Kitabı oku: «Nach dem letzten Karfreitag»

Yazı tipi:

Johann Toth

NACH DEM LETZTEN KARFREITAG

Donauschwaben:

VON DER BEFREIUNG IN DIE FREIHEIT

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

Kapitel 1

ES WAR EINMAL KERNEI

Kapitel 2

TERZ, BELUS UND ROTOBER MIT VIERZEHNER – DIE KERNEIER LEIDENSCHAFT

Kapitel 3

„BROTWERSCHT“ UND SARMENKRAUT – DIE KERNEIER SPEZIALITÄTEN

Kapitel 4

FEIERN UND TANZEN „… BIS DIE PELZKAPP‘ WIEDICH WERD“

Kapitel 5

KINDHEIT, JUGEND UND ERSTER UMSTURZ

Kapitel 6

DIE GESPALTENE GESELLSCHAFT: AUSSIEDELN ODER BLEIBEN

Kapitel 7

KONFISZIERUNG DES VERMÖGENS

Kapitel 8

VON DER BEFREIUNG INS ARBEITSLAGER

Kapitel 9

DER DROHENDE HUNGERTOD IM INTERNIERUNGSLAGER UND DIE FLUCHT NACH UNGARN

Kapitel 9a

LANDKARTE KLEIN

Kapitel 9b

LANDKARTE GROSS

Kapitel 10

VOM KOMMUNISTISCH WERDENDEN UNGARN IN DIE FREIHEIT NACH ÖSTERREICH

Kapitel 11

DIE ERSTEN EINDRÜCKE: DAS GOLDENE WIENER HERZ UND DER „SCHLAWIENER“

Kapitel 12

DIE INTEGRATION IN DER NEUEN HEIMAT

Kapitel 13

HISTORISCHER SCHLUSSSTRICH FÜR EIN VEREINTES FRIEDLICHES EUROPA

Fußnote

Vorwort

Am Karsamstag 1945 wurden alle verbliebenen deutschsprachigen Bewohner des Dorfes Kernei aus ihren Bauernhäusern vertrieben und in die Internierungslager in Krusevlje und Gakowo gesteckt, in denen viele den Hungertod erleiden mussten. Schon mit dem Einmarsch der Roten Armee zu „Wendlini“ (20. Oktober) 1944 und der Befreiung vom Faschismus war das Schicksal der mit dem Begriff „Donauschwaben“ bezeichneten Volksgruppe besiegelt: Während etwa die Hälfte der Bewohner, die mit dem verbrecherischen Nazi-Regime sympathisiert hatten oder die späteren Gräuel geahnt hatten, bis Oktober 1944 das Dorf verlassen hatten, vermeinten jene, die treu zu Kirche und Land standen und sich persönlich nichts zu Schulden haben kommen lassen, in ihrer Heimat bleiben zu können. Nicht nur, dass auch ihr Vermögen auf Basis der AVNOJ1-Beschlüsse konfisziert wurde, haben die Opfer des Krieges an ihnen die „Kollektivschuld“ der Deutschsprachigen in grausamer Weise gesühnt: Die Internierungslager wurden zu Vernichtungslagern, in denen viele den Hungertod erlitten. Damit endete die etwa 180-jährige Siedlungsgeschichte für die als „Donauschwaben“ bezeichnete Volksgruppe in der Batschka und im Banat; diese Gebiete liegen in der Vojvodina/​heutiges Serbien und Rumänien.

Nach dem letzten Karfreitag“ erzählt die Erlebnisse des damals jugendlichen „Toth-Opa“. Es ist die Geschichte eines 16-Jährigen, der alles verloren hatte – mit 4 Jahren seine Mutter und am Karsamstag 1945 sein Zuhause – und der mit Waghalsigkeit, nein: mit Todesmut, das Letzte, was ihm und seiner Familie geblieben und bedroht war – das nackte Leben –, rettete.

Das Buch erzählt auch von einem familiären Heldenmythos: Immerhin ist es dem jugendlichen Toth-Opa gelungen, ausreichend Lebensmittel in das Vernichtungslager zu schmuggeln, um seine Schwestern Regina, Magdalena und Theresia, seinen kleinen Bruder Josef sowie seine Stiefmutter und Großmutter vor dem Hungertod zu retten (sein Bruder Martin im Säuglingsalter und seine zweite Großmutter sind schmerzlich im Lager verhungert) und die Familie aus dem Lager und über die Grenze nach Ungarn zu bringen.

