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II. Das Verhältnis von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur im klassischen Liberalismus und seine deutsche Variante im Kaiserreich von 1871
Die Konstituierung einer konkurrenzwirtschaftlich produzierenden Gesellschaft und die ihr korrespondierenden juristischen Regelungsmechanismen des bürgerlichen Privatrechts lassen die öffentliche Gewalt, die im Feudalismus mit der privaten Herrschaft der Grundeigentümer verschmolzen war, sich zur selbständigen Sphäre des politischen Staates, gegründet auf Beamtenapparat und stehendes Heer, umbilden. »Die herrschaftlichen Privilegien der Grundeigentümer und Städte verwandeln sich in ebenso viele Attribute der Staatsgewalt, die feudalen Würdenträger in bezahlte Beamte und die bunte Mustercharte der widerstreitenden mittelalterlichen Machtvollkommenheiten in den geregelten Plan einer Staatsmacht, deren Arbeit fabrikmäßig geteilt und zentralisiert ist.«1
Die Ausformung der Struktur der modernen öffentlichen Gewalt und die Entfaltung des Privatrechtssystems sind zwei Seiten eines Vorgangs: »Die Konstituierung des politischen Staats und die Auflösung der bürgerlichen Gesellschaft in die unabhängigen Individuen – deren Verhältnis das Recht ist, wie das Verhältnis der Standes- und Innungsmenschen das Privilegium war – vollzieht sich in ein und demselben Akte.«2
Die Verknüpfung von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur bringt der junge Hegel auf die Formel: »In den Staaten der neueren Zeit (…) ist die Sicherheit des Eigentums der Angel, um den sich die ganze Gesetzgebung dreht.«3 Lorenz von Stein sekundiert: »Die Verschiedenheit des Besitzes bildet den wahren Inhalt der Verschiedenheit der Verfassungen selber. Immer aber wird, durch den inneren Zusammenhang von Gesellschaft und Verfassung erzeugt, der Satz notwendig gelten, daß, wenn in einer Gesellschaft eine bestimmte Art oder ein bestimmtes Maß von Besitz die herrschende Klasse von der der abhängigen scheidet, alsdann auch nicht jede beliebige Art und jedes Maß, sondern nur diejenige Art und dasjenige Maß zur Teilnahme am Staatswillen berechtigen, welche in der Gesellschaft die Herrschaft der besitzenden Klasse begründen.«4
Aus dieser Einsicht heraus konzipiert der Liberalismus, die politische Theorie des Bürgertums, eine der bürgerlichen Interessenlage angeschneiderte Konstruktion des Funktionszusammenhangs von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur. Unmittelbares Gegenmodell zum bürgerlichen Rechtsstaat, der als juristisches Gehäuse des Bürgertums sich geschichtlich durchsetzt, ist die absolute Monarchie. In ihr waren die später auseinandertretenden Zweige der öffentlichen Gewalt (Exekutive, Legislative und Judikative) zu einem ungeteilten und unkontrollierten Machtkomplex, der allein der Suprematie des Königs unterstand, zusammengezogen. Die Konstitutionsmomente des bürgerlichen Rechtsstaats fügen sich zu einer in sich vermittelten Totalität, zu einem System zur Garantie und Regulierung des kapitalistischen Produktions- und Austauschprozesses.
Die Sphäre der gesellschaftlichen Arbeit und des kapitalistischen Warenverkehrs wird der Reglementierung durch die öffentliche Gewalt, typischerweise ausgeprägt in der Periode des Merkantilismus, prinzipiell entrückt. Die Exekutive fungiert als »Not- und Verstandesstaat«4a, der sich der Einmischung in die Angelegenheiten der bürgerlichen Gesellschaft enthält. Dadurch soll der autonome Wettbewerb gleichstarker Unternehmen ermöglicht werden. »Subjektiv anarchisch, objektiv harmonisch«5 sollen die Gesetze des Warenverkehrs, gelenkt von einer »invisible hand« (Adam Smith), sich hinter dem Rücken der Produzenten, insbesondere bei der Preisbildung durchsetzen; damit sei das größte Glück der größten Zahl verbürgt.
