Kitabı oku: «Das Blöken der Wölfe», sayfa 2
3 FÜNF UHR ABENDS
Die Straße brüllt. Stöhnt blaue Schwaden, riecht nach Benzin und Räucherfisch, hoch wirbelt Staub. Dreispurig heulen Blech und Elaste und Plaste stadtauswärts, stadteinwärts, Mopeds und Fahrräder nahe der Bordkante. Spitzenzeit, oben die U-Bahnen, Berufsverkehr, die Straßenbahn ist gelb, die U-Bahn gelber, die S-Bahnen tunneln donnernd die Straße, der Boden bebt, einfahrende Züge zischen Druckluft, ein Dampfzug zerfasert bauschiges Weiß an der Brückenbrüstung. Der Asphalt – weich wie Haut, Füße treten Pflaster, Teer, Granit.
Berlin! Wie Donner rattert furchtbar dein Geröchel! / Die heiße Luft sich auf die schwachen Lungen drückt. Ströme branden durch die Schluchten, Menschenströme durch Steineschluchten mit Strudel, Stau und Ziel, maßlos und geordnet doch, Steine-Stadt, Straßen-Stadt, Menschen-Stadt, straßengeäderte Steine-Stadt.
Der Verkehrspolizist steht regelnd auf der Straßenmitte, er gibt Fußgängern eine Chance, der himmelwärts gereckte Arm lässt Bremsen quietschen. Eiliges Pflastergetrappel und ungeduldiges Motorheulen im schnellen Wechsel. Ein Unfallwagen mit Blaulicht und Sirene, die Straße hält kurz den Atem an, die Worte sind leiser für Sekunden, Hälse werden gedreht, halblaute Bemerkungen, dann ist das vorbei, der Lärm schwillt zu alter Stärke, es ist vergessen. Aus den Bahnen, in die Bahnen drängen Menschen, zielstrebig, mit Stirnfalten: Könn’Se nich uffpassen? Worte mischen sich, He und Hallo, Lächeln, Lachen, Augen gerichtet und suchend, Warten und Hasten, ein flüchtiger Kuss dort und Unterhaken, Treffpunkt zum Einkauf. Wo die Mühle ist zu seh’n, wird Dein Einkauf angenehm: Leuchtreklame der HO Prenzlauer Berg an der Giebelwand, Vögel nisten darin. Ein Mädchen in Maxi ruft einen Bärtigen, der hört nicht und geht weiter. Am S-Bahnhof klappert eine christliche Schwester die bekreuzte Büchse, vor der Losbude flattern Nieten zu Boden. Am Zeitungskiosk schrumpft der BZA-Stapel, das Abendblatt berichtet: Junger Mann half. An einem Sonntag stand unser ungarischer Gast, eine ältere Dame, hilflos auf dem Ostbahnhof. Die Post, in der sie uns ihre Ankunft mitteilte, war bis dahin noch nicht eingetroffen. Ohne Geld und Kenntnis unserer Sprache wusste sie nicht, wie sie nach Adlershof kommen sollte. Ein junger Mann, dessen Name uns leider nicht bekannt ist, nahm sich ihrer an. Von Herzen möchten wir ihm für seine Hilfsbereitschaft danken. Helga-Ilse Wons, M. Papp, Adlershof. Dorothea Strelau: An allen Tagen wächst die Veränderung. Heute bin ich ein anderer. Die mich gestern kannten, leben im Irrtum. (Aus: Offene Fenster, Schülergedichte.) Sein Lieblingsmotiv: Berlin und die Berliner. Zum heutigen Geburtstag des Grafikers Arno Mohr. Über die Straße spannt die Werbung: Berliner Zeitung gelesen – dabeigewesen. Der Erfrischungswagen ist stark frequentiert. Der Taxistand ist ohne Taxi. Das Kaufhaus Gewa zeigt Sommermoden. Das Sporthaus Olympia präsentiert Campingartikel. Im Schaufenster des Spielwarengeschäfts werben die Worte: Spielend unsere Welt erkennen, Spieltheorie in Praxis. Ein alter Mann im Rollstuhl verkauft Kämme und Zahnbürsten. In die Autos auf dem Parkplatz steigen Männer in Anzügen, sie lockern den Schlips und öffnen das Schiebedach. Die Gleisarbeiter waschen sich am Bauwagen.
