ihre Deutungen zu verteidigen. Auch wenn man sich zu dieser Lösung entschließt, muss man jedoch anerkennen, dass es zumindest möglich war (und ist), Teile der Bibel so zu deuten, dass sie zur Rechtfertigung von menschenfeindlichem Denken, Reden und Tun brauchbar wurde. Offensichtlich gibt es in den biblischen Texten selbst entsprechende Möglichkeiten, die bei bestimmten Lesern schlimme Folgen gezeitigt haben und noch zeitigen. Hierin unterscheidet sich die Bibel nicht vom Koran und von anderen Offenbarungstexten, was freilich kein echter Trost sein kann.
Es geschieht deshalb nicht nur mit einem ironischen Augenzwinkern, wenn ich als Bibelwissenschaftler hier vom Bibellesen abrate. Der Hinweis auf die möglichen Gefahren ist ganz ernst gemeint, denn er beruht auf der bitteren Erkenntnis, dass Bibellesen nicht automatisch zum Guten führt und es in bestimmten Fällen vielleicht besser gewesen wäre, man hätte die Finger davongelassen.
Zumindest kann man ja mal überlegen: Vielleicht hätten die Kreuzzüge nicht stattgefunden, wenn Bernhard von Clairvaux (und andere) die Hasspredigten für die Kriegszüge gegen die „Heiden“ (gemeint waren die Muslime) ohne Bibel, d.h. ohne Berufung auf göttliche Autorität, hätten halten müssen. Vielleicht hätte man das große Schlachten im „Heiligen Land“ ohne biblische Legitimation nicht so einfach durchführen können. Vielleicht hätten die Buren in Südafrika die Schwarzen nicht so lange unterdrückt, hätten sie das eigene Erwähltsein nicht aus der Bibel herauslesen können. Vielleicht wäre die Apartheid ohne biblische Legitimation nicht so gut durchzusetzen gewesen.
Solche Überlegungen führen uns hinein in eine Dynamik, die zutiefst mit der Bibel verbunden ist und uns an die schmerzlichsten Seiten menschlicher Existenz heranführt. Wer diese dunklen Seiten nicht sehen will, der/die sollte tatsächlich lieber nicht in der Bibel lesen, jedenfalls nicht ernsthaft und nicht alles.
Ich hoffe, es ist ein wenig klar geworden, dass Bibellesen tatsächlich nichts Harmloses und Selbstverständliches ist, sondern gut überlegt sein will. Solche vorbereitenden Überlegungen will das vorliegende Buch unterstützen. Indem ich vom Bibellesen abrate, möchte ich auf faktisch gegebene Probleme im Umgang mit der Bibel hinweisen und zugleich – mehr als schüchterne Einladung – einige Hinweise darauf geben, wie Menschen von heute es trotzdem mit diesem – im besten Sinne – eigenartigen Buch versuchen können und was dabei zu gewinnen ist. Das Abraten ist also zugleich ein Zuraten zu einer bestimmten Art des Bibellesens.
Ich möchte mit diesem Buch werben für ein Lesen, das sich in kritischer Solidarität um die Texte bemüht, das ihre Botschaft nicht ideologisch zukleistert, sondern offen bleibt für Überraschungen. Es geht um ein Lesen, das den eigenen Vorurteilen misstraut; ein Lesen aber auch, das sich dem Text nicht blind unterwirft, sondern sich dem Text stellt. Und vor allem geht es mir um eine Haltung der Offenheit, die damit rechnet, in den Irrungen und Wirrungen des eigenen Lesens und des eigenen Lebens jener großen Überraschung zu begegnen, die man üblicherweise Gott nennt.
Die Bibel ist …
… nichts für normale Leser/-innen!
