Kitabı oku: «Das Blöken der Wölfe», sayfa 5
MEHR ALS GLAUBEN, MEHR ALS HOFFEN
Rede Erlöserkirche Berlin, 28. Oktober 1989
Als vor 18 Jahren Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich 28. Dem Neuen damals wollten viele glauben. Er ermunterte zu Meinungsstreit, doch zeigte sich sehr bald, er hatte es nicht ernst gemeint: die öffentliche Widerrede blieb weiter unerwünscht. Er verkündete, es gäbe von nun an keine Tabus mehr für Kunst und Literatur, doch blieben uns Zensur, Verbot und Vormundschaft. Er referierte über Volksverbundenheit, Lebensnähe, Realismus in der Politik und besah sein Volk am liebsten von Tribünen, wie es, straff organisiert, spontan an ihm vorüberjubelte. Er versprach den Bürgern kühn eine bürgernahe Bürokratie, doch war’s verbal die Quadratur des Kreises, da jegliche Büroherrschaft zum Eigenleben neigt und Sekretär, zum Beispiel, von lat. secretus kommt und abgesondert, geheim heißt. Schließlich hob er ab in Sphären, wohin ihm das unreife Volk, der große Lümmel, auch Massen genannt, nicht zu folgen vermochte, und während er das politische Strafrecht um drei dehnbare Paragraphen bereicherte, rief er seinem Volke munter zu, es habe zu keiner Zeit so frei geatmet wie eben hier und jetzt, unter seiner Führung. Demokratie, sprach er, wir hätten sie schon, die sozialistische, und nannte als Beweis die Mitarbeit in Küchenkommissionen. Die Statistik produzierte Wachstumszahlen, die auf dem Weg nach oben dynamisch schwollen, indes der reale Mangel unten blieb und wuchs. Transparente statt Transparenz. Losungen statt Lösungen. Das alles ist Geschichte, doch unser Leben auch.
Als am 18. Oktober 1989 Rauch aus dem Kamin des Großen Hauses stieg, war uns ein neuer Generalsekretär beschieden und ich 46. Des Neuen Rede geht von lebensnahen Medien, von Dialog ohne Tabus, von Realismus in der Politik. Noch nicht genug, doch einiges ist anders, vor allem eins: Sehr viele sind 18 Jahre klüger. Diesmal wollen sie dem Neuen nicht nur glauben müssen, wollen nicht nur hoffen dürfen, sie bitten nicht, sie fordern: Meinungsfreiheit, Informationsfreiheit, Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit. Und sie misstrauen eilig aufpolierten Worthülsen wie: … die sozialistische Demokratie noch wirksamer entfalten … Noch wirksamer: Als hätte es die schon gegeben. Der alte Apparat greift zur Puderquaste und schminkt die grauen Wangen jugendlich, doch diesmal, sehen wir, lassen sich die Vielen mit Kosmetik nicht besänftigen und fragen nach: nach der Struktur des Staats. Sie fragen friedlich auf der Straße und beharrlich im Diskurs, damit sie künftig mehr als glauben, mehr als hoffen können. Sie wollen wählen, was Auswahl und Abwahl voraussetzt. Und so demonstrieren sie dem bislang allmächtigen Übervater, was er ist ohne seine Kinder, die längst erwachsen sind und mündig: ein einsamer und ohnmächtiger homo hierarchicus. Jetzt hat er die einmalige Chance, herabzusteigen und vom erstarrten Schemen zu einem lebendigen Wesen zu werden. Wir stehen bereit, ihn hier unten herzlich zu begrüßen.
Zuerst veröffentlicht: Neue Deutsche Literatur, 2/1990
DER KRANKE PATIENT
Rede Schriftstellerverband der DDR, 2. November 1989
Der Schriftstellerverband ist krank. Sich selbst paralysierend liegt er mit inneren Krämpfen darnieder. Statt Stimme der Erneuerung zu sein, ist er verstummt. Einzelne Mitglieder sprechen, der Verband aber schweigt. Ein beschämender Vorgang für die Literatur in der DDR, da zu gleicher Zeit ein Volk seine vormals verordnete Sprachlosigkeit überwindet. Der Patient behauptet, nie ernsthaft krank gewesen zu sein, sträubt sich seit Wochen gegen Anamnese, Diagnose und Therapie und wähnt, jeder, der sich seinem Krankenlager nähert, wolle ihn mit der Medizin meucheln.