Die Autonomie der bürgerlichen Gesellschaft, deren verfassungsstruktureller Ort als »die Differenz (erscheint), welche zwischen die Familie und den Staat tritt«6, wird durch das System der Grundrechte geschützt. Die individuellen Grundrechte (Gewissensfreiheit, persönliche Freiheit, Unverletzlichkeit der Wohnung, Briefgeheimnis, Privateigentumsrecht) sichern die privatautonome Sphäre, in der die wirtschaftliche Initiative der Bürger sich ungestört entfalten kann. Das Privateigentum, auf dem die Reproduktion der Gesellschaft beruht, ist als Hauptinstitution der bürgerlichen Gesellschaft »in der Periode des Konkurrenzkapitalismus von den entscheidenden konnexen Freiheitsrechten der Vertrags- und Gewerbefreiheit umgeben. Der Eigentümer an den Produktionsmitteln muß das Recht haben, einen Gewerbebetrieb zu errichten oder zu schließen, er muß das Recht haben, Kauf- und Tauschverträge, Miet- und Pachtzinsverträge, Darlehns- und Hypothekenverträge abzuschließen, weil er nur durch die Anerkennung dieser Freiheitsrechte produzieren kann (…). Der Vertrag, die rechtliche Form, in der der Mensch seine Freiheit bestätigt, ist konstitutives Element der bürgerlichen Gesellschaft in der Periode der freien Konkurrenz. Er hebt die Isolierung der Eigentümer auf, er vermittelt zwischen ihnen und wird damit so notwendig wie das Eigentum selbst«.7 Neben die individuellen Freiheitsrechte treten die auf öffentlichen Räsonnement bezogenen Grundrechte (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit), die es dem Bürger ermöglichen, im Wege öffentlicher Diskussion, welche unter der absolutistischen Monarchie ausgeschlossen war,8 seine Interessen zu artikulieren. Clearingstelle für diese Interessen wird das Parlament als der Vermittlungsinstanz zwischen den bürgerlichen Privatinteressen und der Exekutive.
Im Parlament konzentriert sich die Herrschaft des Bürgertums. Das Zensuswahlrecht schirmt die Klassen, denen kein kapitalistisch fungierendes Privateigentum zur Verfügung steht, vom Parlament ab, hält sie in politischer Hörigkeit. Zwei Wochen nach der Annahme der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte durch die französische Nationalversammlung von 1789 »verkündete der bedeutendste Staatsrechtler der Nationalversammlung, der Abbé Sieyès: ›Frankreich ist keine Demokratie und darf zu keiner solchen gemacht werden.‹ Und gleich darauf hob die Versammlung den Grundsatz der politischen Gleichheit auf und reservierte das Wahlrecht für die Besitzenden (…). Sieyès fand auch die richtigen Definitionen, um diese Klasseneinteilung und damit das Wesen der neuen Gesellschaftsordnung deutlich zu machen. Er definierte die Aktivbürger als die ›wahren Aktionäre des sozialen Unternehmens‹, die Passivbürger als die ›Arbeitsmaschinen‹ dieses Betriebes.«9 Die Repräsentanten von Besitz und Bildung, durch eine homogene Interessenbasis miteinander verbunden, die antagonistische Konflikte im Gesetzgebungsverfahren ausschließt, entscheiden im Parlament über die Eingriffe in Eigentum und Freiheit (also des Bereichs institutioneller Garantien und Grundrechte), von denen sie selbst betroffen werden. Das parlamentarische Gesetz kann insofern als die Quersumme ihrer Interessen fungieren.10 Das Gesetz muß, um den allgemeinen Interessen des kapitalistisch produzierenden Bürgertums zu genügen, eine generelle Norm ohne rückwirkende Kraft sein: so erscheint eine Privilegierung ausgeschlossen, die Gleichheit der Wettbewerber in der freien Konkurrenz gesichert. Gleichzeitig garantiert die generelle Norm, »der archimedische Punkt des Rechtsstaats« (Rudolf von Gneist), die für den kapitalistischen Betrieb konstitutive Kalkulation der Gewinnchancen: Eingriffe in die Sphäre von Privateigentum und Freiheit sind, da sich aus der allgemeinen Norm im Wege des logischen Schluß Verfahrens eine zwingende Auslegung ergibt, berechenbar. Sie geschieht durch die keiner Suprematie unterliegende Judikative, die, allein an das Gesetz gebunden, als »Mund, der die Worte des Gesetzes ausspricht«10a, fungiert.11