Wenn wir ein Buch in die Hand nehmen, das nur einen Text enthält, etwa einen Roman, dann wissen wir, dass es sinnvoll ist, mit dem Lesen am Anfang anzufangen und am Ende aufzuhören. Natürlich haben wir die Freiheit, in der Mitte anzufangen, nach einigen Kapiteln zurückzuspringen, manche Teile mehrmals zu lesen und andere gar nicht. Der Text kann sich dagegen nicht wehren, er ist uns Lesenden hilflos ausgeliefert. Aber wir gehen damit das Risiko ein, dass sich uns vieles im Text nicht erschließt, weil er so erzählt ist, dass man ihn eigentlich linear lesen sollte. Wer bei Agatha Christie die Stelle verpasst, wo Poirot den Mörder enttarnt, verpasst Entscheidendes. Umgekehrt nützt es auch nicht viel, die Enttarnung zu lesen und nicht zu wissen, wer vorher eigentlich ermordet wurde. Ein wichtiger Grund nun, warum man die Bibel nicht lesen sollte, liegt darin, dass sie im Grunde kein Buch in diesem Sinne ist.
mehr als ein Text
Schon der Name „Bibel“ ist eigentlich ein Plural. Das Wort kommt nämlich vom griechischen „biblia“, was „Bücher“ bedeutet. Trotzdem ist die Bibel aber auch nicht nur eine Art Buchladen, wo die einzelnen Bände beziehungslos nebeneinanderstehen. Vertreter der Kanonischen Bibelauslegung („Canonical Approach“) betonen seit einiger Zeit energisch, dass die Bibel nicht nur eine Textsammlung ist, sondern wirklich ein sinnvolles Ganzes darstellt und auch so zu lesen ist. Und das stimmt auch, aber eben nur in einem bestimmten Sinn und nur innerhalb der jeweiligen Glaubensgemeinschaft.
Die hebräische Bibel von Juden und Jüdinnen hat z.B. weniger Bücher als das, was die christlichen Kirchen „Altes Testament“ nennen.2 Und auch die Reihenfolge der Bücher ist teilweise anders. Sogar zwischen dem Alten Testament der katholischen-orthodoxen und dem der protestantischen Tradition gibt es Unterschiede. So ist zum Beispiel das „Buch der Weisheit“ (auch „Weisheit Salomos“ oder „Sapientia Salomonis“ genannt) in der katholischen Bibel ein selbstverständlicher Bestandteil des Alten Testaments, während es in einer lutherischen oder reformierten Bibelausgabe entweder fehlt oder den „deuterokanonischen“, also zweitrangigen Schriften zugeordnet wird. Das bedeutet, dass im Grunde jede Konfessionsfamilie ihren eigenen Text hat und damit einen – wenn auch vielleicht nur geringfügig – unterschiedlichen Zugang zur Offenbarung.
mehr als ein Erzählfaden
Freilich, in der Regel haben wir eine bestimmte Übersetzung in der Hand, bewegen uns also innerhalb des Kanons einer Konfession (oder Konfessionsfamilie) und denken nicht groß darüber nach, dass es auch andere Formen der Bibel gibt. Auch dann sollte man sich aber darüber im Klaren sein, dass das kein Text ist, der einfach linear zu lesen ist wie ein Roman. Natürlich ist es sinnvoll, am Anfang zu beginnen, weil der Beginn der Bibel ja tatsächlich vom Uranfang handelt: „Im Anfang schuf Gott Himmel und Erde …“ (Genesis 1,1).
Aber die fortlaufende Lektüre wird doch spätestens dann schwierig, wenn man zu den beiden Büchern der Chronik kommt und einem die ganze Story, die man inzwischen kennt, nun – mit einigen Variationen – noch einmal erzählt wird.
Im Neuen Testament ist es noch schlimmer: Kaum hat man das Matthäusevangelium hinter sich gebracht und getröstet zur Kenntnis genommen, dass Jesus bei uns sein wird „alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,20), da fängt das Ganze im Markusevangelium nun noch einmal von vorne an: „Anfang der Freudenbotschaft von Jesus Christus, dem Sohn Gottes“ (Mk 1,1). Hier keimt schon der Verdacht auf, dass der Bibeltext mit gewissen Gedächtnisschwächen der Lesenden rechnet. Hat man dann Markus durch, kommt der dritte Durchlauf: das Lukasevangelium – offensichtlich die Dosis für Alzheimer-Gefährdete! Der vierte Durchlauf (im Johannesevangelium) ist immerhin insofern interessant, als hier doch deutliche Unterschiede zu den ersten drei Versionen zu verzeichnen sind, so dass wenigstens der Neuigkeitswert nicht ganz so gering ist. Trotzdem freut man sich vielleicht, dass nicht noch ein fünftes Evangelium folgt …
Wenn also davon die Rede ist, dass die Bibel ein Text ist, dann ist das offensichtlich anders gemeint als bei einem Roman. Das zeigt ganz einfach die Lese-Erfahrung. Ein einfaches lineares Lesen lässt sich nicht sinnvoll durchhalten. Die Bibel ist kein Text in diesem modernen Sinne, sondern eine Sammlung von Texten, die einerseits in enger Beziehung stehen, andererseits aber auch eine gewisse Eigenständigkeit aufweisen.