Dieser Verband sollte an der Spitze der Veränderer stehen, sonst fällt er aus der Zeit. Dass er da nicht steht, ist, wie ich meine, ein Problem seiner unveränderten Spitze. Erinnern wir uns der äußerst zurückhaltenden Resolution vom 14. September 89 hier im Berliner Verband und der Abstimmung darüber. Wer stimmte dagegen? War’s nicht der Präsident, der Bezirksvorsitzende und drei weitere Vorstandsmitglieder? Lesen wir die Verlautbarung des Präsidiums, eine inhaltlich und sprachlich lendenlahme Erklärung, die von den anderen Künstlerverbänden weit überholt ist.
Ich schlage vor, erstens, substanziell zu werden und öffentlich zu erklären, was wir Schriftsteller konkret verändert sehen wollen und wie wir uns einen lebensfähigen und lebenswerten Staat vorstellen. Darin sollten freie Wahlen, Pressefreiheit, Reisefreiheit für alle, Zulassung alternativer Parteien, Kontrolle aller staatlichen Organe, Informationsfreiheit und Abschaffung jeglicher Zensur klar und ohne jegliche Einschränkung genannt sein. Zweitens: Ein außerordentlicher Kongress ist einzuberufen. In Vorbereitung dieses Kongresses sollte eine Statutenkommission gebildet werden, die ein neues, der gewachsenen Reife der Gesellschaft adäquates Statut erarbeitet. Dieser Kommission sollen Mitglieder angehören, die von der Basis direkt delegiert werden. Auf diesem Kongress sollten zudem alle Gremien des Verbandes neu gewählt und das neue Statut verabschiedet werden. Alle sollten der Direktwahl unterliegen. Es geht um eine radikale programmatische, strukturelle und personelle Erneuerung des Verbandes. Er darf nie mehr durch kaderpolitische Verquickung von Parteifunktionen und Verbandsmandaten ein abhängiges Vollzugsorgan einer Partei und ihrer Kulturpolitik sein!
Wer solches sagt, wird schnell des Versuchs der Spaltung bezichtigt. Ein altes Muster. Gewollt aber ist nicht die Spaltung, sondern ein einiger, starker Verband, den wir als kollektiven Interessenvertreter bitter nötig haben werden. Ein Verband, der vordenkt, nicht nachhinkt. Nicht Ende also, sondern Anfang. Nicht Spaltung, sondern Veränderung. Wer aber Veränderung Spaltung nennt, will keine Veränderung.
Nicht alles braucht geändert zu werden. Was gut war, soll gut bleiben. Doch Anachronismen müssen über Bord. Es geht um einen neuen Stil, neue Regularien der Gesellschaft. Ein Beispiel: Unser aller Präsident ging beim „Sputnik“-Verbot zu dem, der das verbot. Oder er erklärte sich bereit, den bedrückenden Fall einer von der Stasi verfolgten Kollegin zu klären: mit Minister Mielke! Erinnert das nicht an die Zeiten geadelter Aufklärer bei Hofe? Ist es nicht an der Zeit, öffentliche und klare Worte zu allem zu sagen, was uns und die Gesellschaft massiv beim Gehen behindert?
Es sind auch die zentralistischen Strukturen dieses Verbandes, die dringend veränderungsbedürftig sind. Wie kommt es, dass einige Kollegen über Jahre und Jahrzehnte, als wär’s ein Erbteil, in den Funktionen sitzen und dafür Sorge tragen, dass sie da sitzen bleiben?
Und noch eins: Wäre heute nicht eine gute Gelegenheit, dass einige der Kollegen, die bei den Ausschlüssen 1979 im Roten Rathaus anklägerische Reden hielten oder vom Präsidiums-Hochsitz aus Wortmeldungen, die nicht ins Regiekonzept passten, verhinderten, wenn wir von diesen Kollegen ein Wort hörten, dass sie inzwischen, möglicherweise, ein wenig anders darüber denken?
Und noch eins: Der Antrag des Aktivs für Literatur und Umwelt zur Abschaffung des Ministerratsbeschlusses, die Geheimhaltung der Umweltdaten betreffend, wo ist der hängen geblieben? Ist der jemals, wie gefordert und beschlossen, der Volkskammerfraktion des Kulturbundes übermittelt worden, oder ist er bereits in der Verbandshierarchie verendet?