Die Sonne wirft lange Schatten. Nach fünf nimmt die Zahl der Mädchen zu, sie gehen zu zweit und kichern permanent. Die Frauen tragen schon kleinere Taschen. Vor dem Kino stehen Gruppen, Kofferradios tönen. Die Mädchen hier sind es gewöhnt, angesprochen zu werden, sie haben es nicht leicht, sie möchten es nicht leichter haben. Fragen werden von ihnen mit Fragen beantwortet. Die Fernseher werden eingeschaltet, die Fenster stehen offen. Auf den Hinterhöfen laufen die Fernseher früher und lauter als anderswo. Die Scheiben der Sonnenseite glühen rot. Links schatten die Gesichter blau. Durch die Seitenstraßen wellt sinkende Sonne, riesenrotes Sinken im Westen hinter Lindengrün vor Mauerweiß. Dort enden unsere Straßen, dahinter beginnen neue. Eine andere Welt, wenige Meter nur trennen Tausende Kilometer, die stehen dahinter: Welten. Unvereinbares auch am Ende der Seitenstraßen dieser Straße, zeitlich und räumlich nicht mehr Vorstellbares in dieser Weltendimension.
Unsere Straße atmet hörbar auf, sie gleitet abendlich in sanfte Offenheit.
Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, Mai 1971
WELTREISE AM ALEXANDERPLATZ
Warum ist das Haus des Reisens so riesig? Diese Frage überfiel mich jählings, als ich neulich den Alexanderplatz kreuzte. Ich bin Lokalreporter einer der hiesigen Abendzeitungen, es gibt nur eine. Gelegentlich verfasse ich auch Leserbriefe unter Pseudonym. Eigentlich hatte ich etwas über den neuen Brunnen vor dem neuen Warenhaus schreiben wollen, ich fand ihn nicht. Suchend schaute ich ins weite Rund des Platzes – und da fiel mein Blick auf das imposante Haus des Reisens. Stahl, Beton, Glas wuchtete gen Himmel, zehnstockwerkhoch und höher, ich assoziierte Manhattan. Anschließend überfiel mich die schon genannte Frage, wie gesagt, jählings. In meiner Eigenschaft als Lokalreporter wollte ich der Sache auf den Grund gehen. Ich meldete meinen Besuch an.
Der Stellvertreter des stellvertretenden Direktors empfing mich. Bescheiden bot er an, ich solle ihn einfach Chef nennen. Ich fragte meine Frage. Er lächelte wissend und erklärte mir die Bedeutung der einzelnen Stockwerke. Im ersten Stock, sagte der Chef, ist Europa, im zweiten Asien, im dritten Afrika, im vierten Nord- und Südamerika, im fünften Skandinavien plus Arktis, im sechsten Australien, im siebten die Südsee. Die möchte ich sehen, Chef, sagte ich. Er nickte und ließ mir den Vortritt, der Fahrstuhl war außer Betrieb. Im siebten Stock eine Tür, darüber die Worte: Südsee/Pazifik. Die nächste Reisegruppe geht übermorgen, sagte der Chef, sehen wir uns also die Räume an.
