Kitabı oku: «Das Blöken der Wölfe», sayfa 8

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24.1.83

Heute im Verlag gekündigt. 14 Jahre als Lektor und Herausgeber zu Ende. Verlagsdirektor T. verweigert mir die notwendige Unbedenklichkeitserklärung für meine Studienreise nach Stuttgart, obwohl er letzten Montag sagte, er würde kein Junktim zwischen der Reise und dem schwebenden Disziplinarverfahren herstellen. Er steht unter Druck, involviert ist die Zensurbehörde, die sich bloßgestellt sieht, und der Sicherheitsbeauftragte der Blockpartei, die sich liberal nennt. Ich sage (und hoffe insgeheim, er wird mich überreden zu bleiben), dass ich bei diesem Junktim kündigen müsse. Bitte, sagt er, gib mir das schriftlich, ich unterschreib sofort. Beim Unterschreiben sagt er, er anerkenne meine Konsequenz, ruft aber später im Schriftstellerverband an und sagt, ich sei noch bis 10.2. Angehöriger des Verlags. Meine Reise sollte am 7.2. beginnen.

10.2.83

Ab heute „freier“ Autor. Die Kündigung hat nichts genützt. Nun sieht sich der 1. Sekretär des Schriftstellerverbandes H. außerstande, meine Reise zu befürworten, solange die Sache nicht geklärt sei. Auch dort das falsche, doch konzertierte Spiel. Ich hab’ das alles gründlich satt, denke an innere Emigration, Rückzug aufs Land. Wie Arnim 1815.

7.12.83

Lesung in Westberlin. Dieses unnormale Gefühl von Normalität, dieses schlechte Gewissen wegen des Reise-Privilegs. Hier wie dort heimatlos. Nach einem Gespräch mit einem West-Verleger die Sicherheit, dort nicht leben und schreiben zu können, der Sog zurück, wo niemand nichts von mir wünscht. Hier die Friedhofsruhe, dort das Marktgeschrei, das Buch als Ware. Zwischen den Welten: im Riss, die Brust offen. Die Lehre der Evolution: Anpassung. Aber wie, ohne als Claqueur missbraucht zu werden? Mit Ironie, die meine Trauer clownesk verdeckt?

2.3.84

Termin im Büro für Urheberpflichten. Mein Antrag zur Genehmigung einer Simplizius-Adaption für den SDR Stuttgart wird abgelehnt, in Absprache mit dem Bücherminister und dem DDR-Rundfunk. Die Stelle, die vorgibt, keinerlei inhaltliche Fragen zu entscheiden, empfiehlt mir, den Inhalt so zu überdenken, dass dieses Hörspiel in der DDR machbar ist. In der gegenwärtigen Exposé-Fassung sei es politisch nicht zu verantworten. So werden Projekte im Keim vernichtet, dabei immer die latente Drohung: nichts mehr veröffentlichen zu können.

17.4.84

Rückzug aus Berlin. Einzug in Mecklenburg. Das Haus auf dem Feld – ein Ort zum Bleiben, Überleben, fernab der betriebsamen Sinnlosigkeiten, des Rennens gegen Mauerbeton, vergeblich, wunden Kopfs. Die Arbeit ist schwer, doch es wird, es wird. Über mir kreist ein sowjetischer Hubschrauber wie eine dynamitgefüllte, geflügelte Kaulquappe. Ich säe trotzig Möhren. Als ob das hülfe.

1.2.85

Der Staat als Übervater. Er mag die braven Kinder um seiner Ruhe willen, den frechen droht er mit dem Finger, die hartnäckigen verstößt er. – Seine angemaßte Omnipotenz: Er, der allein die Mittel hat, die Giftgehalte in Luft, Wasser und Boden zu messen, erklärt die Daten zur geheimen Verschlusssache, enthält also den Menschen die Daten vor, die sie unmittelbar, vital betreffen, zu seinem, nicht deren Erhalt. Er nimmt sich das Recht: treffender ist diese Herrschaftsform nicht zu benennen.

