Kitabı oku: «Das Blöken der Wölfe»

Yazı tipi:

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur.

JOACHIM WALTHER geb. 1943, 1963–1967 Studium Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität Berlin. 1968–1983 Lektor und Herausgeber im Buchverlag Der Morgen Berlin, Kündigung wegen Problemen mit der Zensur. 1969–1989 Überwachung durch das MfS. Seit 1983 freiberuflicher Schriftsteller. 1992–1996 wiss. Mitarbeiter der Gauck-Behörde. Veröffentlichungen u. a. in SPIEGEL, Zeit, FAZ, Frankfurter Rundschau, Weltbühne, Tagesspiegel und im Deutschlandradio.

JOACHIM WALTHER

DAS BLÖKEN DER WÖLFE

PUBLIZISTIK 1970–2013

mitteldeutscher verlag

Umschlagabbildung: © morokey – Fotolia.com

2017

© mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Alle Rechte vorbehalten.

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

ISBN: 978-3-95462-966-4

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Kleine Vorbemerkung

Journal einer Nachsaison

Straße in Berlin

Weltreise am Alexanderplatz

Kurioses in der Mohrenstraße

Der Lektor als Entdecker

Ungehaltene Rede

Der lautlose Krieg

125. moralische Epistel

Mehr als glauben, mehr als hoffen

Der kranke Patient

Rede zu einem überfälligen Rücktritt

Kunstlose Vereinigung?

Woyzeck in Amerika

Pressfreiheit

Nachruf auf einen Verband

17 Jahre Leben

Vom Kult zur Kultur

Unzeitgemäße Gedanken

Kant pars pro toto

Boot im Fluss der Zeit

Das Ganze und seine Teile

Ein schwacher Abgang

Stimulation statt Simulation

Deckname Eduard

Brief an Salman Rushdie

Vom Blöken der Wölfe

Flug mit brennenden Flügeln

Sündenfall der Poesie

Wider die eilfertigen Rechercheure

Ehrenname Diversant

Stalins Erblast

Ich nahm mir die Freiheit, Pfeife zu rauchen

Statement für eine Akademie

Tellerjongleur im Dichtergarten

Gone West: So what now

In vino veritas

Eine Fabel zur Wahl

Der Heinz hieß Georg

Ein Amerikaner in Berlin

Die problematische Erbschaft

Vom Klirren und Krähen der Fahnen

Pedro Hagen in Petershagen

Erotische Blöcke

„Im stinkenden Untergrund“

Die Firma schreibt vor und mit

Machtwort und Widerwort

Zum Ersten, zum Zweiten

Vom Credo des Schreibens

Undankbarer Job

Kleiner Schlüssel, große Tür

Der Stasi-Komplex

Unbeirrt schreiben

Gespalten wie die Welt

Die Ästhetik der Kentauren

Zwei deutsche PEN – eine never ending story

Wortkaskaden wie Gottesurteile

Zum Tode Erich Mielkes

Porträt BB als Collage

Die Nato auf dem Balkan

Zehn Jahre deutsche Einheit

Non mea culpa

Erich Loest: 23/59

Die Flut, die Medien und die Menschen

Lob der Renegaten

Halten zu Gnaden

Was die Werte noch wert sind

Es geht seinen Gang

Damals heute

Das Beispiel Havemann

Freundbild

Deutsches Tohuwabohu

Brüll Müll und andere Menschen

Kollektive Abwehr

Adieu Henryk!

In bester Gesellschaft. Jeremiade und Laudatio

Rasante Beschleunigung

Stille Bestimmtheit, sanfte Beharrung

Böcke als Gärtner?

Künstler im Fadenkreuz

Aufarbeiter DDR

20 Jahre Mauerfall, eine Zwischenbilanz

Weltzeitgeist

Kampf um das Erinnern

Codename „Bolzen“

Dialog um jeden Preis?