Diese Erzählung soll keine Anklage gegen jene sein, die – selbst Opfer des barbarischen Überfalls des Deutschen Reiches am Balkan – sich an persönlich Schuldlosen gerächt haben; dieses Buch regt aber die – wenn auch späte – geschichtliche Anerkennung jener als Opfer an, welche nicht mit dem verbrecherischen Nazi-Regime sympathisiert hatten und dennoch aufgrund ihrer Sprachzugehörigkeit mit Vertreibung und Vernichtungslager bestraft wurden.

Die Geschichte des jungen „Toth-Opa“ soll vor allem Friedensmahnmal und Friedensbeitrag sein: Sie soll Frieden einmahnen, damit Jugendliche nie mehr Lebensmittel erbetteln (und stehlen) und an Wachposten vorbei in ein Lager schmuggeln müssen, um Angehörige vor dem Hungertod zu bewahren. Das Buch postuliert als Friedensbeitrag der Vertriebenen den historischen Schlussstrich und die Abstandnahme von Restitutions- oder Entschädigungsüberlegungen im vereinten Europa.

Das Buch endet mit einem zweifachen „happy end“: Mit der geglückten Flucht über das kommunistisch werdende Ungarn in die Freiheit nach Österreich als neue Heimat und – Jahrzehnte später – dem Besuch des Toth-Opa als Gast in seinem vormaligen Elternhaus bei dem seit damals darin wohnenden Besitzer als Gastgeber mit Handschlag, angeregter Unterhaltung in serbischer Sprache sowie anschließenden jährlichen Briefkontakten – respektvoll geführt in der jeweiligen Muttersprache des anderen.

Kapitel 1

ES WAR EINMAL KERNEI

Es war einmal Kernei. So nannten die etwa fünfeinhalbtausend deutschsprachigen Bewohner ihr Heimatdorf; die Serben nannten es Krnjaja und die Ungarn Kereny.

Ich war ein Kerneier. Nicht die Häuser, nicht die Felder oder Weingärten, die Menschen machen ein Dorf und seine Identität aus. Als die Kerneier 1945 vertrieben wurden, hörte Kernei zu existieren auf: Kernei ohne Kerneier ist nicht mehr Kernei. Auch die Ortsnamen Krnjaja und Kereny wurden abgeschafft. Für die alten Häuser mit neuen Bewohnern aus nahezu ganz Jugoslawien und die Felder und Weingärten mit neuem Eigentümer wurde auch ein neuer Name geschaffen: Kljajicevo.

Wer als Kerneier geboren wurde, bleibt es ein Leben lang: Einmal Kerneier, immer Kerneier. Als die Kerneier 1945 vertrieben wurden und hauptsächlich in Deutschland, Österreich und den USA eine neue Heimat gefunden haben, haben sie ihr altes Kernei aus Kinder- und Jugendtagen, das in der Realität längst zur Geschichte geworden war, vielleicht auch etwas verklärt, weiter in ihren Herzen getragen. Auch ich habe schon vor mehreren Jahrzehnten in Österreich eine neue Heimat gefunden und spreche seit mehreren Jahrzehnten akzentfrei „österreichisch“. Dennoch werde ich das alte Kernei meiner Kinder- und Jugendtage bis an mein Lebensende nicht vergessen und in meinem Herzen tragen.

Ich wurde als Kerneier in das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (Königreich Jugoslawien) hineingeboren. Zu diesem Zeitpunkt waren Österreich-Ungarn und der Kaiser von Österreich und König von Ungarn bereits 11 Jahre Geschichte. Vorher – im Vielvölkerstaat „Österreich-Ungarn“ – muss es wohl selbstverständlicher gewesen sein, dass Deutschsprachige, Serben und Ungarn mit- und nebeneinander in einem gemeinsamen Staat lebten. Ich wurde aber damals als Kerneier in ein etwa 90 Prozent deutschsprachiges Dorf und in ein „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (Königreich Jugoslawien) hineingeboren; als „Schwob“ (Schwabe) mit deutscher Muttersprache und ungarisch klingendem Namen im „Königreich Jugoslawien“. Für die Orientierung war das eine nicht leichte Ausgangslage. Unser Leuchtturm, an dem wir uns festhielten, war die katholische Kirche und die Ortsgemeinschaft – unser Kernei.