Der erste Raum war einer Amtsstube nachgebildet: Ein Schalter hinter Glas mit einer runden Öffnung, Bänke, Tische mit schmuddeligen Illustrierten, an den Wänden Prospekte mit Palmen und Meer. Hier werden die Passformalitäten erledigt, sagte der Chef. Wir betraten den zweiten Raum: ein Flughafenrestaurant. Unsere Route führt von hier nach Port Moresby auf Neuguinea, erläuterte mein Begleiter, in den Wänden befinden sich Lautsprecher, über die Düsengeräusche und Stimmengewirr eingespielt werden, außerdem zeigt ein Projektor startende und landende Maschinen, selbstverständlich werden unterdessen diverse Drinks gereicht. Der dritte Raum: das Innere eines Flugzeuges, verstellbare Schaumgummisitze, Bullaugen, unter denen Kumuluswolken und Gebirgsmassive vorbeizogen. Selbstredend können wir durch Druckveränderungen auch echte Übelkeit erzeugen, sagte der Chef stolz und führte mich in den vierten Raum. Von Port Moresby wird die Reise per Schiff fortgesetzt, sagte er. Sie sehen in diesem Raum das Oberdeck, über Düsen wird Meeresluft geströmt, wir können sogar Salzwasserspritzer erzeugen, natürlich auch, wenn gewünscht, die Symptome der Seekrankheit. Kinetosin sei ausreichend an Bord. Der Boden des fünften Raumes war mit feinstem Sand bedeckt. Unsere Touristen wollen immer zuerst an den Strand, sagte der Chef nachsichtig, wir haben das berücksichtigt, Meeresrauschen erfolgt über Ton, das Meer mit Brandung und (nach Wunsch wiederholtem) Sonnenuntergang über Projektoren, in der Decke sind Höhensonnen eingebaut, wir garantieren tropische Bräune, Schutzmittel allerdings sind vom Reisenden selbst zu stellen. Der sechste Raum: Das palmenumstandene Strandhotel, Korbstühle, Ventilatoren auf den Tischen, eine Tanzfläche. Dort werden die Nationaltänze vorgeführt, sagte der Chef, an die Decke wird das Kreuz des Südens projiziert, das Ganze ist phänomenal stimmungsvoll und der eigentliche Höhepunkt dieses Reiseprogramms. Hinter diesem Raum liegt nur noch der sogenannte Bewegungsraum, fuhr der Chef fort, die ersten Reisenden klagten nämlich über Bewegungsmangel und fehlenden Appetit, an den vier Wänden wird eine Landschaft im Schritttempo vorbeigezogen, wir haben ein Laufband eingebaut, darauf können die Reisenden spazieren gehen, um dann hier im nachempfundenen Hotel zu essen, zu schlafen und sich vielfältig zu amüsieren.
Der Chef nahm mich sacht am Arm, meine Sprachlosigkeit schien ihn nicht zu überraschen, er führte mich zurück. Die Abreise erfolgt auf dem gleichen Weg wie die Anreise, erklärte er, wir wechseln allerdings das Bildmaterial der Projektoren. Während wir zur Eingangstür zurückgingen, erklärte er mir die Vorzüge dieses Systems: Diese Form des modernen Reisens sei entschieden billiger als die konventionell-überholte, erstens, außerdem sei sie gefahrloser, Flugzeugabstürze, Schiffsuntergänge, Schlangenbisse und so weiter wären ausgeschaltet, zweitens, die Zeit der Reisevorbereitungen sei entschieden gesenkt worden, die Passformalitäten seien auf das erträgliche Minimum beschränkt, die früher üblichen Impfungen fielen weg, der Reisende müsse lediglich seinen Koffer packen und schon könne es losgehen, drittens, und viertens sei diese Art des modernen Reisens erheblich weniger zeitaufwändig. Er fragte, ob ich noch Fragen hätte. Ich verneinte, dankte und verließ das Haus, der Fahrstuhl war noch immer außer Betrieb. Auf dem Weg zur Redaktion beschloss ich, schon übermorgen eine Reise nach den Mahiniki-Inseln anzutreten, drei Tage Urlaub standen mir noch zu, außerdem würde der Artikel dadurch lebenspraller. Ich ging zum Chefredakteur, er war einverstanden.
Nach zwei Tagen stieg ich mit meinem Koffer zum siebten Stock empor. Der Fahrstuhl … Schwamm drüber! Ich hatte mich etwas verspätet, doch das Ausstellen des Visums dauerte nur drei Minuten. Die Reisegruppe bestand aus zehn Personen. Unser Flugzeug wartete auf die Starterlaubnis, die Lautsprecherstimme sprach von einer Nebelwand über dem Golf von Bengalen. Im Flughafenrestaurant wurde uns ein Martini gereicht. Die Starterlaubnis wurde gegeben, wir schnallten uns an und löschten die Zigaretten. Der Flug verlief normal, ich flirtete ein wenig mit der hübschen Stewardess. Meinem Nebenmann wurde übel, er benutzte die Tüte. Der Eindruck des überflogenen Himalaja war besonders gewaltig. Bei der Landung in Port Moresby wurde als Einlage eine Bruchlandung simuliert, doch zuletzt ging alles noch mal gut. Die Schiffsreise nach Mahiniki war sehr schön. Auf mein Notizbuch fielen einige Salzwasserspritzer, ich beschloss, künftig nur noch Kugelschreiber zu benutzen. Drei von uns wurden seekrank, sie schluckten Kinetosin und fühlten sich bei der Landung schon viel besser. Die Insel war herrlich, ich schreibe nur: Luft, Sonne, Wasser! Das Schiff war noch nicht richtig vertäut, da stürmten wir schon an den Strand. Der Sand war kleinkörnig und großartig. Wir warfen den Stoff weit von uns, einige warten vor Sonnenbrand. Gegenseitig rieben wir uns Sonnenemulsion auf die Haut. Die Brandung toste monoton, das wirkte wie Balsam auf die Nerven.