Ostwestdeutschland

Linke Litanei

Textkörper

Glossar

Personenregister

Weitere Informationen

KLEINE VORBEMERKUNG

1970, bei meinem ersten Gespräch in der Redaktion der „Weltbühne“, einem Blatt mit radikaldemokratischer, bürgerlich linker Tradition aus den zwanziger Jahren und eben deshalb mit einem Resthauch von Exklusivität innerhalb der kahlgeschlagenen DDR-Presselandschaft, sprach der betagte, welterfahrene Chefredakteur Hermann Budzislawski zu mir mit Emphase: „Junger Mann, stoßen Sie die Fenster auf, es riecht muffig in diesem Land!“ Höchst erstaunt und wild entschlossen, dieser nie zuvor gehörten Ermunterung nachzukommen, musste ich nach dem ersten leichten Berühren der Fenstergriffe jedoch erfahren, dass sie abgeschlossen waren und die Schlüssel, gut bewacht, sehr viel weiter oben lagen. Als ich die Idee hatte, Interviews mit von mir ausgewählten Arbeitern zu machen und tolldreist ins Exposé schrieb, die Protokolle sollten zeigen, wie die Arbeiter im Lande ungeschönt redeten und was sie wirklich dächten, da war es mit mir bei der „Weltbühne“ schnell vorbei. Der Ermunterer war bereits im Ruhestand, und ich, noch immer im Unruhestand, machte weitere Erfahrungen bei anderen Blättern, die sich zunehmend glichen, die Erfahrungen wie die Blätter. Eine Genossin Redakteurin schrieb ein Interview mit mir kurzerhand und weitgehend um und erwiderte auf meine Proteste: Ganz im Gegenteil, ich solle ihr dankbar sein, denn nur so sei druckbar, was ich gesagt und sie geschrieben hätte. Der hinzugezogene hartleibige Genosse Chefredakteur wies meine anhaltende Entrüstung mit dem jede Diskussion beendenden Hinweis auf den sich ständig verschärfenden Klassenkampf sowie den niemals schlafenden Klassenfeind als politisch falsch und mithin unzulässig zurück. Nach solchen und weiteren Lektionen ließ ich als DDR-Insasse all meine publizistischen Hoffnungen fahren.

Dann allerdings kam das Jahr 1989 und es begann nach Revolution zu riechen. Vorsichtig erst, dann immer stärker tat sich höchst Erfreuliches. Zum Beispiel erwachte in den Redaktionen nach und nach das Ethos des tot geglaubten, freien Journalismus. Nachdem der Putz schon länger von den Wänden war, knirschte es nun auch in den rostigen Staatsscharnieren, es bogen sich die lügegetränkten Balken, es rieselte hörbar der Kalk der dogmatischen Hirne, und es war eine Lust, nicht nur die Fenster, sondern auch die Türen aufzustoßen!

Und schließlich, historisch gesehen schon wenig später, der Jahrhundertschritt in die bisher verweigerte Offenheit: die Freiheit des Wortes, der Meinung, der öffentlichen Medien als vierter Gewalt. Nur wer meinte, mit dem Fall der Diktatur sei auch das Ende aller gesellschaftlichen wie individuellen Unzulänglichkeiten oder gar der Geschichte gekommen, konnte enttäuscht werden. Wer wie ich froh war, sich nun endlich unbevormundet den tatsächlichen Problemen zuwenden zu können, stürzte sich ins Vergnügen der publizistischen Arbeit, die allerdings konkret nicht immer so vergnüglich war.

Zunächst ging es vor allem um das Aufarbeiten der jüngsten Vergangenheit, das ein offen und verdeckt geführter Kampf um das Erinnern, gegen die Gefahr einer zweiten deutschen Verdrängung wurde. Im Kern ging es um das engagierte und kritische Begleiten von notwendigen Transformationsprozessen: von überholten Strukturen, von gestocktem Bewusstsein, von zementierten Geschichtsbildern, einer Bewegung vom Geschlossenen hin zum Offenen, kurz und etwas pathetisch, der Verteidigung der individuellen Menschenrechte wie der Grundwerte einer zivilen und offenen Gesellschaft. Eine Aufgabe, weiß ich heute, die niemals zu Ende ist.