Als ich als Jugendlicher mit Pferd und Wagen einmal in ein kleines Dorf namens „Guposin“ (Guposina) (ebenfalls in der Batschka gelegen) fuhr, sah ich einen – wahrscheinlich geistig behinderten – Mann (oder Narren), der an einem Telefonmasten stand und so tat, als ob er telefonieren würde und eine (Telefon-)Verbindung suchte: „Hallo! Wien – Berlin – Guposin“; dies wiederholte er oftmals. Natürlich lachten die umstehenden Leute ebenso wie ich. Später machte mich dies nachdenklich. „Narren und Kinder sagen die Wahrheit“ hieß es bei uns oft. Es war offenbar die Wahrheit, in die ich hineingeboren worden war: Die Residenzstadt Wien – der Vielvölkerstaat „Österreich-Ungarn“ – als Orientierung war Geschichte und nun begannen sich viele falsch zu orientieren: Richtung Berlin. Ohne zu ahnen, dass dies Unheil – auch das Ende von Kernei – mit sich bringen würde.

Als ich als Kerneier geboren wurde, hatte Kernei etwa 160 Jahre bestanden. Wir lernten in der Schule, dass im 18. Jahrhundert Prinz Eugen die Türken zurückgedrängt hatte und Maria Theresia unsere Vorfahren ansiedelte. „Der ersten Generation Tod, der zweiten Generation Not, der dritten Generation Brot“; so wurde uns unsere Siedlungsgeschichte eingetrichtert. Harte Arbeit und karge Not war den ersten Generationen der Ansiedler Schicksal gewesen. Dies bezeugte ein jedem Kerneier bekannter mündlich überlieferter Reim (mit ländlich-derbem Schlusssatz): „Ich werd‘ dir was verzählen, von den langen Ehlen, von den kurzen Wochen, haben wir nichts zu kochen, Vat’r schlacht‘ a Seichl, mir ein Werscht‘l, dir ein Werscht’l, mir ein Schunken, dir ein Schunken und der Sepp kann nur … austunken.“

Als ich geboren wurde, war das alte Kernei ein blühendes Dorf; zumindest in meiner verklärten Erinnerung. Wir waren Bauersleute und stolze Kerneier. Von den Bewohnern der Nachbardörfer gab es auch „Schmährufe“ über uns, wie etwa: „Kerneier, Nudelseiher, Quätschedrucker Bähhh!“ Wenn ich das hörte, hatte ich immer die feste Überzeugung, dass die, die das sagten, in Wirklichkeit nur neidisch waren, weil sie keine Kerneier waren.

Wir Kerneier waren einfache Bauersleute, die sich selbst versorgten. Geld hatten wir praktisch keines; wir waren naturverbunden und – auch weil wir nichts anderes kannten – glücklich mit dem, was wir hatten. Und wir waren streng katholisch.

Die Feste des Jahreskreises waren durch Ernte-, Kirchen- und Kirchweihfeste vorgegeben: Wenn ein selbst gefüttertes Schwein geschlachtet wurde, war Schlachtfest angesagt; wir sagten „Sauschlachten“ dazu. Man freute sich, dass die Fleischversorgung für die nächsten Monate gesichert war.

Für gestandene Mannsbilder war es nicht einfach, eine 150 bis 160 kg schwere Sau einzufangen, festzuhalten und mit dem großen Messer durch einen Herzstich abzuschlachten. Dabei wurde das Blut in einem Gefäß aufgefangen, gerührt, damit das Blut nicht ins Stocken gerät; dieses Blut wurde dann für die Blutwurst verwendet. Ein Schwein konnte nicht von einem Mann allein geschlachtet werden, es waren mindestens 2 Männer notwendig. Uns Kindern sagte man, ihr könntet helfen und das „Schwanzerl halten“; dies war aber nur spaßhalber. Tatsächlich war kein Kind in die Nähe, wenn das Schwein geschlachtet wurde.