Nach drei Stunden verspürten wir Hunger und liefen zum Hotel. Es war malerisch gelagert. Zur Erfrischung servierte man Austern und Ananassaft. Dann wurden Nationaltänze angekündigt, die Bongos wirbelten dumpf und geheimnisvoll. Über allem stand gleißend das Kreuz des Südens, einfach traumhaft schön. Die halbnackten Bauchtänzerinnen waren auch nicht von Pappe, sie hatten ziemlich schmale Hüften, aber da war Musik dahinter. Eine gefiel mir besonders gut. Ich starrte auf ihren rotierenden Bauch, und plötzlich entdeckte ich diesen Leberfleck halbrechts vom Nabel. Genauso einen hatte unsere Volontärin in der Redaktion. Blitzschnell äugte ich auf ihre Hand, und wirklich: Da steckte der Ring, den ich ihr vor Wochen für die erwiesenen Freundlichkeiten geschenkt hatte. Sie war es. Ich konstatierte mit Genugtuung die Kontinuität meines Geschmacks. Dass ich sie hier mitten in der Südsee sah, störte mich nur wenig. Ich war auch schon etwas trunken. Es war herrlich. Dann schlief ich ein. Die Zeit verging wie im Fluge. Braungebrannt und voll schöner Bilder und Erinnerungen kehrten wir heim. Der Zollbeamte war sehr milde, wir hatten auch nichts zu verzollen. Vor der Tür stand schon die nächste Reisegruppe. Wir verabschiedeten uns voneinander und schworen, die schönen Tage von Mahiniki niemals zu vergessen.
Anderntags setzte ich mich nieder und schrieb den Artikel über meine Südseereise. Ich sparte nicht mit begeisterten Worten. Aber auch mit Kritik sparte ich nicht. Mit schonungsloser Offenheit geißelte ich die Nachlässigkeit der Volontärin und forderte unmissverständlich, sie solle beim nächsten Mal den Nabel pudern und den Ring vom Finger ziehen.
Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, 16. Februar 1971
KURIOSES IN DER MOHRENSTRAßE
Beruf und Berufung fallen bei mir auf eine höchst glückselige Weise zusammen: Ich bin Erfinder, bekannt unter dem Namen Flussel junior. Mitunter, wenn ich mich vorstelle, bemerke ich Unkenntnis auf den Gesichtern meiner Gesprächspartner, und in solchen Momenten pflege ich auf die stolze Tradition meiner Familie zu verweisen. Mein Vater nämlich war der berühmte Flussel senior. Flussel, Eugen (1863–1932) – exakt. Er erhielt 1898 das Reichspatent auf seine „Vorrichtung zum Anheben der Knie der auf dem Abort sitzenden Person gegen die Brust“, die in der Patentschrift wie folgt erläutert wird: „Gegenstand der Erfindung ist eine Vorrichtung, welche die den Abort benutzende Person derart vor sich legen kann, dass beim Ausüben eines Druckes auf eine Armstütze die Platte, auf welcher die Füße der Person ruhen, angehoben wird und die Vorrichtung somit als Brustpresse wirkt.“ Wenngleich diese Erfindung für penible Gemüter etwas anrüchig scheinen mag, so hat sie doch zweifelsfrei vielen Menschen Erleichterung gebracht, und das ist ja wohl der letztendliche Zweck jedes erfinderischen Schaffens. Mir ist bis heute die Patentierung einer meiner Erfindungen versagt geblieben, doch das will nichts beweisen, da viele geniale Erfinder der Vergangenheit dem Verständnis ihrer Zeit weit voraus waren, ich erinnere hier nur an Kollegen Dädalus aus Attika. Neulich nun glückte mir eine Erfindung, der ein Patent so gut wie gewiss ist.