Entsprechend der gesellschaftlichen Lage der Bourgeoisie nimmt der bürgerlich-parlamentarische Rechtsstaat eine Zwischenstellung zwischen der Fürsten- und der Volkssouveränität ein.12 »Revolutionär gegen die Konservativen, konservativ gegen die Revolutionäre«13 ist das Bürgertum darauf bedacht, die mit dem Privatrechtssystem sanktionierte Minoritätsherrschaft der Produktionsmittelbesitzer nicht durch das verfassungsstrukturelle Formprinzip der Demokratie des ganzen Volkes gleichsam hinterrücks bedrohen zu lassen.14 Der (…) »Gegensatz von Liberalismus und Demokratie zeigt sich (…) in seiner entscheidenden Bedeutung als der Gegensatz der Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaates gegen die Konsequenzen eines politischen Gestaltungsprinzips. Das liberale Bürgertum stand zwischen der absoluten Monarchie und der nachdrängenden proletarischen Demokratie (…). Das kritische Jahr 1848 hatte die Lage sehr auffällig gezeigt: gegenüber den politischen Ansprüchen einer starken Monarchie machte das Bürgertum die Rechte des Parlaments, d. h. der Volksvertretung, also demokratische Forderungen geltend; gegenüber einer proletarischen Demokratie suchte es Schutz bei einer starken monarchischen Regierung, um bürgerliche Freiheit und Privateigentum zu retten. Gegenüber Monarchie und Aristokratie berief es sich auf die Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, gegenüber einer kleinbürgerlichen oder proletarischen Massendemokratie auf die Heiligkeit des Privateigentums und einen rechtsstaatlichen Gesetzesbegriff.«15 Die auf den Schutz des Privatrechtssystems zugeschnittene rechtsstaatliche Verfassungsstruktur steht somit quer zur Demokratie, weil sich in ihr der vierte Stand, das Proletariat, dessen Eigentumslosigkeit die Voraussetzung des Privatrechtssystems bildet, gegen die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft stellen kann. Im bürgerlich-parlamentarischen Rechtsstaat wird der absolute Herrscher vom Thron gestoßen, damit ihn das absolute Kapital besteigen kann.16 Im Rechtsstaat schützt es seine soziale Macht. Die Verfassungsstruktur ist mit dem Privatrechtssystem synchronisiert.
Dies trifft mit einer spezifischen Variante auch für das Deutschland des Reiches von 1871 zu. Bedingt durch die politische Schwäche des Bürgertums, das zuletzt vor der Fürstensouveränität im preußischen Verfassungskonflikt kapituliert hatte, wurde die Substanz des Privatrechtssystems nicht durch die Vorherrschaft des Parlaments garantiert, sondern durch die quasi-absolutistische Bürokratie und Judikative, die den formalen Prinzipien des bürgerlichen Rechtsstaats (allgemeines Gesetz, Gewaltenteilung, Grundrechtssystem) unterlagen und sie gewährleisteten. Die deutsche konstitutionelle Monarchie enthält die rechtsstaatliche Beschränkung der königlichen Gewalt, ohne das monarchische Prinzip zu beseitigen.17 »Der Monarch blieb der Träger der verfassungsgebenden und damit verfassungsgesetzlich nicht zu erfassenden, prinzipiell unbegrenzten Gewalt.«18 Auf diesen Sachverhalt, der Garantie der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit für das Bürgertum und dessen Abstinenz von der politischen Herrschaft durch das Medium des Parlaments, ist die deutsche formalisierte Rechtsstaatstheorie, die, im Gegensatz etwa zu England, die Rechtsform von der politischen Struktur des Staates abspaltet, bezogen.19 Der Rechtsstaat »bedeutet überhaupt nicht Ziel und Inhalt des Staates, sondern nur Art und Charakter, dieselben zu verwirklichen«.20 Dieser Satz von Friedrich Julius Stahl wurde von Rechtsstaatstheoretikern des Kaiserreichs kanonisiert: die politische Schwäche des Bürgertums, »Ziel und Inhalt des Staates« zu bestimmen, zeitigte eine entsprechende Verfassungstheorie.21 Sie tangierte freilich nicht den Schutz des bürgerlichen Privatrechtssystems; sie entsprach vielmehr den Interessen eines Bürgertums, das sich einem sich organisierenden Proletariat gegenübersah, gegen das der Monarch als fortexistierender legibus solutus probate Machtmittel – wie das Sozialistengesetz – anzuwenden versprach.