14.2.85

Eine abblätternde Losung auf einer Barackenfront: Der Sozialismus siegt! Das Provisorium suggeriert Ewigkeit und pfeift im Keller. Sympathie, wachsend, für die Anarchisten: Solange das Hierarchische, das horizontal nicht Vernetzte, sondern sich vertikal Aufgipfelnde bestehen bleibt und in verratenen Revolutionen lediglich umgewälzt, aber nicht strukturell verändert wird, muss dieses menschenverschlingende Spiel, das sich Geschichte nennt, als solches demaskiert werden. Um der Menschen, der Opfer willen. Wenn ich sehe, wie pyramidaler Zentralismus überall über Menschen entscheidet, wie die Entscheider nichts befähigt als ihr mehr oder weniger gekonntes öffentliches Schauspiel (wenigstens einer der Lebenden ist Profi: Ronald Reagan), wie die Beherrscher der Menschen und ihrer eigenen Mienen Mimen sind, jedoch nicht auf harmloser Bühne, sondern realiter mit den sichtbar katastrophalen Folgen (Umwelt, Dritte Welt, Rüstung), wie sie Macht erringen und erhalten, wofür Ressourcen verbraucht, Menschen geopfert werden und gar Kriege stattfinden, wenn ich dies sehe, denk ich, es müssten Verhältnisse her, in denen es niemanden mehr gelüstet, Macht zu haben, weil dies zu gefährlich geworden ist: für den Mächtigen.

29.5.85

Heute etwa 50 Wurzeln einer wuchernden Pflanze in einem Umkreis von 500 Metern eingegraben. So mit dem Spaten außerhalb des Gehöfts umherzuschleichen und der Natur in ihrem Überlebenskampf zu helfen, hatte etwas Närrisches und Subversives.

18.11.85

Provinz, Provinz! Es scheint, als ob der Rückzug aus der sogenannten Großen in die Kleine Welt in seiner Bescheidung weniger Einschränkung denn Erweiterung bedeutet. Der ruhigere und genauere Blick auf die Natur des Wechsels, auf diesen Mikrokosmos eröffnet tiefere Perspektiven in den Makrokosmos, manchmal, selten. Letztlich hingen nach einem Regen an der oberen Querstange des Zauns Tropfen. Sonne brach durch und ließ die Tropfen diamanten blitzen. Eine kurze Zeit, ermöglicht durch einen bestimmten Einfallswinkel der Sonne, vergänglich wie der Tropfen selbst. Was andres ist menschliches Leben in kosmischen Zeiträumen, zufällig wie Tropfen und Sonnenstrahl, aufleuchtend und vergehend wie das diamantene Gleißen, wertvoll durch Unwiederholbarkeit, von einer Schönheit, deren Glanz nur in der Kunst andeutungsweise widerscheint?

2.1.86

Ein Traum. Mein Hinrichtungstermin ist auf 6 Uhr des nächsten Morgens festgelegt, ohne Angabe von Gründen, verhängt von einem anonymen Staat. Ich versuche verzweifelt, die wenigen Stunden sinnvoll zu nutzen, doch fällt mir in der Lage nichts Sinnvolles ein. Beim Erwachen der Schrecken über den Leviathan, des Gottes, der sich selbst inthronisiert hat und nicht sterben will. Wie überirdisch steht das staatliche Prinzip über allen und allem, führt ein abgehobenes, abstraktes Dasein und übt konkret Macht aus, die jedoch von den Vollziehenden des Apparates unabhängig ist. Er verteilt, analog zu Gottes unerforschlichen Ratschlüssen, Lob und Tadel, fasst Beschlüsse, die zu begründen er nicht verpflichtet ist, verhängt Strafen bis hin zur Todesstrafe (dies eine seiner ungeheuerlichsten Monstrositäten), reißt Völker in Abgründe, die seinem Überleben dienen. Und doch ist kein einzelner Vollstrecker des staatlichen Willkürwillens persönlich dafür verantwortlich: Dies zeigen die Schwierigkeiten, führende Staatsverbrecher als Schuldige in den großen Weltprozessen zu verurteilen – immer gibt es den Befehlsnotstand, und selbst bei den Ersten Männern gab es Zwänge, die ihnen keine andere Wahl ließen. Vergeblich, einen Schergen eines beliebigen Systems moralisch zu verurteilen, da sein Tun von ihm unabhängig einem höheren Prinzip, dem staatlichen, untergeordnet ist, das, gleich ob er wollte oder nicht, vollzogen werden muss, wenn nicht von ihm, dann von einem anderen, und einer findet sich immer. Das Verweigern des Einzelnen hält diese selbstlaufende Mechanik nicht an.

