Kitabı oku: «Altes Zollhaus, Staatsgrenze West», sayfa 2

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3Bleu de Mer

An diesem Ort blieb ich den ganzen Winter.

Seitdem ich 1982 nach Bonn gekommen war, ins Herz der Macht, wie mein Chef sich entgegen seiner sonstigen Redeweise damals etwas blumig ausdrückte, hatten mich meine kleinen Fluchten am Wochenende oder in ganz kurzen Urlaubszeiten immer wieder dorthin geführt. Ostende kannte ich lange nur von der Fähre nach und von England, angefangen mit meinem ersten Besuch in London 1966. Dann, in den späten Siebzigern, damals arbeitete ich noch in Speyer, verpasste ich einmal eine Fähre und musste übernachten. Es war schon Oktober, aber noch hatte alles geöffnet, und als ich nach dem Essen an der Albert-Promenade am Meer entlangging, das sich zwar im Dunkel versteckte, aber gut zu hören war, und dann durch die Straßen des Zentrums – auf der anderen Straßenseite einmal angetrunkene, grölende Engländer, dann aber wieder überraschend stille Ecken –, dachte ich, die Stadt sei vielleicht einen längeren Aufenthalt wert, in der Vor- oder Nachsaison womöglich, in einem kleinen Hotel, das nicht unbedingt Meerblick haben musste, und abends Muscheln in einem der Restaurants an der Promenade: Moules frites, Moules à la Crème, Moules marinières und so weiter.

So ist es auch gekommen, das erste Mal 1983 und danach immer, wenn es sich ergab. Verlängerte Wochenenden, Kurzurlaube, Karnevalsfluchten. Keinem meiner Freunde habe ich je davon erzählt, und ich wäre lange nicht auf den Gedanken gekommen, Sonja nach Ostende mitzunehmen, bis auf dieses eine Mal, bevor sie endgültig verschwand. Aber ich war dann im letzten Moment nach Knokke abgebogen, wo wir das Wochenende verbrachten, und hatte mein Geheimnis bewahrt. Selbst in dieser Phase schlimmster Verfallenheit, als ich kurz davor stand, sie heiraten zu wollen, mochte ich Ostende nicht mit ihr teilen.

Ich konnte sie mir auch nicht im Hotel Louisa vorstellen, das ich bei meiner damaligen, durch die verpasste Fähre erzwungenen Übernachtung entdeckt hatte und dem ich treu blieb.

Kam ich nach Ostende, kam ich auf eine Art und Weise nach Hause wie an keinen anderen Ort der Welt. Dabei hatte ich von früh an ein großes Talent, schnell zu Hause zu sein; vielleicht ist das mein größtes Talent überhaupt. Auch der Nomade, gerade er, braucht die Orte, an denen er jeweils zur genau richtigen Zeit zu Hause ist.

Aus dem Journal meiner Tätigkeiten in Ostende, seit damals:

Am frühen und am späten Abend über den Strand laufen, vor und nach dem Essen. Am frühen Abend unter vielen Menschen, die alle hungrig werden wollen, wobei bekanntlich nichts so sehr hilft wie Seeluft. Am späten Abend oft allein oder nur mit wenigen Anderen, vermutlich Einheimische.

Auf einer Bank am Kai in der Spätsommerwärme in einer deutschen Zeitung über den Tod von Georges Simenon lesen.

Mit dem Hotelier sprechen, mit Kellnerinnen, Verkäuferinnen. Kurze, zielgerichtete, in der Regel freundliche Dialoge, die zu keiner weiteren Beziehung führen.

Ein blau-weiß gestreiftes Sweatshirt mit der großen Aufschrift Bleu de mer und ein marineblaues T-Shirt mit dem gleichen Text kaufen, im atlantischen Küstensommer, als seien wir womöglich an der Côte d’azur.

Im Hotelzimmer im Fernsehen die Sportschau sehen und mich, weil in Deutschland niemand weiß, wo ich gerade bin, fühlen wie Rumpelstilzchen.