Und noch ein Letztes, einige notwendige Bemerkungen zum Büro für Urheberrechte. Ein dubioses Unternehmen. Eine höchst effiziente Einrichtung zum Abschöpfen von Devisen. Lesen wir deren rechtliche Bestimmungen, so sehen wir schaudernd viele Pflichten, wenig Rechte und keine Vertretung vor keinem Gericht. Der Autor erscheint darin als Kind, das einer führenden Hand bedarf. Er muss fragen, ob er sein Geschriebenes an Abnehmer verschicken darf, und das Büro erlaubt es gnädig oder eben nicht, wie es ihm beliebt. Der Autor muss fragen, wenn er einen Vertrag unterzeichnen möchte, das Büro gestattet ihm gnädig oder aber nicht die Unterschrift und macht sie durch diesen hoheitlichen Akt erst eigentlich rechtsgültig, wie es heißt, denn vorher ist sie lediglich rührendes Gekritzel eines noch nicht ganz Volljährigen. Die ausländische, ehrlich verdiente Währung aber darf er nicht nur, er muss sie, per Devisengesetz streng dazu verpflichtet, ans Büro überweisen lassen, worauf ihm dann, welch väterliche Gnade, ein gewisser Teil in welscher Währung zurückerstattet wird. Dabei ist es doch des Autors alleiniges Verdienst und das Büro nicht Ko-Autor. Eher k. o.-Autor, da das Büro die Internationalität der Literatur bürokratisiert, was heißt: zeitlich verzögert, unnötig behindert und unerträglich kompliziert. Zu fragen ist, ob diese Behörde mit diesem Menschenbild noch in die Landschaft passt. Und ich meine nicht nur einen neuen Anstrich und ein neues Schild über der Tür, denn der Name ist, zumindest im ersten Teil, durchaus zutreffend: Büro, also eine Behörde, ein Apparat, in dem eine vormundschaftliche Bürokratie sitzt, auf Bürostühlen, mit Büromöbeln, Bürozeiten und Büroklammern. Der zweite Teil dagegen tritt weniger angesichts des Übergewichtes der Pflichten der Urheber. Deshalb müsste es heißen, wie es etliche Kollegen schon lange nennen: Büro für Urheberpflichten.
Ich ende, was aber nicht heißt, dass schon alles gesagt wäre, was heute und morgen zu sagen ist.
REDE ZU EINEM ÜBERFÄLLIGEN RÜCKTRITT
Rede Akademie der Künste, 8. Januar 1990
Der 7. Juni 1979 war ein schwarzer Tag der Literatur, eine Niederlage der Vernunft, ein Sieg der Politik über die Kunst. Ich wollte damals reden, kam aber nicht zu Wort. Die Regie ließ das nicht zu. Ich wollte gegen die Ausschlüsse plädieren und an die verhängnisvoll klassenkämpferische Position Bechers erinnern, der vor 1933 Heinrich Mann angriff und in die Nähe der Faschisten rückte und der dies wenige Jahre später im gemeinsamen Exil als groben Fehler bekennen musste. Stattdessen sprachen vorbereitete Redner vom sich ständig verschärfenden Klassenkampf, von antikommunistischer Vermarktung, vom Versuch, einen regimekritischen Kreis innerhalb des Verbandes zu etablieren, von verleumderischen Angriffen und Missbrauch der Geduld. Es war die Stunde der ideologischen Chirurgen. Es wurde weisungsgemäß amputiert, doch der Schnitt war nicht die Heilung, es blieb die offene Wunde. Einheit durch Reinheit, hergestellt mit unsauberen Mitteln. Die Folgen solcher Praxis, innerhalb und außerhalb des Verbandes, sind nun offensichtlich.
Ich bin froh, meine Kollegen, die sie immer geblieben sind, heute hier zu sehen und zu hören. Es ist ihre Stunde. Deshalb bitte ich um Nachsicht, wenn ich noch einige, leider notwendige Nachbemerkungen zu einem Rücktritt machen möchte.