13.8.86

25 Jahre Mauer. Steinernes Sinnbild einer Herrschaftsform, einer Denkungsart. Leben am anus mundi.

26.2.87

Der Gerontologe Gorbatschow versucht den sklerotischen Koloss zu verjüngen. Er als Gejagter, der nicht viel Zeit hat. 70 Jahre Zentraldiktatur hat die Menschen unschöpferisch, lethargisch werden lassen. Nun steht der Käfig halb offen, doch sie wollen nicht fliegen, sie glauben’s nicht, haben Angst, haben das Fliegen verlernt. Wenn der gute Zar Gorbatschow am apathischen Apparat scheitert, ist der Sozialismus fürs erste passé. Ohne Demokratie keine Kreativität. Sklaven verweigern die Leistung, zu Recht. Nun erzwingt die Stagnation Wandel, bei Strafe des Untergangs. Es ist ein Nachholen, noch immer keine Neuerung. Gorbatschow gebraucht dramatische Worte. Nichts davon in den DDR-Medien, diesem täglichen Trauerspiel. Die politbürokratische Überheblichkeit: Wir hätten keinen Nachholbedarf in Sachen Demokratie, bei uns, so Honecker, sei die bereits verwirklicht, so beispielsweise bei der Mitarbeit in Küchenkommissionen, wörtlich, ernsthaft, schamlos. Er brüstet sich mit ökonomischen Erfolgen, der reale Mangel indes bleibt. Das Volk wird nicht befragt, nicht informiert, es darf Ergebenheit ausdrücken. Das Volk als Wink-Element. Wieder das Erstarren, das Sträuben gegen Neues, die Furcht vor Veränderung. Nur gezwungen und gestoßen bewegen sich die neokonservativen Führer einen Trippelschritt vorwärts. Zukunft hat das nicht. Die DDR als faradayscher Käfig: unter ihm geschützt sitzen die Informationsmonopolisten und leiten die Perestroika-Blitze aus dem Osten ab. Ein neuer betonierter Provinzialismus – der real pervertierte Sozialismus.

17.7.87

Die DDR schafft die Todesstrafe ab, der Staat verzichtet auf ein Machtmittel: die Anmaßung, rechtmäßig zu töten. Nun müssten weitere Schritte folgen. Verzicht auf das zentralistische Administrieren. Außerdem gibt es eine Amnestie: ein Gnadenakt der alten Art. Nicht Gnade, sondern Rechtsstaatlichkeit ist nötig. Und das Abschaffen der Honecker-Strafrechtsparagrafen Hetze, Verbindungsaufnahme etc., dieser Gummi-Paragrafen, die machtpolitischer Willkür alle Möglichkeiten geben. Aber nichts davon.

27.12.87

Der Mensch, Nutznießer und Opfer seiner erhöhten Produktivität, sieht sich immer weniger imstande, den Selbstlauf der Prozesse zu steuern. Sein Tun ist immer weniger freiwillig, freie Entscheidung zum Fortschreiten. Es ist ein zwanghaftes, zwangsläufiges Vorwärtshasten, eine Flucht nach vorn, ein Zug ohne Bremse, ohne Möglichkeit des Aussteigens, das Tempo ist zu hoch. Es sei denn, er verzichtet aus Einsicht, er findet für sich neue Werte. So aber wie bisher isst er den Apfel Erde, auf dessen Schale, von dessen Fruchtfleisch er lebt, selber auf. Die instrumentelle Vernunft hat sich schneller entwickelt als die Moral, die Technologie schneller als die Ethik: Daraus ergibt sich unsere Hilflosigkeit gegenüber der selbstgeschaffenen Bedrohung.