eher ein Textparlament
Die Bibel ist mehr als eine Sammlung, eher so etwas wie eine Versammlung: Die Texte verschmelzen nicht zu einem Text, aber sie stehen auch nicht isoliert. Sie beziehen sich aufeinander, sie beleuchten, erhellen, kritisieren sich gegenseitig und widersprechen sich bisweilen sogar. So sollte man diese Textversammlung eher als ein lebendiges Netzwerk ansehen, das eine Einheit im Gespräch bildet, aber nicht die eine Mitte oder den einheitlichen Erzählfaden hat.
Der Pastoraltheologe Ottmar Fuchs hat die Bibel einmal eine „Lernschule der Pluralität“ genannt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen.3 Er drückt mit dieser Formulierung treffend aus, dass die Bibel eine wirklich erstaunliche innere Pluralität aufweist, ohne dass die Texte beziehungslos nebeneinanderstehen. Wenn er von „Lernschule“ spricht, dann meint er darüber hinaus aber auch, dass Kirche und Gesellschaft an der Bibel lernen können, wie Pluralität und Einheit, Beziehung und Freiheit zusammengehen.
Blickt man ein wenig in die Geschichte, so ist festzustellen, dass die christlichen Kirchen die Bibel auch immer so gelesen haben, nämlich als eine Versammlung von Texten, die eine Einheit bilden, weil sie sich aufeinander beziehen, die man aber nicht unbedingt als einen fortlaufenden Text nacheinander lesen muss. Wer also so etwas wie einen Roman lesen will, der/die sollte lieber nicht zur Bibel greifen. Wer den einen gradlinigen Erzählfaden sucht, ist bei Dan Brown vermutlich besser aufgehoben.
Das heißt aber nicht, dass es in der Bibel überhaupt keine Signale für bestimmte Leserichtungen gibt. Vielmehr gibt es durchaus Teile, die man am besten vor anderen Texten liest, und manches sollte man auch eher fortlaufend lesen.
So lohnt es sich zum Beispiel sicher, das Alte Testament zu kennen, bevor ich das Neue Testament lese, weil mir sonst die vielen Anspielungen und Verknüpfungen entgehen, mit denen die neutestamentlichen Texte auf das verweisen, was für die frühen Christinnen und Christen die Bibel war. Die früheste Kirche kam ja aus dem Judentum und sie kannte das Neue Testament noch nicht, weil die betreffenden Texte ja erst geschrieben wurden: die Briefe des Paulus, später die Evangelien, die anderen Briefe und die Johannesoffenbarung. Für die erste, apostolische Generation war die Heilige Schrift das, was wir heute Altes Testament nennen. Wenn sie also die Botschaft von Jesus als Offenbarung Gottes – und zwar des Gottes Abrahams, Isaaks und Jakobs! – erzählen wollten, dann mussten sie die Geschichte von Jesus als Fortsetzung der Geschichte Israels mit Gott erzählen, dann mussten sie die Texte ihres Jesus-Glaubens in Beziehung setzen zu ihrer Bibel. Deshalb sind alle neutestamentlichen Texte gespickt mit Rückverweisen auf die jüdische Bibel, die die frühe Kirche übrigens nicht im hebräischen Original, sondern in einer griechischen Übersetzung („Septuaginta“) las.