Insofern sind diese publizistischen Texte auch Zeitzeichen einer Zeitenwende, deren befreiende Wirkung allein an der Zahl der vor und nach der friedlichen Revolution entstandenen und hier abgedruckten Beiträgen ablesbar ist.

Meine persönliche Zeitrechnung beginnt denn auch mit dem Jahr 1989.

Joachim Walther

Mehrow, den 22. Januar 2017

JOURNAL EINER NACHSAISON

Die Insel ist exklusiv, weil sie eine Insel ist. Sie wirbt mit ihrer Einsamkeit. Jährlich besuchen eine Viertelmillion Menschen die Insel. Kein Mensch braucht sich hier einsam zu fühlen, irgendjemand passt immer auf. Wegen des interessanten Vogelzuges und meist sehr ausgeglichenen, warmen Herbstwetters wird diese Zeit von Kennern bevorzugt, weiß „Unser kleines Wanderheft“, Heft 116. Alle, die keinen Sommerplatz bekamen, werden zu Kennern emporgetröstet. Die Sonne fühlt gerade noch unters Hemd. Der Wind fetzt zwischen Haut und Muskel. Die Landschaftsform wie der Untergrund entstanden im Pleistozän und Holozän, liest man. Die Natur soll weitgehend unberührt sein. Die beschilderten Wanderwege sind ausgetreten. Vor der Westküste kreuzen Kampfschiffe. Das Herbstmanöver hat begonnen. Jeden Morgen landen Leute mit Eimern, um den Sanddorn zu melken. Der berühmte Goldschmuck der Insel wurde 1872 gefunden. Nach einigen Zwischengliedern wird noch immer gesucht. Das Original liegt im Tresor der Kreisstadt. Eine Nachbildung ist im Heimatmuseum der Insel zu besichtigen. Verkleinerte Nachbildungen sind im Andenkenhandel erhältlich. Die Insel wird künstlich als Insel erhalten. Sie wäre längst mit dem Festland verwachsen.

Die Bewohner der Insel unterscheidet man in echte Bewohner und unechte Bewohner. Die echten haben hier ihr Geburtshaus. Die unechten haben lediglich Geld.

Die echten Bewohner heißen fast alle Gau, Gottschalk oder Schluck. Im Winter ist die Verbindung zum Festland schwierig, auch heute noch. Die Kinder sind hier alle strohblond. Früher waren die echten Bewohner berüchtigte Strandräuber. Vor Jahren strandete ein Schiff mit Seife an Bord. Der Insel-Konsum verzeichnete einen dramatischen Verkaufsrückgang dieses Artikels. Es wurde mit Sunlicht gewaschen. Das letzte gestrandete Schiff war leer. Darüber wird nicht gern gesprochen. Die wenigsten der echten Bewohner sind noch Fischer. Die meisten der echten Bewohner vermieten Zimmer an Urlauber. Früher sollen sie recht arm gewesen sein. Sie sind freundlich zu den Gästen, sie lachen zu jeder ihrer Bemerkungen. In der Nachsaison sind sie nicht mehr ganz so freundlich. Die Besucher der Nachsaison sind geduldet. Sie vermögen den Gewinn nicht wesentlich zu beeinflussen.

Die unechten Bewohner wohnen eigentlich woanders. Der berühmteste von ihnen war früher ein guter Naturalist, später versuchte er klassisch zu werden. Im Grab trägt er eine Zisterzienser-Kutte, das Neue Testament in den Händen. Unter dem Haupte ruht das unvollendete Spätwerk. Die Glühbirnen in seinem Arbeitszimmer sind noch von seiner Hand eingeschraubt, wird bei der Führung versichert. Eine Puppenschöpferin schöpfte Puppen, die wie Puppen aussahen. Sie wurde deswegen berühmt. Ihr Mann war ein Berliner Holzhändler, der malte. Er ließ eine Burg bauen, die ist bekannt. Ein namhafter Architekt baute hier ein Haus mit schiefem Dach. Nebenan wohnte Asta Nielsen. Auch Thomas Mann war hier. Von den Lebenden kennt man den Namen Felsenstein. Auch der Pfarrer der Insel gehört zu den unechten Bewohnern. In Gesprächen betont er wiederholt, er habe schon in der Hauptstadt des Landes gesprochen. Wenn er von Gott spricht, zeigt er die Handflächen und spreizt die kleinen Finger. Die echten Bewohner finden ihn merkwürdig. Die Alten der Insel sagen, ihr Gott sei das Meer.