An einem Julitag aus sicherer Entfernung und mit gezügeltem Begehren ein Geschöpf am Strand liegen sehen, fünfzehn bis siebzehn Jahre, allein auf einer Decke, ab und an zuckend im Halbschlaf.

Den Möwen zusehen und zuhören, unter deren strengem Blick und unter deren mahnenden Rufen ich mich bis heute fühle wie damals auf der Couch meines Analytikers.

Früh und tief schlafen, wie nur an der See. Alle Jahreszeiten hier gewesen und auch einen Sturm erlebt, an einem Herbstmorgen im Wintergarten eines Restaurants, dort, unter einzelnen, ruhigen Gästen, saß ich hinter den großen, nassen Scheiben mit meinen Croissants und schaute ins näherkommende Meer.

Nicht einen einzigen Augenblick jedoch habe ich jemals daran gedacht, mich in Ostende niederzulassen. Ich wusste, dass ich nur als Fremder hier zu Hause sein würde. Das Versteck Ostende schützte mich nur so lange, wie ich mich nicht ansiedelte. Aber in meinem ersten Nomadenjahr, in jenem November, als ich hier ankam, nutzte ich die Gelegenheit, um mich in einem köstlichen Halbzuhause niederzulassen, in diesem Appartement im sechsten Stock eines hässlichen Hochhauses an der Promenade, in dieser Stadt, die niemand schön nennen wird, der bei Sinnen ist.

Was ist ein Halbzuhause? Ein Ort, an dem man sich wohlfühlt, und den man, wenn die Zeit gekommen ist, ohne Schmerz verlassen kann.

4Blitze über der Biskaya

Schon früh, noch als Kind, hatte ich das Talent zum Alleinsein. Ich lebte zwar mit meinen Eltern unter einem Dach, aber meist in einer gewissen Entfernung von ihnen, oder sie von mir – das habe ich nie herausgefunden. Mein Bruder, sechs Jahre älter als ich, lebte in einer anderen Entfernung. Als ich sechs war, kam er wegen einer Erkrankung für zwei Jahre in ein Sanatorium sehr weit weg, im Schwarzwald. Meine Eltern besuchten ihn dort regelmäßig, einmal kam ich mit. Ich erinnere mich an zwei wichtige Erlebnisse während dieses Besuches. Hier gab es den ersten Grenzübertritt meines Lebens, denn wir fuhren einmal für ein paar Stunden bei Waldshut in die Schweiz hinein. Ich war erleichtert, als wir es schafften, ohne Probleme wieder zurückzukommen. Ich hatte mir das schwerer vorgestellt. Noch wichtiger war eine Begegnung in einer Kirche in irgendeinem der Örtchen der Gegend, vielleicht St. Blasien. An diesen Namen erinnere ich mich. Es kann aber auch gut in St. Georgen gewesen sein. Über einem Altar sah ich als lebensgroße Skulptur Gott thronen. Gott trug einen blauen Mantel mit einem goldenen Revers und goldenen Bündchen, und natürlich hatte er einen Bart. Das war das erste Bild von Gott, das ich sah, und meine Gottesvorstellung hat dieses Bild bis heute nicht überschritten.

Mein Talent zum Alleinsein entwickelte ich während der Schulzeit weiter und konnte darauf zurückgreifen, wann immer es nötig war. Dabei war ich bei der Mehrzahl meiner Mitschüler beliebt, hatte von Anfang an Zugang zu gleich mehreren Cliquen, die ich gleichsam besuchte und aus denen ich mich zurückzog, wenn ich nicht mehr konnte. Wenn ich keine Lust mehr hatte.