Die geschlachtete Sau wurde in der Mitte geöffnet, es wurden die Gedärme herausgenommen und gewaschen; die Gedärme waren für die Wursterzeugung – Blutwurst und „Brotwerscht“ – notwendig. Dabei wurde der Dickdarm für die Blutwurst und der Dünndarm für die „Brotwerscht“ verwendet. Der gereinigte Magen fand für Presswurst Verwendung; diesen nannten wir „Schwartamaga“; dabei wurden die „Schwartln“ (Haut des Schweins) und etwas faschiertes Bratwurstfleisch verwendet. Das Bauchflausch wurde teilweise für Speck verwendet; der Rest kam in die „Brotwerscht“.

Nach dem Zerlegen des Schweines und Sortieren (Fleisch zu Fleisch und Speck zu Speck) wurde der Speck erhitzt und flüssig gemacht; dies nannten wir „Schmalzauslassen“. Der Speck wurde eingesurt und später geselcht; gleiches gilt für das „Schunkafleisch“. Das ausgelassene Schmalz wurde in einem Gefäß gelagert; damals wurde ausschließlich noch mit Schmalz gekocht.

Auch haben meine Eltern damals Sulz gemacht: Die Ohren und die Füße wurden gereinigt, geteilt und gekocht und wurde daraus in Tellern Sulz abgefüllt, das durch Abkühlen dann „sulzig“ geworden ist.

So wurden fast alle Teile des Schweines verwendet.

Das „Sauschlachten“ wurde als Familienfest gefeiert. Es gab „Metzlsupp“. Am Abend nach dem Schlachten gab es eine klare Fleischsuppe, dann Suppenfleisch mit Kren, dann Gebratenes mit Ripperln; natürlich auch dicke Wurst (Blutwurst) und dünne Würste (die „Brotwerscht“). Aus dem Schmalz wurde „Schmalzkiechla“ herausgebacken; heute sagt man dazu „Krapfen“. Zu den „Schmalzkiechla“ gab es „Quetscha-Leckwar“, also auf „Hochdeutsch“ Zwetschgenmarmelade.

Beim Sauschlachten – und auch sonst bei jedem Fest – wurde selbst gekelterter Wein getrunken, der in der angrenzenden Hügelkette Telecka gewachsen und gereift war.

Eine besondere Delikatesse war der selbst geräucherte Rohschinken („Schunkafleisch“) und die selbst hergestellten und ebenfalls selbst geräucherten oder geselchten Bratwürste („Brotwerscht“).

Neben dem Schlachtfest wurde auch das Traubenlesen wie ein Volksfest gefeiert: Wir hatten – so wie viele Kerneier – in der Telecka (eine angrenzende Hügelkette) Weingärten; auch das Traubenlesen wurde als großes Familienfest gefeiert.

In Kernei wurde die „Kerweih“ (Kirchweihfest) groß gefeiert: Die erste „Kerweih“ war am 2. Juli zu Maria Heimsuchung; die „Melonenkerweih“ war zu Rochus am 16. August; zu „Wendlini“ am 20. Oktober war die „Keschta-Kerweih“; wer es nicht weiß: „Keschta“ sind die Edelkastanien oder Maroni.

Zu jeder „Kerweih“ gab es eine „Englisch-Reiterei“; heute würde man dazu wohl „Ringelspiel“ sagen. Auch die „Parzelgauntsch“ war sehr beliebt; die im Kreis fliegenden Sitze waren auf Ketten befestigt.

Da auch meine Eltern Selbstversorger waren und kaum Geld hatten, bekamen wir als Kinder und Jugendliche auch kein Taschengeld. Um an der „Kerweih“ mit der „Englisch-Reiterei“ fahren zu können, mussten wir 5 Runden lang anschieben, um dann eine Runde gratis fahren zu können. Allerdings habe ich als Messdiener (Ministrant) bei Begräbnissen, Hochzeiten und beim Ratschen zu Ostern etwas Geld verdient, das ich für die „Kerweih“ jeweils zur Seite gelegt hatte.

Zu Fasching gab es für uns Kinder nachmittags Unterhaltungen; diese nannte man „Dudasch“: Dabei konnten wir die ersten „Gehversuche“ mit Tanzschritten machen. Einer spielte mit einer Ziehharmonika; es wurde gehüpft oder wenn man will auch schon getanzt.