Die übrigen Urlauber besitzen kein Haus auf der Insel, sie werden vermittelt. Manch einer vermittelt sich selbst, er hat Beziehungen. Langjährige Inselurlauber tragen ihr Insel-Bewusstsein offen. Die Urlauber suchen die Einsamkeit und stören sie dadurch. Es gibt viele, die allein auf die Insel fahren. Sie wollen mit etwas fertig werden. Autos sind hier verboten. Hunde dürfen bellen. Sie bellen ihr Nachtpensum tagsüber rückwärts. Die Urlauber beiderlei Geschlechts tragen Nylon-Anoraks. Die Frauenbeine bekleiden Silastikhosen in Keilform. An den Männern hängen Kameras und Ferngläser. Ein Urlauber fand vor einiger Zeit am Enddorn einen Mammutbackenzahn.

Alle Urlauber hier suchen. Die meisten am Strand. Sie haben Bernstein-Augen, die von eingeschlossenen Fliegen träumen. Sie gehen gebückt und wühlen in Tang und Schlick. Spezialisten haben Gummistiefel am Fuß und ein Hämmerchen in der Hand. Die suchen nach heißen Splittern von Steinzeitmenschen. Ein Urlauber fand am Enddorn zwei Mammutbackenzähne. Manche suchen seltene Pflanzen, die dürfen nicht gepflückt werden. Andere beobachten Vögel, die dürfen nicht erschreckt werden. Wenige suchen nichts. Die Wenigen finden vielleicht zu sich selbst.

Wandern ist das Einzige, was man jetzt und hier tun kann. Die Wassertemperatur beträgt 10 Grad Celsius. Der untere Teil der Insel ist für Wanderer gesperrt. Ein Steindamm führt zu einem Fischerdorf. Dort stehen gereihte Häuser ohne Zaun. Es existieren Pläne, das Dorf stilecht zu rekonstruieren. Das Schilf am Bodden explodiert in Goldocker und Rotbraun. Das Wasser ist glatt. „Unser kleines Wanderheft“, Heft 116, droht, windstille Tage wären äußerst selten. Die Heide glüht tatsächlich, bei Abendsonne. Die Schatten leben. Im nächsten Dorf hat ein Kunstmaler ein altes Fischerhaus kunstgewerblich hochstilisiert. Das Haus heißt jetzt Blaue Scheune. Daneben steht ein Kiosk aus Pappe. Am Steinstrand wurde ein Sandstrand aufgeschüttet. Dampframmen treiben Holz und Metall in den Boden. Das macht Lärm. Dieser Lärm ist notwendig, die Küste ist gefährdet. Die Kirche der Insel steht im nächsten Ort. Der Abschnittsbevollmächtigte wohnt in der Inselmitte. Hinter dem Ort steigt das Gelände. Ganz oben leuchtet der Leuchtturm. Nachts streicheln seine Strahlen über die Hänge. Die Hänge sind weiblich. Unter dem Strahlenkranz ist man Artist in der Zirkuskuppel. Die Brandung klatscht Beifall. Jeder Strahl reißt den Radarschirm der Armee für Sekunden ins Licht. Am Nordende der Insel liegt gesprengter Bunkerbeton im Sanddorn. Ein feindliches Schiff wollte hier nie passieren. Urlauber fanden am Enddorn mehrere Mammutbackenzähne. Das Steilufer bröckelt. Dahinter beginnt das Meer.

Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, 17. November 1970

STRAßE IN BERLIN
1 ACHT UHR FRÜH

Die Straße riecht nach Räucherfisch.

Sie streckt ihre acht Adern südwärts zur Stadtmitte und nordwärts nach draußen, atmet tief durch nach dem ersten großen Sturm, stößt ihren Atem in die Seitenstraßen und dehnt der Sonne über den Dachschrägen entgegen.