Am 15. Dezember 89 gaben 24 Berliner Autoren folgende Erklärung ab:
„Wir haben weder Zeit noch Lust, uns in Abhängigkeit bislang gültiger statutbedingter Amtshandlungen des Schriftstellerverbandes die Chance nehmen zu lassen, überfällige gravierende Veränderungen in diesem Berufsverband zu konzipieren. Wir sehen uns durch den Vorstand des Verbandes, der jüngst Hermann Kant bestätigt hat, in keiner Weise vertreten. Für uns ist Hermann Kant nicht mehr der Sprecher der Schriftsteller der DDR, seit er gegen die auf Veränderung in der DDR zielende Resolution des Berliner Verbandes vom 14. September 89 gestimmt hat.“
Am 22. Dezember 89 verbreitete das Präsidium des SV über ADN folgende Erklärung:
„Hermann Kant hat seinen Rücktritt als gewählter Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR mit Wirkung vom 22. Dezember 1989 erklärt. In einem ADN übermittelten Schreiben nimmt das Präsidium dazu folgende Haltung ein: Es bedauert diesen Rücktritt außerordentlich. Hermann Kant gehört zu den Persönlichkeiten, die sich um den Verband verdient gemacht und die Erneuerung in unserem Land seit langem öffentlich unterstützt und gefördert haben. Dennoch haben wir tiefes humanes Verständnis für seine Entscheidung. Trotz des nahezu einhelligen in geheimer Abstimmung erklärten Vertrauens durch den Vorstand am 7. Dezember des Jahres ist für Hermann Kant der psychische und physische Druck, dem er sich ausgesetzt fühlt, nicht mehr zu ertragen. Die Angriffe gegen ihn, vorgetragen von einer Gruppe Berliner Mitglieder und Kandidaten und unterstützt von einem Teil der Medien, entbehren unseres Erachtens jeder demokratischen Legitimation, weil sie sich gegen die Interessen der großen Mehrheit der Mitglieder richten. Sie gefährden objektiv den Bestand des Verbandes. Dies ist umso fragwürdiger in einer Zeit, wo alle beruflichen und sozialen Sicherungen, die der Verband in Jahrzehnten erkämpft hat, gefährdet sind. Eine Spaltung würde vor allem unsere Kolleginnen und Kollegen mit geringem Einkommen, ebenso die Älteren und Kranken in ihrer Existenz schwer bedrohen. Das Präsidium nimmt die Funktion des Präsidenten bis zur Wahl auf dem außerordentlichen Kongress im März 1990 kollektiv wahr.“
Soweit der Text des Präsidiums. Dem ist Folgendes zu erwidern:
1) Unsere Wortmeldung reagierte auf das beschämende Verstummen des Schriftstellerverbandes im Herbst 89, da zu gleicher Zeit ein Volk das vormals verordnete Schweigen überwand. Sie reagierte weiterhin auf den zunehmend anachronistischen Stil der Interessenvertretung: Noch im September 89 bot der Präsident des SV an, im persönlichen Gespräch mit dem MfS-Minister Mielke den Fall einer verfolgten Kollegin zu klären. In zwei Versammlungen im November 89 sträubte sich der Präsident, der im Juni 1979 bei dem höheren Orts beschlossenen Ausschluss der neun Kollegen als einer der Vordergrund-Regisseure fungierte, gegen ein eindeutiges Schuldeingeständnis. Wahr ist, der Präsident sprach gelegentlich gegen rigide Auswüchse der post-stalinistischen Kulturpolitik. Er fragte nach bei den dafür Verantwortlichen, stellte jedoch das System selbst nicht in Frage.
2) Die Behauptung, wir hätten auf ihn unerträglichen psychischen und (!) physischen Druck ausgeübt, ist so larmoyant wie unwahr und demagogisch.
3) Demagogisch ist ferner der Vorwurf, den Verband spalten zu wollen. Wir wollen die programmatische, strukturelle und personelle Erneuerung des Verbandes, formuliert in dem veröffentlichten 9-Punkte-Vorschlag, den mittlerweile 81 Kollegen unterzeichnet haben. Wer notwendige Veränderungsvorschläge des Spaltungsversuchs verdächtigt, will nicht die Veränderung und provoziert eben dadurch zentrifugale Tendenzen.
4) Dass unsere Wortmeldung jeglicher demokratischen Legitimation entbehre, ist ein argumentatives Fossil aus prädemokratischer Zeit. Wir haben öffentlich unsere Meinung gesagt und unsere Namen genannt, und das ist ein Recht, auf dem nicht nur einige Schriftsteller, sondern alle für alle Zukunft bestehen sollten.
KUNSTLOSE VEREINIGUNG?
Die Politiker in Bonn und Ostberlin haben einen Staatsvertrag geschlossen – und einen Generationenvertrag gekündigt: den über die Nationalkultur. Die Künste und die Künstler haben sie in der Eile glatt vergessen.