Der erste Schritt nach einer Erfindung führt zum Patentamt in der Mohrenstraße, um dortselbst in den Akten nachzusehen, ob die Erfindung schon existiert oder nicht. Der Lesesaal war ziemlich voll, was auf eine rege Erfindertätigkeit schließen lässt, zumeist junge Techniker saßen da, Ingenieure, Diplomingenieure et cetera, sie blätterten in Akten, die ich nicht verstehe. Ich bin Autodidakt, ohne akademischen Titel, allerdings mit enzyklopädischem Wissen. An dem Ausgabeschalter deutete ich vorsichtig die Art meiner Erfindung an und bat um die entsprechenden Mappen. Hinter dem Schalter sah ich Befremden, verständlich bei der Kompliziertheit meiner Erfindung, dann verstecktes Lachen, sicherlich aus Verlegenheit, Flussel jun. persönlich vor sich zu haben, und schließlich überreichte man mir lächelnd eine schwarz verschnürte Mappe, sie trug die Aufschrift „Sammelmappe für Kuriositäten“. Nun ja, dachte ich, alles Geniale ist zuerst kurios, über alles Ungewohnte wird zuerst gelacht, denken wir nur an das erste Automobil von Benz. Ich begann zu blättern und war ergriffen von der Größe und Vielfalt menschlichen Erfindergeistes.
Da erfand 1899 Wolf von Wolf aus Dresden ein „Kopfkissen mit zum Hineinlegen der Ohren bestimmten Abschnitten“, Otto Reich aus Hannover 1893 einen „Deckbetthalter mit Lüfter“, Paul Bartmann aus Wien 1906 eine „Vorrichtung zur Verhütung des Liegens auf dem Rücken, welche den Zweck verfolgt, das bei vielen Personen sich einstellende Schnarchen sowie das Eintreten von erotischen Traumbildern zu verhindern“, also allesamt überaus hülfreiche Erfindungen bezüglich eines wonniglichen Schlafes.
Viele meiner Kollegen beschäftigte das Problem der universellen Nutzbarkeit von Spazierstöcken: Walter Grunewald aus Riesenburg erfand 1927 einen „Spazierstock mit im Innern untergebrachter Regenhautpelerine“, Hugo Windmüller aus Berlin 1891 einen „zur Aufnahme von Flüssigkeit bestimmten Stock mit Trinkbecher im Griff“, Friedrich Brückner aus Frankfurt am Main 1891 einen „einfachen Spazierstock, zu dessen als Tintenbehälter dienendem, abnehmbarem Knopf ein Federhalter den Stöpsel bildet“, W. A. Herbst aus Pulsnitz 1877 einen „Touristen- und Botanisier-Stock“ mit Signalpfeife, Messer, Kompass, Mikroskop, Objektgläsern, Chloroform-Röhrchen, Thermometer, Sanduhr, Botanisierspatel und Eispickel, Carl Lindner aus Weyer 1905 eine „Wärmevorrichtung für Spazierstock- oder Schirmgriffe“ … Und viele andere einfallsreiche Kollegen erfanden Stöcke zur Aufnahme von Zigaretten, Zigarren, Pfeifen, Brillen, Taschenlampen, Kleiderbürsten, Schlagvorrichtungen und Insektenspritzen.
Carl Külbs aus Freising erfand 1884 eine „Vorrichtung zur Holzzerkleinerung“, und die Patentbegründung wirft ungewollt ein bezeichnendes Licht auf die rauen bajuwarischen Sitten: „Die Vorrichtung hat den Zweck, mittelst jedes gewöhnlichen Beiles sitzend Holz spalten zu können, ohne, besonders in Mietwohnungen, störendes Gepolter zu verursachen“, Kollege Külbs kann demzufolge als Protagonist der Lärmbekämpfung gelten.
Einige Kollegen arbeiteten erfolgreich auf dem Spezialgebiet meines Vaters: Hugo Schwarz aus Gottschimmerbruch zum Beispiel erfand 1911 eine „Vorrichtung zum selbsttätigen Öffnen und Schließen des Klosettdeckels mittels der Tür“ und Otto Leiber aus Königsfeld 1926 einen „Hilfssitz für Nachtgeschirre“ mit Musikauslösung bei Belastung.