Das geschah oft. Wenn Gruppen zu groß wurden und zu lange zusammensaßen, langweilte ich mich sehr schnell, und so ist es bis heute geblieben. Zwei oder drei Menschen – mich selbst mit eingerechnet –, sind die ideale Größe fürs Zusammensein. Der Vierte ist schon einer zu viel, und je länger das Zusammensein dauert, desto tiefer sinkt das Niveau, das Gespräch versandet in Gemeinplätzen, blöden Sprüchen, Insiderjokes. Ums Niveau geht es mir aber nicht, ich muss mich nicht ständig auf dem Hochplateau bewegen. Es geht mir um die Langeweile. Viele Leute auf einem Haufen – Familienfeiern, Geburtstage, Jubiläen bezeugen das zur Genüge – sind über kurz oder lang fade und deshalb anstrengend. Zwei oder drei, wenn sie passen, können lange miteinander sein, ohne dass es öde wird. Sogar miteinander schweigen können sie, ohne sich zu langweilen. Vier können das nicht mehr.

Ohne dieses Talent hätte ich meine Nomadenjahre nicht durchstehen können. Ich war unterwegs, an niemanden gebunden, an keinen Ort und keine Aufgabe. Ich hatte nur zu leben, und das ist gefährlich.

Man entwickelt Techniken. Man achtet darauf, dass man jeden Tag wenigstens ein paar Alltagsdialoge führt. Manchmal ergibt sich ein längeres Gespräch. Einmal, in Biarritz an einem Sommerabend, als ich draußen vor einem kleinen Restaurant saß und aufs Essen wartete, kam eines dieser plötzlichen Biskaya-Unwetter auf. Es begann mit dem großen Wind, der auch unter die Sonnenschirme griff und sie wegzufegen drohte, dann zuckten die ersten grellen, fast gelben Blitze über dem Atlantik. Da hatten alle schon ihre Getränke gepackt und waren nach innen gestürmt, während das Personal draußen schnell die letzten Sonnenschirme zusammenklappte und auf den Boden legte. Drinnen wurden die Tische noch enger aneinandergerückt als ohnehin schon üblich, und mit ihnen auch die Gäste. Man genoss das Gewitter, den für diese Region eher kleinen Sturm, das Feuerwerk der Blitze; die Stimmung war ausgelassen. Man fühlte sich erfrischt und belebt nach dem langen, heißen, dösigen Sommertag. Ich unterhielt mich ein wenig mit dem Paar neben mir, Ende vierzig, Pariser. Sie kamen jedes Jahr hierher, und ich? Ich war zum ersten Mal hier. Gefiel es mir? Es gefiel mir sehr, wie ich überhaupt gern in ihrem schönen Land war. Das machte sie stolz auf eine beinahe schon dümmliche Art. Dann hatte sich das Unwetter ausgetobt, ein paar Nachwehen noch; eine Stunde später war das Lokal leer. Ich hatte mich an die Theke verzogen und trank noch einen Wein, und als auch ich bezahlen wollte, fragte die Frau hinter der Theke, als sei sie tief enttäuscht:

»Déjà?«

Hätte da etwas passieren können? Manchmal, in anderen Orten, ist etwas passiert, darüber hier weiter kein Wort. Die Zeiten von Gregor Korff, Frauenliebling an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, waren jedoch lange vorbei.

Wenn das Alleinsein zu riesig, wenn es zur lebensgefährlichen Göttin Einsamkeit wurde, handelte ich schnell; auch das gehörte zu meinen erworbenen Techniken. Ich hatte meine Fluchtpunkte. Es war einer dieser Fluchtpunkte, von denen ich zurückkehrte, als ich das Zollhaus in Granderath entdeckte. Ich hatte einen Ort gefunden, und wenn ich später auch Martin Tauberts Prophezeiung hörte, dieser Ort werde eines Tages verschwunden sein, bin ich doch davon überzeugt, dass er mich noch überleben wird.