Doch auch die wollen sich vermählen. Nicht, weil sie müssten. Weil sie wollen, froh, dass sie nun zueinander können und das viel zu tiefe Wasser überbrückt ist. Immanuel Kant meinte, der Ehevertrag werde durch die körperliche Vereinigung vollzogen. Dazu gehören allemal zwei. Möglichst zwei gleichwertige, unverklemmte und vitale Partner, wenn es denn Spaß machen soll. Nun aber wird, steht zu befürchten, die östliche Braut gar nicht mehr ins gemeinsame Brautbett steigen können, da sie vorher an Schwindsucht verstorben ist. So wird dem westdeutschen Bräutigam nur noch die Grabpflege bleiben.
Die Nationalkultur aber ist ein Kontinuum über Jahrhunderte hinweg, ein Vertrag der Generationen, sie zu bewahren, zu entwickeln und weiterzureichen, und es gibt eine Pflicht der Gegenwärtigen, die zeitgenössische Kultur und Kunst zu pflegen, auf dass sie gegenwärtig überlebe, ihrer Zukunft wegen. Die Deutschen, die sich doch so gern selbst attestieren, eine Kulturnation zu sein, werden sie es auch in Zukunft bleiben oder lediglich Weltmeister des Exports, Konsums und Reisens sein? Wir haben die Wirtschafts-, Währungs- und (etwas leiser gesagt) Sozialunion vollbracht, doch die Kulturunion nicht.
Künste sind nicht bloße Schmuckelemente des Staats. Die Literatur, nur zum Beispiel, ist die Seele der Nationalsprache. Der Staat hat die Pflicht, die Künste zu erhalten, und ergo auch die Künstler, die noch lebenden, versteht sich.
Man hört es von dem neuen Oben unten raunen, die Künstler sollten sich eine Arbeit suchen, als ob ein Bild zu malen, ein Buch zu schreiben, eine Partitur zu setzen keine Arbeit wäre. Und wir, die Künstler, hellhörig aus Erfahrung, hören da schon wieder leise die Töne der Kunstfeindlichkeit.
Übertreibungen? Hier die Fakten: Ab 1. Juli 1990 haben die freiberuflichen Künstler in der Noch-DDR, da sie sinnigerweise steuerrechtlich zugleich als Arbeitgeber und Arbeitnehmer gelten, summa summarum 51,2 Prozent Steuern zu zahlen. Gleichzeitig werden deren Konten halbiert, obwohl die doch nichts anderes als bereits bezahlter Lohn sind. Gleichbehandlung ist gefordert, kein neues Privilegium. Dazu kommt die Halbierung der noch zu zahlenden Raten aus bestehenden Verträgen. Ihre Arbeitsräume werden als Gewerberäume miet-bemessen. Die Arbeitsämter lehnen es ab, sie bei Arbeitslosigkeit zu vermitteln. Dies alles kommt bedrohlich auf sie zu, indes die Verlage ums nackte Überleben ringen, Verträge zurückgeben, Auflagenhöhen minimieren und Programme reduzieren. Und auch die Künstlerverbände als berufsständische Interessenvertreter wissen nicht, wie sie nach der Währungsunion ohne Geld fortbestehen sollen.
So ist die Lage. Und sie ist bedrohlich. Es ist hohe Zeit, Alarm zu schlagen und den Staat dringlich an seine Kulturpflicht zu erinnern.
Ja, ganz recht: Wir sind ein Volk. Aber sind und bleiben wir auch ein Kultur-Volk?