1 K. Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW Bd. 8, Berlin 1969, S. 196 f.
2 K. Marx, Zur Judenfrage, MEW Bd. 1, Berlin 1972, S. 369.
3 K. Rosenkranz, Hegels Leben, Berlin 1844, S. 252 zit. nach G. Lukács, Der junge Hegel, Neuwied 19673, S. 81. In ähnlicher Weise äußerte sich Fichte: »Es ist den Eigentümern durchaus gleichgültig, wer sie schützt, wenn sie nur geschützt werden; das einzige Augenmerk dabei ist, so wohlfeil als möglich. Der Staat ist den Eigentümern ein notwendiges Übel.« J. G. Fichte, Die Staatslehre, Ausgewählte Werke, Bd. 6, ed. Medicus, Darmstadt 1962, S. 454. Entsprechend heißt es bei Marx: »Die politische Verfassung in ihrer höchsten Spitze ist (…) die Verfassung des Privateigentums.« K. Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW Bd. 1, Berlin 1972, S. 303. Der sowjetische Rechtstheoretiker Stučka konstatiert: »Nach unserer Auffassung werden alle übrigen Rechtseinrichtungen nur geschaffen, um das Privatrecht zu schützen.« P. I. Stučka, Die revolutionäre Rolle von Recht und Staat, Frankfurt 1969, S. 72. Und Radbruch schreibt: »Für den Liberalismus ist das Privatrecht die Herzkammer allen Rechts, das öffentliche Recht ein schmaler schützender Rahmen, der sich um das Privatrecht und vor allem um das Privateigentum legt.« G. Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 19636, S. 226.
4 L. v. Stein, Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 1, Darmstadt 1959, S. 53.
4a G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, ed. Moldenhauer/Michel, Frankfurt 1970, § 183.
5 J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied 1962, S. 101.
6 G. W. F. Hegel, a. a. O. (Anm. 4a), § 182 Zusatz.
7 F. Neumann, Der Funktionswandel des Gesetzes im Recht der bürgerlichen Gesellschaft, in: Demokratischer und autoritärer Staat, Frankfurt (M.) 1967, S. 40.
8 In einem Rescript Friedrich II. aus dem Jahre 1784 heißt es: »Eine Privatperson ist nicht berechtigt, über Handlungen, das Verfahren, die Gesetze, Maßregeln und Anordnungen der Souveräne und Höfe, ihrer Staatsbedienten, Kollegien und Gerichtshöfe öffentliche, sogar tadelnde Urteile zu fällen oder davon Nachrichten, die ihr zukommen, bekanntzumachen oder durch den Druck zu verbreiten. Eine Privatperson ist auch zu deren Beurteilung gar nicht fähig, da es ihr an der vollständigen Kenntnis der Umstände und Motive fehlt.« O. Groth, Die Zeitung Bd. 1, Berlin/Leipzig 1928, S. 623, zit. nach J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, a. a. O. (Anm. 4), S. 38.
9 P. Frölich, 1789 – Die große Zeitwende, Frankfurt (M.) 1957, S. 96 f., S. 137.
10 »Weil der englische Bourgeois in dem Gesetze, wie in seinem Gott, sich selbst wiederfindet, deshalb hält er es heilig, deshalb hat für ihn der Stock des Polizeidieners, der ja eigentlich sein eigener Stock ist, eine wunderbar beschwichtigende Macht. Aber für den Arbeiter wahrhaft nicht. Der Arbeiter weiß zu gut, und hat es zu oft erfahren, daß das Gesetz für ihn eine Rute ist, die ihm der Bourgeois gebunden hat.« F. Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, MEW Bd. 2, Berlin 1970, S. 449 f.
10a C. Montesquieu, Vom Geist der Gesetze Bd. 1, ed. Forsthoff, Tübingen 1951, S. 229.