Dort draußen ist Pankow, da lang geht’s in Zentrum, und dazwischen liegt der Prenzlauer Berg. Das alles verbindet die Straße. Die Pankowscher Weg hieß, als auf dem Mühlenberg noch windgetriebene Mühlen standen und die Berliner dort ihr Mehl mahlen ließen. Die in Pankower Chaussee umbenannt wurde, als die Hohenzollern Schloss Niederschönhausen kauften und den Weg zu befestigten Straße auszubauen befahlen. Die 1841 ihren jetzigen Namen erhielt, als die Stadt aus den Mauern brach und die Mietskasernen mit den Zwischenhöfen von 28 Quadratmetern an die Straße gebaut wurden. Die heute die größte Einkaufsstraße des Berliner Nordens ist und Unfallschwerpunkt.

Die Ostseite friert früh im Schatten, die Muskeln der Hunde vibrieren. An den Häuserwänden wachsen Lichtdreiecke mit der Spitze zur Sonne. Die Westseite wird von der Sonne bis zum ersten Stock betastet. Ganz hinten grellt der Sonnenstern am Fernsehturm.

Die Leute steuern geradlinig die angepeilten Punkte an. Außer Rentnern, die ihre Hunde Verkehrsschilder und Laternen markieren lassen. Außer Schülern, die große Taschen schlenkern und oft stehenbleiben.

Eine Postfrau zieht ihren Wagen in eine Toreinfahrt, bückt Zeitungen hoch und geht in das Haus. Die Leuchtreklame der Duncker-Augenoptik wird erneuert, aus dem dritten Stock schaut eine Frau im Nachthemd zu. Ein Malerlehrling holt das erste Bier. Die Kaufhalle öffnet genau um acht, die Schlange davor wird hineingesogen. Ein Postmann füllt die Briefmarkenautomaten auf. Die Papierkörbe sind noch voll von gestern. Ein Mädchen trägt Milch und Schrippen, es ist ungekämmt. Es sind mehr Frauen als Männer auf der Straße. Ein Volkspolizist beobachtet die Fußgänger, er steht so, dass er gesehen wird. Die Lokalseite der Berliner Morgenzeitung berichtet: Die Schönhauser Allee zählt mit jährlich 15 Verkehrsunfällen pro Kilometer zu den Unfallschwerpunkten der Hauptstadt. Besonders die Fußgänger verursachen hier durch verkehrswidriges Verhalten viele Verkehrsunfälle. Zu den Unsitten gehört das Durchkriechen der Schutzgitter auf der Mittelpromenade. Allein in den letzten Tagen wurden Ordnungsstrafgelder in einer Höhe von rund 200 Mark verhängt. Mütter halten ihre Kinder an der Hand und rennen zur Straßenbahn, die Kinder fliegen schräg in der Luft. In periodischen Abständen quellen aus dem S-Bahnhof Menschen, die ersten erzwingen den Übergang am Zebrastreifen, die letzten kaufen eine Zeitung am Kiosk.

Am Rande der Fahrbahn parken LKW, sie beliefern die Geschäfte. Ein PKW mit weißem L auf blauem Grund blinkt links und biegt rechts ab, der Fahrlehrer im Innern hält die Hände vors Gesicht. Ein Müllfahrer schwingt die Zügel, die Pferde schlagen Funken aus dem Pflaster. Ein Handwerker auf Fahrrad tritt gemächlich die Pedale, sein Werkzeugkasten hinter dem Sattel klappert wild. Ein Mopedfahrer mit Rucksack und Angel lässt sich von einem Fahrradfahrer überholen, er sieht müde aus, schlechtes Beißjahr, hört man.

An den Gleisen der Straßenbahn wird gebaut, die Gleisarbeiter haben ihre Hemden noch an. Die 46 nach Pankow ist fast leer, die Wagen schleudern und scheppern, die 46 nach Kupfergraben ist voll, die Wagen rumpeln dumpf.