Zuerst veröffentlicht: Sonntag, 8. Juli 1990
WOYZECK IN AMERIKA
Schon auf dem Flug übern Atlantik wird mir die erste Probe abverlangt: Ich habe keine andre Wahl, ich muss vertrauen, ohne zu wissen, ohne zu sehen, ohne mich vergewissern zu können. PANAM-Flug Frankfurt – New York. Das Lächeln der Stewardess, das beruhigen, ermuntern und Sicherheit verströmen soll, ist, weiß ich, angelernt, gilt mir und völlig unverändert allen anderen auch. Standardisierte Zuwendung, die enttäuscht. Vertrauen müssen: die Kopulation der beiden Wörter eine sprachliche Notzucht. Also beschließt der Passagier, vertrauen zu wollen. Doch weiß er, ob der Captain vorn im Cockpit eine erfreuliche oder miserable Nacht hatte in Germany? Ob er den Abend zuvor getrunken hat, vielleicht aus Frustration, verletzter Männlichkeit, im Hotel an der Tür abgewiesen von einer Stewardess? Vielleicht aus Ärger, der zu Hause drohend auf ihn wartet? Oder ist er krank, lebensmüde, übersieht er etwas auf den Armaturen, ignoriert er tollkühn irgendeine Warnung? Die schwarzen Phantasien galoppieren. Weiß der Fluggast, weiß ich, wann die Boeing das letzte Mal gewartet wurde, ob die strapazierte Außenhaut nicht bereits spröde ist, womöglich schon feine Haarrisse hat, die sich im Lauf des Fluges weiten, bis …? Weiß ich, ob die tausend Schrauben, Nieten, Rohre, Kabel intakt sind und an Ort und Stelle? Oder ob im Packraum in einem der aufgegebenen Koffer eine Bombe tickt? Ob unter den arabischen Passagieren ein fanatischer Fundamentalist ist, der mitten im Flug aufsteht, nach vorne geht und die Boeing, dieses verwundbare Inkarnat der Ungläubigen, als Geisel nimmt samt mir zum Ruhme seines Gottes und zu seinem eigenen Ruhm im Heiligen Krieg? Oder ob, viel simpler, jemand seiner Verdauung wegen auf der Toilette raucht, die noch glimmende Zigarette achtlos zum Knüllpapier wirft, und es zum Schwelen und Brennen, zu Knall und Fall kommt mitten über dem Atlantik? Nichts davon kann wirklich ausgeschlossen werden, und eben deshalb heißt es vertrauen. Um mich die Gesten und Gesichter zeigen je nach Temperament Flugroutine, Gleichgültigkeit, gespielte Ruhe, ablenkende Geschäftigkeit: Der rudimentär noch vorhandene Herdeninstinkt signalisiert mir Abwesenheit direkter Gefahr. Und doch bleibt ein Unbehagen, ein misstrauisches Wittern, ein ungezielter Argwohn in dem gleichmäßigen Dröhnen und Rauschen. Die Technik schnellt uns quer durch den Himmel über den Ozean, und je mehr Technik unser eher bescheidenes physisches Vermögen potenziert, je mehr künstliche Geschwindigkeit unser natürlich beschränktes Leben beschleunigt, desto weniger vermögen wir zu durchschauen, was wir benutzen, desto mehr müssen wir uns Verborgenem anvertrauen, da wir’s nicht wittern, prüfen, kontrollieren können. Wie wenn die Natur aus ist, sagt Woyzeck, dem ich in Amerika wieder begegnen werde, Woyzeck, der in seiner anonymen Angst über die Bühne hetzt und sie zu fassen, sie zu beschreiben sucht: Wenn die Natur aus ist, das ist, wenn die Natur aus ist. Wenn die Welt so finster wird, dass man mit den Händen an ihr herumtappen muss, dass man meint, sie verrinnt wie Spinneweb. Das ist so, wenn etwas ist und doch nicht ist, wenn alles dunkel ist und nur noch ein roter Schein im Westen, wie von einer Esse …
Und dann erlösend der amerikanische Zauberberg: das College auf dem Hügel unterm blauen Himmel von Vermont. Staat der grünen Berge, der klaren Seen, der reinen Luft und der wilden Wasserfälle. Ein Ort, so dachte ich, gekommen aus dem einen deutschen Staat, der sich eben jetzt für immer aus der Weltgeschichte verabschiedet, ein idealer Ort, um Verletzungen zu heilen, deren eine missbrauchtes Vertrauen ist. Ein geschützter Ort, fernab der heimatlichen Wirren, um ruhig und möglichst ganz abstrakt darüber zu meditieren, was das war, was es ist und künftig sein könnte: Vertrauen. Zu fragen, ob wir überhaupt irgendeiner Sache außer uns gewiss sein können? Was heißt hier: außer uns? Sind wir unser selbst denn sicher? Und zu ahnen, dass diese Unsicherheit offenbar sehr nahe dem Vertrauen siedelt. Ein funzeliges, blakendes Licht, das mir da unversehens aufgegangen ist, das aber, fürchte ich, mehr Schatten wirft, als dass es wen oder was erleuchtet.