5Früher war es so, dann war es so

Dass ich die bewussten Sätze über den alten Spinner hörte, als ich im Ort einkaufte, klingt ein wenig so, als wohnte ich weit draußen, allein wie ein Anachoret, wie der heilige Benedikt einen solchen Mönch nennt, vorbereitet für den Einzelkampf in der Wüste. Nichts ist falscher. Die letzten Häuser von Granderath vor der Grenze beginnen gerade dreißig Meter ortseinwärts von meiner Station entfernt, und wenn ich aus der Tür trete und mich nach links wende und nach einigen Schritten in Holland bin, findet sich auch dort naturgemäß eine aufgegebene Grenzstation, die allerdings nicht bewohnt ist und langsam verfällt. Schade, wie gern hätte ich mich einmal wöchentlich mit meinem Kollegen von der anderen Seite getroffen!

Danach schließen sich bald die Häuser des Dörfchens Tingeloo an, viel kleiner als Granderath, eigentlich nur drei ehemalige Höfe, bewohnt von offenbar wohlhabenden Leuten, prächtig herausgeputzt und strahlend weiß, dazu am Dorfrand ein Bordell. Dorthin fahren die deutschen Bewohner der Grenzregion, so, wie die Leute aus Tingeloo nach Straelen oder auch nur nach Granderath fahren, um einzukaufen, wenn sie nicht im Lande bleiben und es nach Venlo geht.

»Früher«, sagt Martin Taubert, »war das hier vermintes Gelände. Nicht wörtlich natürlich, aber weil es der kleinste Übergang war, war der Schmuggel besonders heftig. Wir hatten nämlich immer zu wenig Leute.«

Martin schaut inzwischen ein- oder zweimal die Woche bei mir rein. Was seine Gesellschaft so angenehm macht, ist die Tatsache, dass er keine Meinungen mehr hat, und wenn er welche hat, dann äußert er sie nicht. Er schimpft nicht und hat keine Liste von Vorschlägen, was alles anders gemacht werden müsste. Von ihm habe ich irgendwann stillschweigend gelernt, dass man keineswegs auf der Höhe der Zeit sein muss und dass das nicht einmal einen besseren Überblick verschafft. Martin erzählt, und seine Erzählung lässt sich etwa so beschreiben: Früher war es so, danach war es so, und schließlich gab es die Grenzstation nicht mehr.

»Vor dem Ruhestand war ich dann noch drei Jahre in Goch. Das war mein Exil.«

Martin ist nicht in Granderath aufgewachsen, sondern in Moers, immerhin noch ein ganzes Stückchen von der Grenze entfernt. Niederrhein, aber noch nicht der richtige: Ruhrgebiet eben. Die Abstufungen sind hier manchmal sehr fein.

»Aber ich war zweiundzwanzig, als ich beim Zoll anfing, und vorher bin ich nur Schüler und in den beiden letzten Kriegsjahren Soldat gewesen.«

»Erzähl mir nichts vom Krieg«, beschwor ich ihn.

»Tue ich nicht. Diese Grenze war mein Leben, Gregor. Deshalb bin ich auch hier geblieben, als ich pensioniert wurde.«

Es hat immerhin ein ganzes Jahr gedauert, bis Martin anfing, mich zu duzen. Vermutlich hat ihn vorher der völlig unangemessene Respekt vor jemandem, der eine Karriere in Bonn und danach auch noch an der Uni hinter sich hatte, daran gehindert. Erst nach und nach hat er erfahren, was für ein schräger Vogel ich eigentlich gewesen war, und erst dann ging er zum du über.

Von seinen Eltern und von den Schuljahren erzählt er nichts. Sein Leben hat erst an der Grenze angefangen, in den frühen Fünfzigern; zum Beispiel, als an einem Oktobermorgen 1952 gleich drei gepanzerte Wagen zur gleichen Zeit, zwei Daimler und ein Borgward Hansa 2400, in hohem Tempo den Schlagbaum rammten, und weg waren sie.