11 Vgl. F. Neumann, a. a. O. (Anm. 7), S. 37 f, S. 45 ff.
12 Vgl. C. Schmitt, Verfassungslehre, Berlin 19654, S. 219.
13 K. Marx, Die Bourgeoisie und die Konterrevolution, MEW Bd. 6, Berlin 1959, S. 109. S. 73 f. »Die Krone wird der Bourgeoisie den Adel, die Bourgeoisie wird der Krone das Volk opfern. Unter dieser Bedingung wird das Königtum bürgerlich und die Bourgeoisie königlich werden. Nach dem März (1848) gibt es nur noch diese zwei Mächte. Sie dienen sich wechselseitig als Blitzableiter der Revolution.« Ebenda.
14 »Die Bourgeoisie hatte die richtige Einsicht, daß alle Waffen, die sie gegen den Feudalismus geschmiedet, ihre Spitze gegen sie selbst kehren. Sie begriff, daß alle sogenannten bürgerlichen Freiheiten und Fortschrittsorgane ihre Klassenherrschaft zugleich an der gesellschaftlichen Grundlage und an der politischen Spitze angriffen und bedrohten, also »sozialistische geworden waren.« K. Marx, Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte, a. a. O. (Anm. 1), S. 153. Die Einsicht in die politische Dynamik der liberalen Freiheitsrechte veranlaßt z. B. John Locke in der Verfassung von Nord-Carolina Sklaverei und Leibeigenschaft zu sanktionieren. Vgl. hierzu den Hinweis von H. Heller, Staatslehre, Leiden 19633, S. 120.
15 C. Schmitt, a. a. O. (Anm. 12). S. 309, Hervorhebung von Carl Schmitt. In der gleichen Weise diagnostizierte der konservative Staatstheoretiker Friedrich Julius Stahl die janusköpfige Position des kapitalistisch produzierenden Bürgertums zur politischen Verfassung der Demokratie: »Wenn es nur darauf ankommt, den Gedanken der Volkssouveränität positiv durchzuführen, das gesamte Volk gleichmäßig zur Herrschaft zu berufen, auch innerhalb des Volkes nicht eine Klasse der Autorität der anderen zu unterwerfen, da verläßt sie (die liberale Partei), diesen Gedanken, sie beruft zu ihrer Herrschaft nur den Mittelstand, die Vermöglichen, die Gebildeten, das ist eben nur sich selbst. – Ebenso behauptet die liberale Partei den Gedanken der Gleichheit gegen den Adel, gegen alle Stände als solche (…). Allein soll die Gleichheit positiv durchgeführt werden, soll die Klasse der Besitzlosen dieselben Rechte mit ihr erhalten, dann gibt sie den Gedanken auf und macht politisch-rechtliche Unterschiede zugunsten der Vermöglichen. Sie will Census für die Repräsentation, Kautionen für die Presse, läßt nur die Fashionablen in den Salon, gewährt den armen Leuten nicht die Höflichkeit und Ehre wie dem Reichen. Diese Halbdurchführung der Prinzipien der Revolution ist es, was die Parteistellung der Liberalen charakterisiert.« F. J. Stahl, Die gegenwärtigen Parteien in Staat und Kirche, 29 akademische Vorlesungen, Berlin 1863, S. 73. Die bürgerliche Ambivalenz mit Bezug auf das politische Formprinzip der Demokratie analysiert auch Lorenz v. Stein: »Indem (…) die Bewegung der Revolution auf (dem) gesellschaftlichen Besitze beruht, kann sie auch in ihren Forderungen an Staat und Gesellschaft nicht weiter gehen, als dieser Besitz selber es verlangt. Da nun jene Bewegung das Prinzip der Gleichheit für sich in Anspruch nimmt, selber aber auf dem wirklich erworbenen, und mithin ungleichen Besitz in der abhängigen Klasse sich stützt, so enthält jede revolutionäre Bewegung einen tiefen Widerspruch in sich. Sie nimmt prinzipiell ein gleiches Recht für die ganze abhängige Klasse, tatsächlich aber den Erfolg der Revolution nur für den Teil derselben in Anspruch, der wirklich im Besitz jener gesellschaftlichen Güter ist.« L. v. Stein, a. a. O. (Anm. 4), S. 100, Hervorhebungen durch v. Stein.