Über die Mittelpromenade stützt der U-Bahnbogen, Feuilletonisten nennen ihn witzig Magistrats-Regenschirm. Die Strecke wurde von 1911 bis 1913 gebaut. Im Vertrag von 1906 heißt es unter § 3: Von der Franseckistraße aus steigt die Bahn zur Hochbahn auf und wird als solche bis jenseits des Nordrings bis 105 m hinter die Stolpischestraße ausgeführt. Im Jahr 1909 tagte die Stadtverordnetenversammlung der Haupt- und Residenzstadt. Vierter Gegenstand der Tagesordnung: Antrag der Stadtverordneten Gronewaldt und Genossen, betreffend den Bau einer Untergrundbahn anstelle der geplanten Hochbahn in der Schönhauser Allee. Eine Petition der Anwohner wurde eingereicht, sie protestierten gegen den zu erwartenden Lärm der Hochbahn. Beides wurde abgelehnt, sechs Millionen Reichsmark wurden eingespart, die U-Bahn lärmt oben.

Straßenkehrer gegen die Mittelpromenade, sie erzählen dabei und stützen sich auf Besenenden. Tauben äugen nach Futter. Die Blätter der Linden flattern, wenn oben eine U-Bahn fährt. Den Bäumen auf Straßen und öffentlichen Plätzen Berlins ist es strengstens untersagt, bei Altersschwäche umzufallen. In den Schaufenstern hängen Schmetterlinge aus Stoff.

2 EIN UHR MITTAGS

Senefelderplatz, kleiner Park mit grünem Pissoir und rotem Feuermelder. Die Bäume sind Straßenbäume. Alois Senefelder zu Ehren ein Denkmal, an dessen Fuß sind zwei klassizistische Knäblein kollektiv tätig. Knäblein eins schreibt den Vornamen Alois in Spiegelschrift, Knäblein zwei hält hilfreich den Spiegel. Der Erfinder indes grübelt noch immer in Marmor. In der ND-Druckerei gegenüber wurde früher Bier gebraut: Brauerei Pfefferberg. Das Umformer- und Schaltwerk der U-Bahn ist unsichtbar, es liegt unter der Erde. Ringsum fehlen auch ein paar Häuser, der Angriff wurde am 7. Mai 1944 geflogen. Deshalb sind die zwei Wassertürme auf dem Mühlenberg so gut zu sehen; der dicke ist bewohnt. Um 1800 standen dort acht Windmühlen mit Ausschank-Lizenz. Müller Würst ließ in seine Gläser gravieren: Gestohlen bei Würst auf dem Windmühlenberge. Dadurch stieg die Zahl der Gläser, die ohne Wissen des Besitzers geborgt wurden; die Tradition lebt fort.

Über die Vorderfront des Komitees für Landtechnik spannen die Worte: Stärkt und schützt die Deutsche Demokratische Republik, unsere sozialistische Heimat! Die BSG Rotation Prenzlauer Berg nennt ihr Lokal Sportlertreff. Durch das Gitter des Jüdischen Friedhofs schimmern alte Grabsteine zwischen hohem Gestrüpp, der Gedenkstein trägt die Aufschrift: hier stehst du schweigend doch wenn du dich wendest schweig nicht. Die evangelische Segenskirche wirbt für die Bachkantate Nr. 84: Ich bin vergnügt in meinem Glücke. Die Fassade ist von verschiedenen Einschüssen gelöchert. Ecke Oderberger steht das Café und Restaurant Zur Schildkröte. Auf dem Tresen liegt ein Schildkrötenpanzer, die Bewegungen des Wirtes stehen in keinerlei Widerspruch zum Namen seiner Stampe. Das Kreiskulturhaus Erich Franz beherbergt unter anderem den Gehörlosenverband, dahinter liegt die Schultheiß-Brauerei, früher AG, jetzt VEB, das Berliner Bier ist süffig. An dieser Stelle stoßen die U-Bahngleise durch die Erde, die Dezibelwerte steigen. Unter dem U-Bahnbogen steht Konnopkes Imbisshalle: Curry Brat Bock Wiener Knacker Brühe, was woll’n Se? Berlin ist ein sprachlicher Schmelztiegel, gegenwärtig werden Thüringer und Sachsen eingeschmolzen. Früher die Ostpreußen und so weiter, jetzt sind sie die typischen Berliner. In der Telefonzelle daneben kann nur gesprochen werden, zu hören ist nichts.