»Das passierte in den frühen Jahren so oder ähnlich einige Male. Wenn wir sie zu verfolgen versuchten, haben sie kleine Nagelbälle rausgeworfen. Dabei war der Übergang erst zwei Jahre alt. Man hatte ihn extra neu eingerichtet, weil die Schmuggler an dieser Stelle verstärkt die grüne Grenze genutzt hatten. Ich war von Anfang an dabei, ganz frisch als Zollassistent. Das Verrückteste an der Sache war, dass ein wesentlicher Teil der Ware aus Belgien kam.«

»Belgien?«

»Ja, einen Teil des Kaffeeschmuggels, der am Dreiländereck konzentriert war, unten bei Aachen, den haben sie durch Holland nach Norden umgeleitet, bevor es nach Deutschland weiterging. Da unten wurde es immer schwieriger, die Grenzsicherung hatte in der Gegend viel mehr Personal als wir hier in unserer kleinen Klitsche, und die klügste und am besten organisierte Gruppe machte jetzt diesen Umweg. Sie hatten einen Kontaktmann in Granderath, nicht älter als ich. Später wurde aus dem Kontaktmann der eigentliche Organisator, der Kopf der Gruppe. Der Schmugglerkönig von Granderath. Ist vor zwei Jahren gestorben, der Herr Hermanns. Seine beiden Söhne konnten studieren, und von den Enkeln ist der Heinz-Leo Rechtsanwalt in Düsseldorf geworden, der Hans arbeitet beim Finanzamt Kleve und der Herbert in Straelen in der Firmenleitung eines großen Blumenversands.«

Die Granderather, soweit sie arbeiten und nicht zu jung oder zu alt dafür sind oder sogenannte Transferleistungen beziehen, sind mehrheitlich in Straelen beim Gemüse, beim Obst oder bei den Blumen beschäftigt. Meistens ziehen sie auch dorthin, sobald ihnen ihr Arbeitsplatz einigermaßen sicher erscheint.

Martin erzählt gern von den frühen Zeiten des Grenzdiensts und des Schmuggels, die er selbst wahlweise die romantische oder die heroische Periode nennt. Später, als der Kaffee-, Tabak- und Butterschmuggel nicht mehr diese Bedeutung hatte oder überhaupt keine Rolle mehr spielte, wurde die Arbeit zwar vorübergehend weniger gefährlich, aber auch nüchterner. Es ging jetzt eher darum, Frachtpapiere und Dokumente lesen zu können und den versteckten Trick ausfindig zu machen.

»Da saß ab Mitte der Fünfziger einer in der Zollfahndung in Düsseldorf, von dem ständig neue Hinweise kamen, wie der Feind – er hat die Schmuggler immer nur den Feind genannt – seine Techniken schon wieder verfeinert hatte. Der war schon älter, Ende vierzig, und hatte bei den Nazis Karriere gemacht. Da war er nicht beim Zoll, sondern in der Abwehr bei Admiral Canaris, als Fachmann für gefälschte Dokumente. Den haben sie gleich aus der Versenkung rausgeholt, als die Schmuggler immer raffinierter wurden, und er ist dann auch schnell die Leiter hochgeklettert, saß Anfang der Sechziger schon in Bonn. Du hast ihn vielleicht kennengelernt? Er war später Leitender Regierungsdirektor und …«

»Anfang der Sechziger war ich zwölf oder dreizehn Jahre alt, Martin. Da kannte ich noch nicht mal die Beatles, geschweige denn einen Zollfahnder. Als ich nach Bonn kam, war dein Mann entweder schon im Ruhestand oder tot, nehme ich an.«

Martin Taubert hat in den Erzählungen aus seinem Leben und in seiner Sicht auf die Welt weitgehend jenes schöne Stadium der Gleichzeitigkeit erreicht, das auch ich anstrebe. Mit neunzig sind die Grenzen zwischen den Stationen der eigenen Lebensgeschichte offenbar weitgehend aufgehoben. Zumindest ist keine davon wichtiger oder weniger wichtig als andere, von der unmittelbaren Gegenwart vielleicht abgesehen, die gegenüber der angehäuften Geschichte ziemlich belanglos ist. Aber die früheren Zeiten können jederzeit präsent werden, und dann leuchten sie, als sei es gerade gestern geschehen. Mit Senilität oder gar Demenz hat das nichts zu tun. Martin ist im Gegenteil ein hellwacher Geist und weiß mehr, so denke ich manchmal, als alle anderen 1141 Einwohner von Granderath zusammen, mich selbst eingeschlossen.