Der Zufall, der notwendige, will’s, dass ich auf dem Campus unter den neuen Kollegen eine alte Bekannte treffe: ein Stück DDR selbst hier, unsere gelebte Geschichte, der wir nicht entkommen, selbst auf dem fernen, abgehobenen magic mountain nicht. Ich erinnere, sie verließ das Land vor Jahren, weil ihr nachgestellt worden war von jenem monströsen Kraken, der seine schmierigen Tentakel in jeden Winkel des Landes bohrte, bis in die Schlafzimmer hinein. Noch als sie dieses Land bewohnte, erzählte sie, ihre Post würde geöffnet, ihr Telefon abgehört, in den Wänden steckten Wanzen, Manuskripte verschwänden, sie würde physisch bedroht und gar überfallen und geschlagen, und sie würde, dies das Übelste und letzter Auslöser ihrer Flucht, als Frau verleumdet, sich mit hochrangigen Polit-Potentaten eingelassen zu haben: Bettgeschichten der undelikaten Art. Und sie erzählte es laut, sehr laut, so laut, dass es auch die hörten, denen sie es nicht erzählte. Denen, die sie näher kannte, erklärte sie, sie sei, naiv und gläubig aufgewachsen in einer staatstreuen und staatstragenden Funktionärsfamilie in südlicher Provinz, noch als Schülerin geworben worden von ebenjenem Kraken, den sie aber damals für eine Art Gralsritter mit Tarnkappe hielt, eine märchenhafte Lichtgestalt in geheimnisvollem Dunkel, gestreng zwar, doch gerecht, sorgend für Ruhe und Ordnung, Frieden und Sicherheit, und sie habe ein Papier unterschrieben. Jahre später, nun Studentin schon, habe man sich auf ihre Unterschrift berufen und gefordert, sie solle nun ihre frühere Zusage einlösen und als Inoffizielle Mitarbeiterin fungieren. Man lockte mit Geld und anderen meist raren Dingen, stellte ein beschleunigtes Avancieren in Aussicht, und drohte, falls sie sich etwa weigern wolle, sie könne dann nichts werden, absolut nichts. Sie aber habe Nein gesagt, definitiv: Nein. Das erzählte sie, und man bedachte wohl, dass in solchem Falle, wenn überhaupt etwas, einzig hemmungslose Geschwätzigkeit vor den verdeckt arbeitenden Herren schützen kann, erinnerte sich aber auch, wie sie als junges Talent im Übermaß gefördert worden war und wie sie willig, ja enthusiastisch Texte vorgetragen hatte, die das Bestehende hymnisch priesen. Nach jenem Nein nun hätten die Repressalien gegen sie begonnen, und zwar mit einer perfiden Doppelstrategie, indem man parallel dazu das Gerücht in Umlauf setzte, sie litte unter Verfolgungswahn, weshalb die Nachstellungen und Überfälle einzig ihrer verwirrten Psyche entsprungen seien. Und dann schwollen die Gerüchte vielstimmig an, sie habe mit diesem und jenem …, sei eine Polit-Mätresse gehobener Kader, detaillierte Schweinereien. Dagegen habe sie nichts machen können, wie jeder gegen Rufmord machtlos sei, und habe das Land verlassen. Das sei die Wahrheit, die reine, ich solle ihren Worten trauen.
Was ich wirklich möchte, zumal ich eben mit Schaudern las, wie mächtig der Krake war, wie vielarmig, skrupellos und hinterhältig. So las man nach seinem Ende in den Medien die Geheime Verschlusssache Richtlinien über die Zersetzung oppositioneller Gruppen und Personen und unter dem Punkt Zersetzungsmaßnahmen dies: Systematische Diskreditierung des öffentlichen Rufes, des Ansehens und des Prestiges auf der Grundlage miteinander verbundener wahrer, überprüfbarer und diskreditierender sowie unwahrer, glaubhafter und nicht widerlegbarer und damit ebenfalls diskreditierender Angaben, dazu das Erzeugen von Misstrauen und gegenseitigen Verdächtigungen sowie die Verwendung anonymer oder pseudonymer Briefe, Telegramme, Telefonanrufe usw., kompromittierender Fotos, zum Beispiel von stattgefundenen oder vorgetäuschten Begegnungen und schließlich die gezielte Verbreitung von Gerüchten über bestimmte Personen, und am Schluss dieses widerlichen DDR-Dokuments aus dem Jahre 1976 steht, dass diese Mittel schöpferisch und differenziert anzuwenden, auszubauen und weiterzuentwickeln seien. Schöpferisch, dies wörtlich.