Denn da ist die große Kreuzung. Sechs Straßen schlagen auf sie ein. Drei Verkehrspolizisten schlagen zurück. In der Mitte parkt ein Messwagen für Luftreinhaltung. Sauerstoff wird in Berlin auch immer seltener. Nur Sonne macht die Stadt erträglich, sonst ist sie grau, von schwarz in allen Nuancen grau. Weiß ist nicht. Dafür ist es außerhalb schöner, dort wo die Datschen stehen. Wer noch keine hat, soll sich melden. Die Kreuzung ist für viele der Mittelpunkt der Stadt, am Alex wurden neulich zwei Feldhasen gesichtet. Der alte Mann mit dem Pilotenhelm aus Leder ignoriert die Anweisungen der Verkehrspolizisten, vielleicht ist er gerade Baron von Richthofen. Horizont sagt mehr, sagt Horizont, oben am Geländer des U-Bahnhofes Dimitroffstraße.

Die Bars Lolott und Lotos sind Räume mit einer Bar. Bei Glas-Müller stehen Gartenzwerge, schlimmer allerdings ist die Porzellan-Nackte im Schaufenster, sie streichelt einen Porzellan-Karpfen. Kunst braucht keine Erklärung.

Gegenüber ist der Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark, ein Aufsteller kündet von einem Fußballspiel. Berliner nennen den Sportplatz noch immer Exer. Weil nämlich Wilhelm Griebenow 1825 die Fläche für 9.518 Taler als Exerzierplatz an den Militärfiskus von Berlin verkaufte. Vor der Einsamen Pappel versammelten sich 1848 circa 25.000 Berliner, die Berliner Luft roch damals zeitweise nach Revolution. Die Versammlung datiert den Beginn der Berliner Arbeiterbewegung, eine Tafel erinnert daran, die Pappel ist neu und klein.

Ein Schüler mit blauem Halstuch pfeift eine Melodie aus My fair Lady, etwas falsch, doch nicht ohne Sachkenntnis. Zwei kleinere Kinder schmeißen nach ihm mit Erbsen, ein Mann im Sakko mit übergeschlagenem Sommerkragen wird getroffen, die beiden auf dem Balkon sind abgetaucht. Übrigens wäre die Straße ziemlich reizlos, denkt man sich die Häuser weg. Die Architekten haben trotzdem einen Prozess verdient, so was verjährt nicht.

Ein Geschäft für Orthopädie und Bandagen legt fleischfarbene Gliedmaßen aus, nebenan gibt’s Goldbroiler und Chips. Das Restaurant Stockinger ist innen gediegener Kitsch und gibt sich nach außen exklusiv. Spezialgeschäfte rechts und links, ein Kellerladen noch, dort gibt es fast alles. Das Kino Colosseum war früher Pferdebahnhof, die Pferde wurden vom Strom erlöst und der Bahnhof von den Pferden. Jetzt galoppieren nur noch Filmpferde. Die Gleisarbeiter haben ihre Hemden ausgezogen. Vor den Treppen zum U-Bahnhof macht eine Wurstbude Konnopke Konkurrenz, sie hat entschieden weniger Sorten. Und dann kreuzen Straßenbahn U-Bahn S-Bahn, früher hieß die Ecke hier Nordbahnhof, jetzt heißt nur die Kneipe noch so: Zur Nordbahn. Humtata gibt’s im Hinterhof bei Giovanni Bacigalupo, dem Drehorgelbauer. Eine Pantomimengruppe sucht Leute. Hausfrauen tragen Taschen und Netze, sie sehen aus, als hätten sie alle einen Gedanken. Am Zebrastreifen gibt es einen Stau von acht Fahrzeugen, der Verkehrspolizist lehnt am Geländer und schwitzt. Die Straße gähnt noch einmal vor dem zweiten großen Sturm.

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