16 G. Radbruch, a. a. O. (Anm. 3), S. 226.
17 C. Schmitt, a. a. O. (Anm. 12), S. 55.
18 Ebenda.
19 Vgl. F. Neumann, a. a. O. (Anm. 7), S. 51 f.
20 F. J. Stahl, Rechts- und Staatslehre Bd. 2, 2. Abteilung, Heidelberg 1856, S. 138. »Der Rechtsstaat steht (…) im Gegensatz zum patriarchalischen, zum patrimonalen, zum bloßen Polizey-Staate (…). Er steht nicht minder auch im Gegensatz zum Volksstaate (Rousseau, Robespierre), (…) in welchem das Volk die vollständige und positive Tugend von Staats wegen jedem Bürger zumutet.« Ebenda.
21 Vgl. F. Neumann, a. a. O. (Anm. 7), S. 51 f. Zur Position Labands vgl. H. Mayer, Die Krise der deutschen Staatslehre von Bismarck bis Weimar, in: Karl Marx und das Elend des Geistes, Meisenheim 1948, S. 48 ff. Zusammenfassend aber vor allem P. v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus, Diss. Göttingen 1953; P. v. Oertzen, Die Bedeutung C. F. von Gerbers für die deutsche Staatsrechtslehre, in: Festgabe für R. Smend, Tübingen 1962, S. 183 ff.
III. Veränderungen des Verhältnisses von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur im organisierten Kapitalismus des Kaiserreichs von 1871
Die Konstruktion des klassischen bürgerlichen Rechtsstaats, der die Sphäre der Gesellschaft prinzipiell der Selbstregulierung kapitalistischer Konkurrenz überläßt, verliert durch die wettbewerbsbeschränkende Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts zu entwickeln beginnt,1 ihr ursprüngliches Substrat.2 Entsprechend ändert sich das Beziehungsverhältnis von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur. Zwei Tendenzen zur Organisierung des Marktes sind in der Zirkulationssphäre zu erkennen.
Der Preis für die Ware Arbeitskraft wird nicht mehr individuell im Wege des »freien« Arbeitsvertrages zwischen Kapitalist und Arbeiter ausgehandelt. Der Verkauf der Ware Arbeitskraft wird von den Arbeiterorganisationen mehr und mehr monopolisiert, um die Funktion des individuellen »freien« Arbeitsvertrages, der den Kapitalisten dank ihrer aus dem Eigentum an den Produktionsmitteln hervorgehenden gesellschaftlichen Übermacht das Diktat des Vertragsinhalts ermöglichte, zu beschränken. Voraussetzung hierfür war die Beseitigung gesetzlicher Hindernisse: 1873 werden Koalitionsverbote aufgehoben; die Gewerbeordnung für den Norddeutschen Bund wird Reichsgesetz.3
Durch die ökonomische Vernichtung der Konkurrenten und Absprachen von Unternehmenskomplexen wird die freie Konkurrenz unzähliger Einzelunternehmen tendenziell aufgelöst. Vehikel hierzu ist auf der unternehmensverfassungsrechtlichen Ebene vor allem das Institut der Aktiengesellschaft, die das Individualunternehmen ablöst und das Pooling großer Kapitalmengen ermöglicht sowie gleichzeitig den Kapitalisten als (durchschnittlichen) Einzelaktionär zum Forderungsberechtigten degradiert, der – typischerweise – von der Leitung des Unternehmens ausgeschlossen ist und lediglich einen »Mehrwerttitel«4 besitzt. In die gleiche Richtung wirkt der Funktionszuwachs der Banken, die, verschmolzen mit dem Industriekapital, zur mächtigen Kapitalschleuse werden, die den Strom der Investitionen nach einheitlichen Interessen der Marktbeherrschung lenkt.5 »In der Hand der Berliner Universalbanken lag nicht nur die Verwaltung und Kontrolle von nahezu 65 Prozent des Eigenkapitals aller deutscher Kreditbanken, sondern auch – indirekt – weitgehend die Arbeits- und Produktionsbeschaffung für die deutsche Großindustrie.«6