Durch eine Fülle von Motiven, Zitaten und Anspielungen sind die frühchristlichen Schriften, die später (ab dem 2. Jh. n. Chr.) dann als Neues Testament gesammelt wurden, mit der jüdischen Bibel verwoben. Wer also das Alte Testament nicht kennt, wird sich mit dem Neuen Testament schwertun. Um noch einmal Agatha Christie zu bemühen: Was nützt die intelligenteste Enttarnung des Mörders, wenn ich nicht weiß, wer wann und warum umgebracht wurde? Mit den Rückverweisen der neutestamentlichen Texte auf die jüdische Bibel ist also eine grobe Leserichtung in die Texte selbst eingeschrieben: erst das Alte Testament, dann das Neue. Wer dazu keine Lust hat, der/ die muss damit leben, dass entweder vieles unverständlich bleibt oder immer wieder Zurückblättern notwendig ist, um die betreffenden alttestamentlichen Bezugstexte kennen zu lernen. Eine gute Hilfe dazu sind übrigens die Hinweise, die in den meisten Übersetzungen am Rand oder in Anmerkungen stehen.
lesen und springen
Bei dieser ganz groben Steuerung der Leserichtung (vom Alten zum Neuen Testament) bleibt es freilich nicht. Es gibt in beiden Teilen der Bibel noch feinere Strukturen der Lesesteuerung, was hier allerdings nur ganz grob angedeutet werden kann.
Im Alten Testament bilden die fünf „Bücher Mose“ (auch „Pentateuch“ genannt) das Kopfstück, mit dem man beginnen soll. Diese fünf Bücher haben im Judentum (und auch in der Sicht der urchristlichen Gemeinden) einen besonderen Status. Sie bilden als „Tora“ (göttliche Weisung/Gesetz) das Herzstück der Bibel, von dem her alles andere zu verstehen ist. Und die Samaritaner – eine israelitische Sondergruppe, die sich vermutlich nach der Zerstörung des Nordreiches Israel (722 v. Chr.) aus den überlebenden Bevölkerungsgruppen bildete – erkennen bis heute sogar nur den Pentateuch als Heilige Schrift an, während ansonsten im Judentum „die Propheten“ (dazu gehören neben den Prophetenbüchern auch die Bücher Josua, Richter usw.) und „die Schriften“ (z.B. Psalmen, Rut und Chronikbücher) als Kommentare zur Tora anerkannt sind.
Im Neuen Testament empfehlen sich die einzelnen Evangelien als Leseeinheiten. Viele kennen die Evangelien ja nur als Häppchen (auch „Perikopen“ genannt), die man aus dem Religionsunterricht oder dem Sonntagsgottesdienst kennt: die Seligpreisungen, das Gleichnis vom verlorenen Sohn, den Schatz im Acker, die Heilung des Bartimäus, den kleinen Zachäus, den Einzug in Jerusalem usw. Aber von ihrer Struktur her sind Evangelien nicht einfach Anhäufungen von einzelnen Sprüchen und Jesus-Anekdoten, sondern durchgehende Erzählungen. So unerquicklich es sein mag, alle vier Evangelien am Stück zu lesen – jedes einzelne für sich ist einer fortlaufenden Lektüre durchaus zu empfehlen, weil nur so der individuelle Charakter des Blicks auf die Jesusgeschichte und der charakteristische Spannungsbogen, den jedes Evangelium hat, zu spüren sind. Dabei steht allerdings das Lukasevangelium auch noch mit der Apostelgeschichte in enger Beziehung, die vermutlich von demselben Autor stammt und mit ihrem Anfang an das Lukasevangelium anknüpft. Um aber dieses lukanische Doppelwerk einmal am Stück zu lesen, muss man das Johannesevangelium überspringen. Solches Springen in der Bibel ist auch notwendig, wenn man den Beziehungen folgt, die zwischen dem Johannesevangelium und den drei Johannesbriefen bestehen. Da macht es keinen Sinn, brav all das zu lesen, was nach dem Johannesevangelium kommt, bevor ich dann endlich zu den Johannesbriefen komme.
Die Bibel ist von ihrer Struktur her also kein einheitlicher Text, der stur von vorne nach hinten gelesen werden soll, sondern eher etwas für Leute, die z.B. auch gerne im Internet surfen. Dort gibt es nicht nur Texte, die ich fortlaufend lesen soll, so wie sie nacheinander kommen, sondern auch Links, die einen temporär wegführen vom gerade gelesenen Text. Da öffnen sich Fenster, die Hintergrundinformationen geben oder neue Sinndimensionen eröffnen, da gibt es Links, die mich zum ursprünglichen Text zurückführen usw. Ähnlich ist es auch in der Bibel: Wenn wir aufmerksam lesen, begegnen wir einer Fülle von Vorverweisen, Rückbezügen und Querverweisen. Manches gehört eng zusammen, obwohl es weit auseinandersteht, bestimmte Teile laden zum kontinuierlichen Lesen ein, andere haben eine eher lockere Struktur. Wer so etwas als Mangel empfindet, sollte sich nicht an die Bibel wagen.