16.3.88

Gestern in „Panorama“ ein übergelaufener Stasi-Fotograf. Er zeigt auch ein Foto von mir: bei der Lesung zur 1. Friedenswerkstatt in der Erlöserkirche. Das Engagement für den Frieden verdächtig: Verdacht wohnt stets im schuldigen Gemüt (Shakespeare, Hamlet).

2.7.88

Der DDR-Problemberg wächst ökonomisch, ökologisch, innenpolitisch, die Perestroika-immune Führung verhindert erfolgreich deren öffentliche Diskussion, weshalb die Leute, die systemimmanente Veränderungen anstreben, den Konsens, nicht die Konfrontation, zunehmend unglaubwürdig werden. Ihre Kritik bleibt hinter der Schärfe der Widersprüche zurück, gerät in den Ruch des Konformismus. Beispielsweise sagt die unabhängige Öko-Bewegung das Notwendige, wird aber in die Nähe der Staatsfeindlichkeit manövriert, während wir im Schriftstellerverband unserer Kritik ein Halten-zu-Gnaden anhängen.

20.11.88

Der „Sputnik“ wird verboten. Statt Öffnung – Abschotten. Honecker hängt gleichentags Ceausescu, dem Großen Conducator, den Karl-Marx-Orden an. Eine Provokation des Volks. Außerdem werden fünf sowjetische Filme verboten: verzweifelte Defensive der Gerontokraten?

21.11.88

Besuch in Leipzig. Kein Zug pünktlich. Zugeschissene, stinkende Toiletten. Fabrikgebäude, die wie Ruinen aussehen. Verfallende Stadtviertel, schrundige Fassaden, löcherige Straßen, keine Taxis, Dreck, Barackenkultur, das allgegenwärtige Grau: die real existierende DDR, demoralisierend. Und das täglich den Bewohnern dieser einst schönen und vitalen und intakten Stadt. Wann endet deren engelhafte Geduld?

6.6.89

Nach fünf Monaten Gastprofessur in den USA wieder in der DDR. Erster Eindruck: eklatanter Widerspruch zwischen Ideologie und Realität. Alles klein, abgeschabt, die Gesichter mürrisch, das Land zurückgeblieben provinziell, abgehängt von der Welt. Ein Schock die Berichterstattung des ND über das Massaker der alten Männer an den chinesischen Studenten, Überschrift: Volksbefreiungsarmee Chinas schlug konterrevolutionären Aufruhr nieder. Widerlich. Und gefährlich: Es ist die Warnung ans Volk der DDR: Wir schießen auch, wenn …

12.9.89

Tausende verlassen über Ungarn die DDR, ein Trabi-Treck gen Westen. Die DDR-Oberen und deren Presse bewältigen das Problem wieder einmal sprachlich, man spricht von Hetzkampagne, Lüge, organisiertem Menschenhandel und von – Verführten. Hier zeigt sich das autoritäre Menschenbild der Partei: Die Bürger als unmündige Kinder, die vom Bösen Mann verführt und missbraucht werden. Die Partei als Erziehungsberechtigter und Vor-Mund. Als hätten die Menschen nicht selbst entschieden. Agonie, Lähmung, wirklichkeitsverleugnendes Wortgerassel. Honecker krank: Der Apparat läuft weiter, ohne die Realität zur Kenntnis zu nehmen. Zentralistische Verantwortungslosigkeit. Der Unmut wächst. Stimmung wie vor Gewitter.

14.9.89

Versammlung des Schriftstellerverbandes Berlin. Die Regie der Funktionäre klappt nicht mehr, sie isolieren sich selbst: Sie erreichen 5 Gegenstimmen bei der äußerst zurückhaltend formulierten Protestresolution. Wären heute Wahlen gewesen, sie wären aus ihren Funktionen. Stolz auf meine Generation: Von da kommt jetzt das Substantielle. Optimismus des Veränderns. Das lustvolle Erlernen demokratischer Umgangsformen. Die verblüffte Lähmung der überstimmten Dauerfunktionäre.