Der Produktionsapparat der Gesellschaft wird in wenigen marktbeherrschenden Unternehmenskomplexen im Wege der Kartellierung, Konzernierung und Vertrustung zusammengezogen. »Geschützt von den Bismarckschen Zöllen, gestützt auf die Caprivischen Handelsverträge und bestimmt durch die konservative Wendung der allgemeinen Politik war die Monopol- und Trustbildung in der chemischen wie in der elektrotechnischen Industrie Ende der neunziger Jahre nahezu abgeschlossen und mit der Gründung der Syndikate im Bereich der Schwerindustrie der Weg zum Kartell festgelegt worden. Auch in der Maschinen- und Textilindustrie, dem Bankgewerbe, dem Groß- und Kleinhandel und dem Handwerkertum hatten sich die neuen betrieblichen Organisationsformen durchgesetzt und in eigenen, zum Teil vom Staat begründeten Verbänden ihren Ausdruck gefunden.«7 Der ökonomische Monopolisierungsprozeß läßt das zentrale Konnexinstitut des Produktionsmitteleigentums in der Periode des Konkurrenzkapitalismus, die Vertragsfreiheit, sekundär werden. Die Vertragsbeziehungen werden in steigendem Maße individuellem Aushandeln entzogen; sie werden präfabriziert und standardisiert, vornehmlich in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, mit denen die großen Unternehmen vermöge ihrer wirtschaftlichen Übermacht den Vertragsinhalt diktieren.8
Die durch die Konzentration und Zentralisation des Kapitals bewirkte Machtzusammenballung im Bereich der Wirtschaft läßt die Staatsabstinenz der Bourgeoisie, implizite Voraussetzung der Konstruktion des bürgerlichen Rechtsstaats, verschwinden. »Die Kartellierung vereinigt die wirtschaftliche Macht und erhöht dadurch unmittelbar die politische Wirksamkeit. Sie vereinheitlicht aber auch zugleich die politischen Interessen des Kapitals und läßt die ganze Wucht der wirtschaftlichen Kraft direkt auf die Staatsmacht wirken. Sie vereinheitlicht die Interessen alles Kapitals und tritt so gegenüber der Staatsmacht viel geschlossener auf als das zersplitterte industrielle Kapital des Zeitalters der freien Konkurrenz.«9 Der Nachtwächterstaat verwandelt sich in den von der Bourgeoisie instrumentalisierten Machtstaat, der nach innen das Proletariat als den Klassengegner in Schranken hält (mit der Peitsche der Sozialistengesetze und dem Zuckerbrot der Sozialgesetze),10 unterentwickelte oder zurückfallende Produktionszweige durch Schutzzölle und andere Mittel zur Garantie eines profitablen Binnenmarktes vor der internationalen Konkurrenz abschirmt11 und nach außen Kolonialgebiete erobert und Einflußsphären sichert, um den sich entwickelnden Überproduktionskrisen zu steuern. Die Machinationen des Staatsapparts, Voraussetzung für den Kapitalexport als dem Instrument der Markterweiterung und der Sicherung der Rohstoffquellen,12 werden zum entscheidenden Konnexinstitut zur Selbsterhaltung der oligopolistisch und monopolistisch verfaßten Eigentumsverhältnisse.13 Der für die imperialistischen Funktionen des Staatsapparats notwendige Ausbau der Rüstungsindustrie14 beschleunigt die Zersetzung der tauschvermittelnden Konnexinstitute des Eigentums. Der Staat fungiert als umfassender, konkurrenzloser Auftraggeber der Rüstungsindustrie, die ihre Produkte, ohne die Vermittlung des Marktes, unmittelbar für den »Bedarf« herstellen kann. Die zu einer »einheitlichen kompakten Potenz zusammengefaßte Nachfrage des Staates (…) setzt aber zu ihrer Befriedigung von vornherein die Großindustrie auf höchster Stufenleiter (…) voraus. In Gestalt der militaristischen Aufträge des Staates wird die zu einer gewaltigen Größe konzentrierte Kaufkraft der Konsumentenmassen außerdem der Willkür, den subjektiven Schwankungen der persönlichen Konsumtion entrückt und mit einer fast automatischen Regelmäßigkeit, mit einem rhythmischen Wachstum begabt«.15 Die Beziehungen zwischen Staat und Rüstungsindustrie unterliegen verwaltungstechnischen Abwicklungsregelungen, fernab vom Prinzip der Vertragsfreiheit. Die Realisation des Mehrwerts, im Konkurrenzkapitalismus gebunden an den Marktmechanismus, geschieht unmittelbar durch die staatliche Nachfrage, die eine innerkapitalistische Gebrauchswertproduktion entstehen läßt.