Aber auch die holde Weiblichkeit leistete ihren Beitrag im Patentwesen, so unter anderem Emilie Friedrich aus Berlin, die 1920 eine „elektrische Vorrichtung zur Verhütung des Bettnässens“ entwickelte, die bei Beginn der unerwünschten Blasenentleerung einen empfindlichen Stromstoß auslöste und das jähe Aufwachen des kindlichen Schlafpinklers verursachte. Edmund Naundorf aus Luckenwalde zählte sicher zu den glühenden Verehrern der Dichtkunst von Friederike Kempner und deren schrittmachenden Bemühungen um die Scheintoten, denn er erfand philanthropischerweise 1895 einen „Sarg mit Schaufenster“, um den Scheintoten die Möglichkeit zu lassen, bei der Aufbahrung den innen angebrachten Vorhang zur Seite zu ziehen und den Trauernden Winkzeichen zu geben.
Kriegerischer Natur dagegen ist die Erfindung von Carl Hamann aus Bergedorf im Jahre 1898, das sogenannte „Handrad zur Unterstützung beim Kriechen, das vorzugsweise militärischen Zwecken dienen soll und aus einem Handstützrad besteht, welches beim Kriechen des Soldaten zum Heranschleichen an den Feind benutzt wird“. Hätte diese Erfindung nicht auch im Zivilbereich Verwendung finden können? Walter Gerdes aus Berlin erfand 1928 eine „Fahne mit Längs- oder Querstreifen“ und schrieb dazu: „Es ist üblich, feierliche Ereignisse, insbesondere solche politischen Charakters, durch Tragen oder Aufziehen einer Fahne zu bekunden. Zahlreiche Kreise der Bevölkerung haben hierbei nun den Wunsch, die Farben der Fahne der politischen Verschiedenheit der Ereignisse jeweils beliebig anpassen zu können. Das Publikum steht vor dem unter dem Namen Flaggenfrage bekannt gewordenen Problem und vor der Entscheidung, entweder eine zweite Fahne anzuschaffen oder von einer äußeren Bekundung seiner Teilnahme an dem betreffenden Ereignis abzusehen.“ Kollege Gerdes fand die Lösung in verschiedenfarbigen, verschiebbaren Stoffstreifen, die mittels Druckknöpfen umgesteckt werden konnten. Damit endete die Mappe: schade. Ich aber frage: Werden die sogenannten Kuriositäten nur nicht mehr gesammelt oder werden solche verdienstvollen Erfindungen heutzutage nicht mehr eingereicht?
Ich schlug die Mappe zu, beruhigt, meine Erfindung nicht gefunden zu haben. Es handelt sich dabei weder um ein Damenstrumpfband mit Glühbirne noch um eine zusammenklappbare Zahnbürste – das sind unseriöse Spielereien, meine Erfindung setzt unvergleichlich höher an. Sicher ist jedem schon einmal aufgefallen, dass bei Fleischmahlzeiten Knochen übrigbleiben, die zumeist in abgenagter Form auf den Tisch gelegt werden oder aber auf einen dafür vorgesehenen Teller, beides ist gleichwohl kein schöner Anblick. Also habe ich einen Teller konstruiert, der auf seinem Rand eine verschließbare Öffnung aufweist. In diese Öffnung werden die Knochen gesteckt, der Deckel wird geschlossen, und sofort beginnt eine eingebaute Heizvorrichtung, die Knochen zu kochen, anschließend werden dem Knochenfett die einschlägigen chemischen Substanzen beigegeben, das Ganze wird eingedickt, gepresst, und nach Beendigung der Mahlzeit kann so unter dem Tellerrand eine Stück Seife entnommen werden, welchselbiges zum nachfolgenden Händewaschen benutzt werden sollte. Jeder wird zugeben müssen: eine ebenso nützliche wie hygienische Erfindung. Leider weist der Teller aus technologischen Gründen nun einen Durchmesser von mehr als einem Meter auf, doch wo ist schon etwas vollkommen.
Dann gab ich die Mappe ab, und wieder lächelte man hinter dem Schalter. Als ich das Patentamt verließ, war ich mir nicht mehr ganz so sicher, ob ich meine Erfindung schon jetzt zum Patent anmelden sollte. Ich werde sie wohl noch einige Zeit reifen lassen, die Menschheit hat so lange darauf warten müssen, da kommt es auf ein paar Jahre doch nicht an.
Zuerst veröffentlicht: Die Weltbühne, 9. November 1971