21.9.89

Traum. Speisesaal eines Gefängnisses. Ich bin zum Tode verurteilt einer Unterschrift wegen. Ein Mädchen, verurteilt wie ich, lächelt mich an, kommt, liebt mich unterm Tisch, sagt: Es war nie schöner als mit dir, mein Einziger. Geht zum Nächsten, lächelt ihn an, liebt ihn, sagt: Es war nie schöner als mit dir, mein Einziger. Es ist kein Verantwortlicher da, alle zu Hause, alt, krank, ich frage, wann meine Hinrichtung sei. Es antwortet ein Baby, das in einem Körbchen liegt, hinter ihm die Amme mit dicken, bloßen Brüsten. Es sagt, schrill und dünn: So schnell wie möglich, also morgen früh um vier. Ich überlege, ob ich die anderen Verurteilten zum Widerstand gegen die lächerliche Baby-Gewalt auffordern oder das Baby, das sich als Stellvertreter des stellvertretenden Gefängnisdirektors bezeichnet, um eine Schreibmaschine bitten soll. Da sehe ich, das Baby schläft mit geschlossenen Augen und offenem Mund. Es ist die Amme, die spricht: eine Bauchrednerin. Ich weiß, ich habe keine Chance.

2.10.89

Die Lage spitzt sich zu, die Massenflucht geht weiter. Krenz umarmt in Peking den fünfundachtzigjährigen Schlächter vom Platz des Himmlischen Friedens, Honecker bereitet den 40-Jahre-Jubel vor, die Stimmung im Volk ist depressiv bis aggressiv. Die Politgerontokraten klammern sich an die Macht, die, so Mao, aus den Gewehrläufen kommt. Dies die Gefahr, die Drohung.

23.10.89

Mittwoch, 18.10., endet die Honecker-Ära, glanzlos. Die DDR gärt: Massenflucht und Massendemonstrationen, überall werden Resolutionen verfasst, in denen gefordert wird, nicht mehr gebeten. In dieser Lage reagiert die Partei. Der neue Generalsekretär Krenz, „gewählt“ wie in Rom: Rauch aus dem Kamin des ZK-Gebäudes, der neue Papst. Drei (3) Leute werden ausgewechselt, nicht mehr, alle andern bleiben. Krenz im Fernsehen: ein mieser Mime, schmeichelt sich dem Volk an mit wölfischer Stimme, die Kreide fraß. Die Presse ändert ihren Ton, will, dass die Leute von der Straße kommen, bietet den Dialog an. Die Sprache ist verräterisch: „… die sozialistische Demokratie noch wirksamer entfalten …“ – als hätte es die jemals gegeben, „… die Medien noch lebensnaher gestalten …“ – als wären sie je lebensnah gewesen, noch mehr, stärker als bisher, vor allem mehr arbeiten – als läge es daran, dass die Wirtschaft krankt. Zu hoffen ist, das Volk lässt sich diesmal nicht wieder betrügen und besteht auf strukturellen Änderungen.

4.11.89

Die erste freie Großdemonstration auf dem Alex. Transparente mit knallharten Forderungen und kreativem Sprachwitz. Das Volk auf der Straße erzeugt den Veränderungsdruck. Eine Dynamik ist im Gange, an die niemand vor drei Monaten geglaubt hätte.

5.11.89

Das Volk erzwingt politischen Wandel. Die letzten Wochen, Tage spannend wie ein ganzes Jahrzehnt. Die Politbürokraten mit dem Rücken zur Wand, sie aber texten: Mit dem Gesicht zum Volke. Wohl wahr. Noch einmal die Lust des Veränderns, noch einmal Aufbruch und Hoffnung. Ein Volk findet seine Würde und Stimme wieder. Der Reform-Zug beschleunigt, die alte Partei rennt ihm außer Atem nach. Wer weiß, auf welchem deutschen Bahnhof die Reise endet.

29.11.89

Am Morgen im Roten Rathaus, unabhängiger Untersuchungsausschuss. Die Schuldigen lügen massiv, vertuschen, haben nichts gesehen, gehört, getan, sind vollkommen unschuldig. Wie gehabt. Der andere Teil der Wahrheit: die Post-Stalinisten ducken sich ab und versuchen, sich und die alten Mechanismen über die Runden zu retten.