Dieser Leitende Regierungsdirektor jedenfalls, von dem er mir erzählt hatte, kam kurz vor seiner Pensionierung zu Fall, als sich herausstellte, dass er am Ende seiner Zeit als Zollfahnder, bevor er nach Bonn ging, die Hand aufgehalten hatte, ausnahmslos bei den ganz Großen, damit es sich auch lohnte.

»Wer an der Grenze steht«, sagte Martin, »kommt schnell mal einen Schritt vom Wege ab und gerät auf die andere Seite des Schlagbaums.«

6Ein Schwarm Krähen

Granderath hat sich bisher nicht eingemeinden lassen. Als ich eingezogen war, bekam ich sehr bald ein Begrüßungsschreiben des Bürgermeisters, der hoffte, ich würde mich in meiner neuen Heimat – Heimat! – wohlfühlen, und in dem aufgeführt war, was man in Granderath und Umgebung alles anstellen kann. Das war natürlich ein irgendwann einmal erstelltes Standardschreiben, vorgesehen für alle Neubürger. Die Gemeindeverwaltung hat jedoch nur selten Gelegenheit, es zu verschicken, weil Granderath schrumpft, statt Neubürger anzuziehen. Vor drei Jahren ist ein Künstlerpaar im Rentenalter in ein altes Haus am Südrand des Ortes eingezogen, das war es wohl mit den Neubürgern. Genau genommen, weiß Martin, handelt es sich um einen Künstler mit seiner Frau, einer pensionierten Gymnasiallehrerin, die mit ihren Ruhebezügen für zuverlässiges Geld sorgt. Im Sommer sieht man beide manchmal im Garten Tee trinken. Sie grüßen mich sogar. Einmal hatte ich den Eindruck, sie wollten mich aufs Grundstück winken und mir eine Tasse Tee anbieten, schienen dann aber im letzten Moment zurückzuscheuen. Sie wissen sicher, dass auch ich ein Zugezogener bin. So bleiben wir füreinander ein vages Gerücht und winken uns aus sicherer Entfernung zu. Da sie mich nicht hereingebeten haben, muss auch ich sie nicht einladen, und nach wie vor bleibt Martin mein einziger Besucher.

Bis gestern. Da stand ein junger Mann aus Straelen vor der Tür, Ende zwanzig vielleicht, und sagte:

»Ich bin extra zu Ihnen rausgefahren.«

Von Straelen nach Granderath sind es knapp zehn Kilometer. Der junge Mann war mit dem Fahrrad gekommen. Dann sprach er davon, er habe ein Anliegen, jawohl, ein Anliegen, aber keine Angst, er wolle mir nichts verkaufen und nicht betteln. Ich zögerte einen kurzen Moment, vielleicht nur, um einen kleinen Abstand zu schaffen, danach ließ ich ihn eintreten. Ich hatte es schon lange nicht mehr erlebt, dass jemand etwas von mir wollte, ein völlig Fremder noch dazu.

Wir tranken Tee. Sein Anliegen war ein doppeltes. Erstens hatte er etwas über mich herausgefunden, wer ich nämlich einmal gewesen war, also im Herzen der Macht, um den Minister noch einmal zu zitieren. Der junge Mann hatte Politikwissenschaft studiert und arbeitete jetzt in einem Straelener Unternehmen für Webdesign. Was das eine mit dem anderen zu tun hatte, war mir nicht ersichtlich, aber ich sagte ihm gleich, dass ich keinen Internetauftritt brauchte und dass ich hinreichend, aber nicht exzessiv vernetzt sei, was enorm zu meinem Wohlbefinden beitrage.