Den Schlußstein der Formveränderung des Privatrechtssystems im organisierten Kapitalismus der vorrepublikanischen und vordemokratischen Periode in Deutschland bildet die Kriegswirtschaft im Ersten Weltkrieg. Die öffentliche Bewirtschaftung fast aller Güter, in der Wohnungsmangelgesetzgebung und im Grundstücksverkehr16 liegt auf der gleichen Linie der Absorbierung der Vertragsfreiheit durch staatliche Eingriffe in die vordem autonome Privatrechtsordnung.
Die durch die Entwicklung zum organisierten Kapitalismus herbeigeführte Veränderung der Konstellation von Privatrechtssystem und Verfassungsstruktur kann auf eine These gebracht werden: Der Staat avanciert, der Tendenz nach, zum realen Gesamtkapitalisten, der für eine innerkapitalistische Regulierung des ökonomischen Gesamtprozesses sorgt. Aus einer von der Verfassungsstruktur abgetrennten, gleichwohl ihr als Substrat zugrundeliegenden relativen Autonomie verwandelt sich das Privatrechtssystem zur ununterscheidbaren, unmittelbaren Substanz der Verfassungsstruktur, die die privaten Aneignungsinteressen, Kern der bürgerlichen Rechtsordnung, in eigene Regie übernimmt. Die an das Privatrechtssystem geknüpfte private Herrschaft refeudalisiert sich zur Totalität einer staatskapitalistischen Verfassungsstruktur: in der öffentlichen Gewalt multiplizieren sich die ehemals getrennten Herrschaftssphären von Staat und Gesellschaft.
1 Vgl. J. Kuczynski, Die Bewegung der deutschen Wirtschaft von 1800 bis 1946, Meisenheim 1948, S. 93 f., S. 103. M. Dobb, Entwicklung des Kapitalismus vom Spätfeudalismus bis zur Gegenwart, Köln 1970, S. 308, H. Grebing, Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung, München 1970, S. 72.
2 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, Göttingen 19672, S. 544 f.
3 Ausdrücklich anerkannt werden die Koalitionen freilich nicht; sie werden nur geduldet. Vgl. F. Neumann, Koalitionsfreiheit und Reichsverfassung, Berlin 1932, S. 7, K. Korsch, Arbeitsrecht für Betriebsräte, Frankfurt 19682, S. 80.
4 R. Hilferding, Das Finanzkapital, Wien 1910, S. 144.
5 Vgl. P. Sering, Jenseits des Kapitalismus, Nürnberg 19483, S. 42.
6 W. Böhme, Prolegomena zu einer Wirtschafts- und Sozialgeschichte Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt 1968, S. 99.
7 Ebenda.
8 Vgl. L. Raiser, Das Recht der Allgemeinen Geschäftsbedingungen, Bad Homburg 19612.
9 R. Hilferding, a. a. O. (Anm. 4), S. 431.
10 Vgl. die ausdrückliche Formulierung in der kaiserlichen Botschaft von 1881, »daß die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialdemokratischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohls der Arbeiter zu suchen sein werde.« E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Bd. 2, Stuttgart 1964, S. 398.
11 P. Sering, a. a. O. (Anm. 5), S. 39. Der Schutzzoll wird dabei unmittelbarer Antrieb zur Kartellierung und Vertrustung, da »der inländische Preis um den Betrag des Schutzzolls über Weltmarktpreis erhöht werden konnte.« R. Hilferding, Die Aufgaben der Sozialdemokratie in der Republik, Referat auf dem SPD-Parteitag in Kiel 1927, Kiel 1927, S. 167.
12 »Mehr und mehr reüssierte die Auffassung – so hat es Walther Rathenau formuliert – daß ›die Völker nicht mehr gute Freunde sind, sondern böse Kontrahenten‹; man war überzeugt, daß sich nur jener Staat seine Unabhängigkeit erhalten könne, der den Kampf um ›Raum für Menschen und Raum für gewinnbringenden Absatz‹ aufnehmen und gewinnen würde; und da ›Deutschlands Macht (…) mit der Kraft seiner Industrie steht und fällt, ist es so lange von der Gnade des Weltmarktes abhängig, so lange es nicht über ausreichende Rohstoffquellen in seinem Machtbereich verfügt‹. W. Böhme, a. a. O. (Anm. 6), S. 101 f.
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