Für die ledigen Jugendlichen gab es in der Faschingszeit jeden Sonntagnachmittag Tanz in einem Wirtshaus. Am Faschingsdienstag war für Ledige bereits um 22 : 00 Uhr Schluss. Die verheirateten Paare durften – an anderen Veranstaltungsorten – bis Mitternacht tanzen. Anschließend war strengste Fastenzeit bis zum Karsamstag/​Ostersonntag, jedenfalls bis zur Auferstehung angesagt.

Für jeden Ministranten war ein Höhepunkt des Jahres die Ratschentage. Vom Gründonnerstag bis Karsamstag haben wir mit unseren Handratschen die Glocken, die ja bekanntlich in dieser Zeit nach Rom geflogen waren, ersetzt. Wir gingen in die einzelnen Häuser, konnten aber dabei kein Geld einsammeln; vielmehr haben wir viele Eier bekommen. Der „Karl-Vetter“ hat die vielen Eier dann für uns verkauft und das erlöste Geld an uns Ministranten verteilt.

Das Ratschen war am Karsamstag zu Ende, an dem der Herrgott auferstanden war und die Glocken wieder aus Rom zurückgekehrt waren. Nachdem die Glocken das erste Mal läuteten, haben wir – die Kinder – die Obstbäume kräftig geschüttelt; nach dem Brauch sollten die Obstbäume durch das Schütteln in diesem Jahr dann viele Früchte tragen.

Zu Weihnachten ist bei uns in Kernei das „Christkindl“ gekommen; einen Weihnachtsmann oder einen „Santa Claus“ kannten wir damals nicht. Das „Christkindl“ war meist ein Elternteil, das sich hinter einem weißen Leintuch versteckte. Für schlimme Kinder gab es den einen oder anderen Hieb mit der Rute. Das „Christkindl“ brachte Nüsse, Äpfel und Dörrzwetschken für die Kinder; Geschenke, wie wir dies in der heutigen Zeit kennen, gab es nicht.

Der Neujahrswunsch der Kerneier, der sich treffsicher auf das Wesentliche im Leben besinnt, klingt aus heutiger Sicht fast wie eine beschwörende Vorahnung. Eltern und Verwandte gratulierten wir mit folgendem Neujahrswunsch: „Ich wünsche Euch ein glückliches neues Jahr, ein langes Leben, Gesundheit, Friede und Einigkeit und nach dem Tod die ewige Glückseligkeit.“ Eineinhalb Jahrhunderte hatten wir Kerneier einander zum neuen Jahr Friede und Einigkeit gewünscht; offenbar eine Vorahnung, dass Krieg und Zwietracht das Ende von Kernei bringen würden.

Kapitel 2

TERZ, BELUS UND ROTOBER MIT VIERZEHNER – DIE KERNEIER LEIDENSCHAFT

Wenn die Ernte eingebracht war, es draußen zunehmend unwirtlich kalt wurde und der Schnee das Land bedeckte, war Zeit für „Klawrias“. Ich war und bin – so wie jeder Kerneier – ein passionierter Kartenspieler. „Klawrias“ war ein Spiel mit 32 doppeldeutschen Karten und 4 Spielern, das mit Ersteigern des Spiels bei fünf aufgenommenen Karten – und drei noch nicht aufgenommenen – begann. Jeder Kerneier war ein Freund der Roten: Damit waren aber im streng katholischen Kernei nicht die Sozialdemokraten und schon gar nicht die Kommunisten – die späteren Todfeinde – gemeint, sondern die Karten der roten Farbe. Wer viele Rote hatte, konnte das Spiel über „Eichel“ (erste Ansage), „Grüne“ (Steigerung auf Spiel 2) und „Schella“ (Steigerung auf Spiel 3) auf Spiel 4 steigern und Rote zum Trumpf machen. Jedem passionierten Kartenspieler schlug das Herz höher, wenn er den „Rotober“ mit König (Belus), den „Vierzehner“ (zweithöchster Trumpf) oder eine Terz (drei Karten derselben Farbe aufsteigend), eine Quart (vier Karten) oder sogar eine Quint (fünf Karten in aufsteigender Reihenfolge) hatte. Der, der das Spiel ersteigert hatte, war der Spieler und Ausspieler gegen die drei übrigen Spieler. Wer mit dem „Rotober“ oder einem Ass stach, musste beim Ausspielen der Karte seinen Siegeswillen durch lautes Klopfen der zur Halbfaust formierten Mittel-, Ring- und Kleinfinger der Ausspielhand unterstreichen und die Karte auf den Tisch knallen. Dadurch sollten die Mitspieler eingeschüchtert oder zumindest beeindruckt werden, auch wenn die Finger nach dieser Machtdemonstration doch manchmal schmerzten. Manchmal wurden von kraftstrotzenden Spielern dabei auch noch die Mitspieler verhöhnt: „Trump, der kon’r hat, is‘ a Lump!“ („Trumpf, der keinen hat, ist ein Lump!“).