»Auftreten«, sagte ich, »will ich auf keinen Fall, weder persönlich noch im Netz. Ich bin vor über zwanzig Jahren abgetreten; dabei bleibt’s.«

Der junge Mann ließ ein kleines, nervöses Lachen hören, der Qualität meines kleinen Witzchens durchaus angemessen, und sagte, er sei keineswegs als Acquisiteur hier. Auch nicht für Die Grünen, deren Mitglied er sei und von denen er hoffe, ich würde ihnen bei den nächsten Wahlen meine Stimme geben, weil nur sie ein zukunftsgerechtes Konzept hätten. Sie hätten in dieser Gegend übrigens einen schweren Stand.

Ich ergriff die Gelegenheit zu einem weiteren kleinen Witzchen und sagte:

»Wundert mich eigentlich. Grüner als hier kann es doch gar nicht mehr werden, mit all dem Gemüse und den Blumen.«

Er lachte auch darüber sein nervöses, kleines Lachen und sagte, das Agrobusiness sei natürlich genau das Problem, aber darüber wolle er jetzt nicht reden. Er wolle hier keinen privaten Wahlkampf machen. Vielmehr sei er wegen Carl Schmitt hier.

Ich war selbst verwundert, wie rasch in mir der Unmut, ja der Zorn wuchs und wie völlig machtlos ich dagegen war.

Er schreibe nämlich, fuhr der junge Mann fort, eine Doktorarbeit zu Schmitts Theorie des Zugangs zum Machthaber, und er wisse natürlich, dass ich ein ausgewiesener Schmitt-Experte sei oder wenigstens gewesen sei, und was den Zugang zum Machthaber angehe, so hätte ich da ja auch meine persönlichen Erfahrungen gemacht, und –

Weiter ist er nicht gekommen. Inzwischen würde ich sagen, ich war zornig, aber gerade noch beherrscht, einschüchternd, aber noch nicht gewaltbereit. Immerhin stand ich während meiner Suada auf und begann, in meinem schönen großen Salon mit den bis an die Decke reichenden Bücherregalen hin und her zu gehen, und ich sah, wie der junge Mann die Schultern hochzog und beinahe einen Buckel machte und sich zusammenkrümmte, als erwarte er jeden Moment den ersten Schlag.

Er solle mir bloß nicht mit diesem Meisterdenker kommen, fing ich an, leise noch, aber vermutlich schon mit einem leichten Beben in der Stimme. Mit diesem kleinen Ehrgeizling und Schönschreiber, der geglaubt habe, er sei dazu berufen, den Machthaber seiner Zeit zu beraten, und dann aus allen Wolken fiel, als man ihn abservierte, bevor er überhaupt richtig zum Zuge gekommen war. Dabei sei er nicht einmal in der Lage gewesen, die serbische Hochstaplerin zu durchschauen, in die er verknallt gewesen sei.

Wenn ich mich recht erinnere, war das die Stelle, an der ich aufstand und durchs Zimmer zu tigern begann, weil ich mich an meine eigene Blindheit gegenüber Sonja erinnerte.

Zu Schmitt sei ich gekommen beinahe wie die Jungfrau zum Kind, sagte ich weiter, damals sei das noch ein Thema gewesen, das ein bisschen entlegen gewesen sei, und ich habe davon ausgehen können, dass mein Prof meine Arbeit wirklich lesen und nicht nur überfliegen werde, und plötzlich hätte ich zum ersten und vielleicht einzigen Mal in meinem Leben so etwas wie Ehrgeiz entwickelt, eine Haltung, die mir ansonsten völlig fremd sei.

Bei diesen letzten Worten sah mich der junge Mann erstaunt an, das glaubte er mir nicht, aber ich fand es nicht der Mühe wert, weiter darauf einzugehen.

Die anderen Meisterdenker seien damals besetzt gewesen, erzählte ich weiter und wurde langsam lauter, und an Schmitt sei natürlich dieser pseudolakonische, pseudolateinische, pseudoklare Stil faszinierend gewesen, dazu diese eingängige Freund-Feind-Definition und die Verlockung, dass man gewissermaßen selbst entscheiden könne, wer der Feind sei, ohne wirklich Gründe dafür angeben zu müssen.