10.12.89

Die kulturellen Deformationen. Der real pervertierte Sozialismus hat gewachsene Kunst vernichtet, doch keinen neuen Stil geschaffen. Die Städte verkommen, zerstört durch einen Krieg des schlechten Geschmacks. Auf dem Land die über Jahrhunderte gewachsene Infrastruktur nach 45 und bei der Zwangskollektivierung vernichtet, ersetzt durch provisorische Barackenarchitektur. Beschädigt auch die Alltagskultur: die Sprache, die Umgangsformen, die Kultur des Streits.

21.12.89

Ceausescu nannte gestern sein demonstrierendes Volk Konterrevolutionäre und Faschisten. Unser Sprachsensorium ist geschärft. Vor Wochen noch nannte man bei uns das demonstrierende Volk Staatsfeinde, Mob und Abschaum, die Munition war ausgegeben, Pläne für Internierungslager und schwarze Listen waren fertig. Uns blühte eben jener himmlische Frieden, der jetzt in Rumänien wütet. War der Conducator bislang nur lächerlich, ist er nun blutig, ein anachronistisches Monstrum, behängt auch mit zwei Karl-Marx-Orden dieses Landes. Wir, die wir nur knapp seinen Brüdern im Geiste entgangen sind, fordern von der Regierung, den Mörder öffentlich einen Mörder zu nennen.

15.1.90

Besetzung, Begehung des Hauptquartiers der Stasi in der Normannenstraße. Die Tore wurden von innen geöffnet, und die Menschen liefen durch das riesige Objekt, Stolz und Unglauben in den Gesichtern.

22.2.90

Der Stoff der nächsten Jahre: die Trauerarbeit, die Frage nach der Mitschuld. Was hätten wir wissen, erkennen können? Warum vermieden wir die konsequente Analyse? Aus Furcht, das Verderbte, aussichtslos Misslungene illusionslos zu konstatieren, weil wir uns dann hätten moralisch entscheiden müssen: zu Widerstand oder Flucht. Der Selbstbetrug, der bequeme, an die Lernfähigkeit des Totalitarismus glauben zu wollen. Die hilfreiche Illusion von der Aufklärung der Macht durch Vernunft. Das kindliche Festhalten an einer Utopie aus dem 19. Jahrhundert, die schon 1930 in der Sowjetunion pervertiert worden war. Das Abstumpfen des Gewissens angesichts deutlichster Zeichen: Wahlbetrug, Totalüberwachung, Machtarroganz. Das Wissen ohne Folgen, das Hinsehen, ohne zu reden, das geflüsterte Murren, kein lauter Protest. Psychologisch ein Verdrängen, ethisch ein Versagen, politisch ein Stabilisieren. Wie uns, wie mir das geschah, diese Geschichte ist schreibend zu erkunden, zu erkennen.

Zuerst veröffentlicht: Der Morgen, 1. September 1990

VOM KULT ZUR KULTUR
1

„Berlin ist das Letzte. Der Rest ist Vorgeschichte. Sollte Geschichte stattfinden, wird Berlin der Anfang sein.“ Was wie ein althochdeutscher Zauberspruch klingt, ist von Heiner Müller und vor Jahren erst geschrieben.

Die Mauer fiel und begrub unter sich den Staat, den sie schützen sollte vor den eigenen Bürgern. Berlin, die Rose aus Zement, hat sich des Keuschheitsgürtels aus Stacheldraht entledigt und ist nun frei zu freien: die andere Hälfte von sich selbst.

Die Stadt hat eben jetzt die große Chance, zur europäischen Kulturmetropole zu werden. Manch einer spricht gar von der Kulturhauptstadt Europas. Doch sollten wir vermeiden, wieder einmal vollmundig an der Tafel einer Kultur zu sitzen, bei der, so Karl Kraus über uns Deutsche, Prahlhans Küchenmeister ist. Es müsste genügen und wäre mehr als genug, wenn aus der Berliner Hochzeit eine Hoch-Zeit der Kultur entspränge. Die Stadt, die andre Dichter Hure, Babel, Nessel und Ninive nannten, kann nun werden, was sie für kurze Zeit schon einmal war: ein Biotop, in dem Kultur gedeihen kann.

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Litres'teki yayın tarihi:
26 mayıs 2021
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ISBN:
9783954629664
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