ein gewachsenes Geflecht
Das vielschichtige, dezentral organisierte Textgewebe der Bibel verlangt Leserinnen und Leser, die einerseits sensibel genug sind, auf das zu achten, was der Text an Struktur anbietet, die aber andererseits auch selbstständig genug sind, im Text zu surfen, um sich fehlende Informationen zu holen oder ihr Verständnis zu vertiefen. Diese Spannung zwischen Hingabe an den Text und eigenwilligem Manövrieren kennzeichnet vermutlich jeden Umgang mit Literatur, aber bei der Bibel ist diese Spannung auch noch in der Struktur des Textes verankert.
Um ein Gefühl dafür zu bekommen, was der biblische Kanon für ein Gebilde ist, muss man sich klarmachen, dass es weder im Frühjudentum noch in der frühen Kirche eine zentrale Autorität – wie Synode oder Papst – gab, die hätte entscheiden können, welche Texte zur Bibel zu rechnen sind. Es waren vielmehr bestimmte Gewohnheiten, die sich allmählich durchsetzten, weil sie offensichtlich eine gewisse Plausibilität hatten – zumindest für die Gruppen und Kreise, die für die Traditionspflege wichtig waren. Für das Lesen wäre es natürlich wichtig, die Leitidee zu kennen, die darüber entschied, ob ein Text akzeptiert und aufgenommen wurde oder nicht. Was die Bildung des Neuen Testaments angeht, so gab es sicher verschiedene Kriterien. Eines war die Überzeugung von der Einheit Gottes, der die Welt im Prinzip gut geschaffen hat. Deswegen wurden Texte aussortiert, die einen bösen Schöpfergott von einem guten Erlösergott unterschieden. Eine andere Leitidee war die Realität der Menschwerdung. Texte, die irgendwie nahelegten, dass eine göttliche Person in Jesus nur scheinbar oder vorübergehend als Mensch erschien, wurden abgelehnt. Daneben spielten aber sicher auch Autoritätsmomente eine Rolle. Das heißt, es wurden Texte aufgenommen, weil man sie einem bestimmten Autor zuordnete. Das bedeutet, dass es durchaus sein könnte, dass man die Pastoralbriefe nicht aufgenommen hätte, wenn man gewusst hätte, dass sie nicht wirklich von Paulus sind. Auch der (religiös ziemlich inhaltsarme) Dritte Johannesbrief dürfte seinen Platz im Neuen Testament der Tatsache verdanken, dass man seinen Verfasser mit dem vierten Evangelisten und diesen mit dem Apostel Johannes (Sohn des Zebedäus) identifizierte.
Die eigenartige, historisch gewachsene Struktur stellt für die Lesenden eine große Herausforderung dar, die einer Bergwanderung nicht unähnlich ist. Zwar hängen die Berge alle irgendwie mit den anderen zusammen, aber die Wege von einem Gipfel zum anderen sind selten gerade, meistens verschlungen. Oft gibt es mehrere Möglichkeiten, aber deswegen ist doch nicht jeder Weg möglich. Wer im Gebirge den Absturz vermeiden will, muss genau auf das Gelände achten und immer bereit sein, dazuzulernen. Das gilt übertragen auch für das Bibellesen. Wer da den Absturz in das Missverständnis (oder gar den Unsinn) vermeiden will, muss ebenfalls darauf achten, welche Wege möglich sind. Natürlich kann ich theoretisch alles mit den Texten machen und alles mit allem kombinieren. Der Text kann sich gegen keine Vergewaltigung wehren, aber wenn ich hören und verstehen will, dann muss ich darauf achten, welche Wege zwischen den Texten gangbar sind. Wenn ich den Text als Kommunikationspartner respektiere, dann frage ich also, welche Beziehungen zwischen den biblischen Texten selbst angelegt sind. Das ist manchmal mühsam und verlangt viel Selbstdisziplin.
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