An dieser Stelle wollte der junge Mann etwas einwenden – vermutlich, dass es nicht ganz so einfach sei, eine Binsenweisheit, mit der man immer auf der sicheren Seite ist –, aber ich war noch nicht fertig, ich war in Fahrt, und während ich weiterschimpfte, hörte ich mir selbst erstaunt zu.

Inzwischen, sagte ich, inzwischen schreibe ja jeder halbgebildete Bacheloranwärter seinen kleinen Gedanken zu Schmitt nieder, und jede zweite fein aufgemachte Intellektuellenzeitschrift grabe eine weitere Trouvaille zu ihm aus, natürlich in einem rein epigonalen Stil, denn die Ministranten dieses Denkpriesters wollten ihm so nahe wie möglich kommen, was ihnen aber nicht gelinge, weil er ihnen dafür denn doch zu himmelweit überlegen gewesen sei und sie selbst über das Stadium des Wiederkäuens nicht hinauskämen.

Und natürlich, fuhr ich noch lauter fort, ohne weiter auf die zunehmend verängstigte Reaktion meines Besuchers Rücksicht zu nehmen, natürlich sei er nicht der einzige Denkpriester, es gebe noch genug andere, die alle ihren Ministrantenschweif hinter sich herzögen, der jederzeit für genug Weihrauchzufuhr sorge. Ich hätte, sagte ich, dieses ganze Metagequatsche satt, diesen unendlichen Sommer der Theorie, dieses Aufgeilen an noch einer und noch einer Drehung des Denkens, diese Fußnotenorgasmen. Und noch mehr hätte ich es satt, sagte ich, wenn man daraus auch noch praktische Schlussfolgerungen ziehen wolle, womöglich politische, wenn diese angegammelte Frage, ob der Mensch – der Mensch! – im Prinzip gut oder böse sei, wieder aufgewärmt und hin- und hergedreht werde, und wenn dann die guten und die bösen Menschen daraus noch Konzepte für die Welt entwickeln würden, Programme für die ein für alle Male richtige Zukunft, Programme, die naturgemäß das Allerentsetzlichste überhaupt seien. Seine Partei sei ja Meister darin, obwohl ironischerweise gerade sie bis in alle Ewigkeit dagegen gefeit sei, einen Denkpriester, einen Meisterdenker oder überhaupt auch nur einen Denker in ihre Reihen aufzunehmen oder gar selbst hervorzubringen, dazu sei ihr antiintellektuelles Immunsystem einfach zu intakt.

Nach diesem letzten Satz, den ich gerade noch hatte zu Ende bringen können, verschluckte ich mich so gründlich, dass ich von einem schier endlosen Hustenanfall heimgesucht wurde und nach Luft schnappte, und diese Gelegenheit ergriff der junge Mann, um sehr behende aus seinem Sessel hochzufedern und mein Zollhaus blitzschnell und ohne ein Wort des Abschieds zu verlassen.

Als er gegangen, als er auf seinem Fahrrad geflohen war, fragte ich mich, ob ich nicht ein wenig voreilig gewesen war. Schließlich hatte ich den jungen Mann überhaupt nicht zu Wort kommen lassen, und vielleicht hatte er ja vor, in seiner Arbeit den alten Gnom von Plettenberg nach allen Regeln der akademischen Kunst in die Pfanne zu hauen, wie konnte ich das wissen. Ich nahm mir vor, mich bei ihm zu entschuldigen, wenn ich ihn einmal zufällig in Straelen auf der Straße treffen sollte, seinen Namen hatte ich mir leider nicht gemerkt.

Dann verließ auch ich das Haus, wandte mich nach links und ging eine Stunde in Holland spazieren. Ich winkte dem Besitzer des ersten weißen Hauses freundschaftlich zu, und er winkte zurück. Hinter Tingeloo begann freies Feld, auf dem ein Schwarm Krähen emsig bei der Arbeit war. Woher, dachte ich, woher kam denn eben diese große Wut.

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