So war das, und es war nicht bloße Theorie. Da haben wir gelebt, der eine so, der andere ein wenig anders, doch alle unter dieser Fuchtel. Die uns krümmte, die Täter wie die Opfer. Die uns die klare Sicht nahm in einem alles durchdringenden gesellschaftlichen Nebel. In dem die Konturen von Täter und Opfer verschwammen. In dem Schweigen und Dulden, Wegsehen und Weghören, ein bequemes, wenn auch lustloses Einverständnis das System erhielt, bis ihm dieses massenhafte Einverstandensein entzogen wurde und es zur Verwunderung aller sang- und klanglos in sich zusammensank, so als habe jemand das Ventil eines aufblasbaren Gummitieres geöffnet. Leben in einem Klima, in dem die bewusst verbreitete Unsicherheit der Staatssicherheit ein Instrument der Herrschaft war und der Spruch Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser eines der zentralen, zynischen Ideologeme. In dem das geschürte Misstrauen eines jeden gegen jeden Staatsdoktrin war – und eine Krankheit in uns allen, chronisch, da unbehandelt, ständig zum Ausbruch bereit, da die Erreger in der Luft zum Atmen schwebten, mit Blicken, Gesten, Händedruck, ja Kuss übertragen wurden, in die Köpfe stiegen und die Herzen versteinten, ein schleichendes, atmosphärisches Gift, eine landesweite Luftverschmutzung, poststalinistischer Smog, der flächendeckend über allem lag.
Nun hat sie mich wieder, die Vergangenheit, von der ich weiß, dass ich ihr, selbst wenn ich wollte, nicht entkomme, auch hier nicht in Amerika. Nur ein paar Tage Ruhe wollte ich in diesem Land, an dessen Brücken die gesprayten Graffiti keine politischen Parolen zeigen, sondern nicht selten dies: Trust Jesus. So einfach könnte alles sein. Ein Vergessen und ein neuer Glaube, was gegenwärtig viele meiner Landsleute praktizieren, die das höchst Unangenehme, sich selbst zu befragen, vermeiden wollen – und mit eben dieser bewährten Art kollektiven Verdrängens nicht vermeiden werden, die Übel der Vergangenheit in die Zukunft zu transplantieren. Sie meinen, sie wären geheilt, und sind doch nur schmerzfrei, weil betäubt. So einfach könnte das sein auf dem Campus von Middlebury in Vermont, diesem grünem Hügel der Seligen, der gepflegt und rein und reich ein geschützter Ort ist für alle, die hier lernen, lehren, ein Ort von einer Sauberkeit, die fast klinisch ist, bewohnt von reinlichen, freundlichen, hochintelligenten und hochmotivierten Studenten, die in den Pausen über die grünen Wiesen eher wandeln als gehen und dabei französisch, spanisch, russisch, deutsch, chinesisch, italienisch, japanisch plaudern, die nicht schreien, pöbeln, rempeln, streiten, die auch von Erotik nichts spüren lassen, fast geschlechtslos und unisex in ihren Knieshorts, T-Shirts und Reebok-Turnschuhen, engelgleich, Mädchen wie Jungen, in Reinheit schweben, vergeistigt nahezu, dabei nicht etwa blässlich oder streberisch verklemmt, von einer selbstauferlegten Disziplin des Lernens, mit einer nicht erzwungenen Akzeptanz der Regeln, sieben Wochen ausschließlich die gewählte Fremdsprache zu sprechen, weder Zeitung zu lesen noch Radio zu hören oder fernzusehen. Sie sind von einer nahezu klösterlichen Sanftmütigkeit, die angenehm ist und doch etwas vermissen lässt – vielleicht die Rebellion der Jugend. Für alles ist gesorgt, für Essen, Telefon, Computer, Freizeit, aus einem Fenster perlt Vivaldi, einer skandiert im Gehen Klopstocks „Frühlingsfeier“, am Abend hat Büchners „Woyzeck“ Premiere, und übern Campus fährt im Schritttempo die unbewaffnete, freundlich grüßende College-Security, und man tritt auf die Straße in Gedanken und kann darauf vertrauen, dass alle Autos halten, ohne Hupen und Bremsenquietschen und ohne dass jemand wütend brüllt. Ein abgehobener Ort, eine wolkig weiche Enklave des Lernens, ein friedliches Biotop, dem man sich anvertrauen kann, eine unaufdringliche, weitläufige Obhut, die nicht die Geborgenheit des Käfigs ist, nicht die des Stalls, in dessen Enge und Dunst ich bis vor Kurzem lebte.