Besonders reizvoll war es, wenn schon vor dem ersten Ausspielen dem Spieler „contra“ von einem der übrigen Gegenspieler gegeben wurde und der Spieler, der das Spiel ersteigert hatte, seine Gewinnprognose durch ein „Re“ (Retour) unterstrich. Wenn ein „Re“ durch das Zimmer hallte – egal ob in der warmen Stube zu Hause oder im Gasthaus –, war dies das Signal dafür, dass sich für wenige Minuten die ganze Welt um diesen Tisch zu drehen hatte: Der Spieler (es waren praktisch nur Männer), welcher so laut „Re“ gerufen hatte, wollte ja gleichsam die Aufmerksamkeit auf sich ziehen und alle sollten sich als Kiebitze rund um diesen Tisch versammeln. Gleichzeitig musste es absolut still sein; denn auch durch eine noch so vage Andeutung durfte der Kiebitz, der mehrere Kartenblätter gleichzeitig sah, das Spiel nicht verraten oder auch nur durch Grimassenspiel oder Räuspern in das Spiel eingreifen. Es war dann so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Diese Stille und Anspannung war die Ruhe vor dem Sturm: Das harte Klopfen mit den „Rotober“ oder einem Ass auf den Tisch wurde dadurch noch spektakulärer. In dieser spannungsgeladenen Stille, in der jeder Plausch von Spielern und Kiebitzen striktest verboten war, durfte nur ein Wort fallen: Das machtvolle Wort „Trumpf“, ausgesprochen von jenem Spieler, der laut mit der Stichkarte auf den Tisch klopfte und den Stich für sich reklamierte.

Manchmal nahm das Gehabe durchaus Züge eines Duells an, das aber Gott sei Dank nur im nachfolgenden Spiel freundschaftlich – und nicht mit Fäusten oder Waffen – ausgetragen wurde. Die dabei verwendeten Begriffe und Lizitationsstufen sind selbstredend; interessant ist, dass die letzten Lizitationsstufen schon einen selbstironischen Charakter hatten. Die duellhaften, sich steigernden Spielankündigungen, die jeweils eine Verdoppelung des Einsatzes (es wurde aber nur um Körner oder Kleingeld gespielt) zur Folge hatten, lauteten: „Contra“ – „Re“ (Retour) – „Sub“„Mord“Strohwusch“„Heuwusch“. Ein „Mord-Spiel“ oder sogar ein „Strohwusch“ oder „Heuwusch“ zu gewinnen, blieb einige Zeit in Erinnerung.

Der bei guten Karten entwickelte Spielrausch wurde oft auch durch den nicht unbeträchtlichen Weinkonsum angefacht. Dabei führte, etwas abergläubisch, der Rotweinkonsum oft dazu, dass möglichst viele „Rote“ aufgenommen werden konnten. Die Leidenschaft des Kartenspielers, möglichst wenig Zeit für anderes zu verlieren und sofort das nächste Spiel mit neuem Glück anschließen zu lassen, führte bei dem nicht unbeträchtlichen Weinkonsum oft dazu, dass der eine oder andere Spieler schon herumzappelte, aber nicht zugestehen wollte, dass er eine Spielunterbrechung benötigte. Daher stammt wohl auch die Kerneier Redewendung: „Brunzrig wie ein Kartenspieler.“

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