Kitabı oku: «Die Wahlverwandtschaften», sayfa 3
"Sein Sie meiner ganzen Aufmerksamkeit versichert", sagte Charlotte, indem sie ihre Arbeit beseitelegte.
Und so begann der Hauptmann: "an allen Naturwesen, die wir gewahr werden, bemerken wir zuerst, daß sie einen Bezug auf sich selbst haben.
Es klingt freilich wunderlich, wenn man etwas ausspricht, was sich ohnehin versteht; doch nur indem man sich über das Bekannte völlig verständig hat, kann man miteinander zum Unbekannten fortschreiten ".
"Ich dächte", fiel ihm Eduard ein, "wir machten ihr und uns die Sache durch Beispiele bequem.
Stelle dir nur das Wasser, das öl, das Quicksilber vor, so wirst du eine Einigkeit, einen Zusammenhang ihrer Teile finden.
Diese Einung verlassen sie nicht, außer durch Gewalt oder sonstige Bestimmung.
Ist diese beseitigt, so treten sie gleich wieder zusammen". "Ohne Frage", sagte Charlotte beistimmend.
"Regentropfen vereinigen sich gern zu Strömen.
Und schon als Kinder spielen wir erstaunt mit dem Quecksilber, indem wir es in Kügelchen trennen und es wieder zusammenlaufen lassen". "Und so darf ich wohl", fügte der Hauptmann hinzu, "eines bedeutenden Punktes im flüchtigen Vorbeigehen erwähnen, daß nämlich dieser völlig reine, durch Flüssigkeit mögliche Bezug sich entschieden und immer durch die Kugelgestalt auszeichnet.
Der fallende Wassertropfen ist rund; von den Quecksilberkügelchen haben Sie selbst gesprochen; ja ein fallendes geschmolzenes Blei, wenn es Zeit hat, völlig zu erstarren, kommt unten in Gestalt einer Kugel an".
"Lassen Sie mich voreilen", sagte Charlotte, "ob ich treffe, wo Sie hinwollen.
Wie jedes gegen sich selbst einen Bezug hat, so muß es auch gegen andere ein Verhältnis haben".
"Und das wird nach Verschiedenheit der Wesen verschieden sein", fuhr Eduard eilig fort.
"Bald werden sie sich als Freunde und alte Bekannte begegnen, die schnell zusammentreten, sich vereinigen, ohne aneinander etwas zu verändern, wie sich Wein mit Wasser vermischt.
Dagegen werden andre fremd nebeneinander verharren und selbst durch mechanisches Mischen und Reiben sich keinesweges verbinden; wie öl und Wasser, zusammengerüttelt, sich den Augenblick wieder auseinander sondert".
"Es fehlt nicht viel", sagte Charlotte, "so sieht man in diesen einfachen Formen die Menschen, die man gekannt hat; besonders aber erinnert man sich dabei der Sozietäten, in denen man lebte.
Die meiste ähnlichkeit jedoch mit diesen seelenlosen Wesen haben die Massen, die in der Welt sich einander gegenüberstellen, die Stände, die Berufsbestimmungen, der Adel und der dritte Stand, der Soldat und der Zivilist".
"Und doch!" versetzte Eduard; "wie diese durch Sitten und Gesetze vereinbar sind, so gibt es auch in unserer chemischen Welt Mittelglieder, dasjenige zu verbinden, was sich einander abweist".
"So verbinden wir", fiel der Hauptmann ein, "das öl durch Laugensalz mit dem Wasser".
"Nur nicht zu geschwind mit Ihrem Vortrag!" sagte Charlotte, "damit ich zeigen kann, daß ich Schritt halte.
Sind wir nicht hier schon zu den Verwandtschaften gelangt?" "ganz richtig", erwiderte der Hauptmann; "und wir werden sie gleich in ihrer vollen Kraft und Bestimmtheit kennenlernen.
Die jenigen Naturen, die sich beim Zusammentreffen einander schnell ergreifen und wechselseitig bestimmen, nennen wir verwandt.
An den Alkalien und Säuren, die, obgleich einander entgegengesetzt und vielleicht eben deswegen, weil sie einander entgegengesetzt sind, sich am entschiedensten suchen und fassen, sich modifizieren und zusammen einen neuen Körper bilden, ist diese Verwandtschaft auffallend genug.
Gedenken wir nur des Kalks, der zu allen Säuren eine große Neigung, eine entschiedene Vereinigungslust äußert!
Sobald unser chemisches Kabinett ankommt, wollen wir Sie verschiedene Versuche sehen lassen, die sehr unterhaltend sind und einen bessern Begriff geben als Worte, Namen und Kunstausdrücke".
"Lassen Sie mich gestehen", sagte Charlotte, "wenn Sie diese Ihre wunderlichen Wesen verwandt nennen, so kommen sie mir nicht sowohl als Blutsverwandte, vielmehr als Geistes – und Seelenverwandte vor. Auf eben diese Weise können unter Menschen wahrhaft bedeutende Freundschaften entstehen; denn entgegengesetzte Eigenschaften machen eine innigere Vereinigung möglich.
Und so will ich denn abwarten, was Sie mir von diesen geheimnisvollen Wirkungen vor die Augen bringen werden.
"Ich will dich", sagte sie, zu Eduard gewendet, "jetzt im Vorlesen nicht weiter stören und, um so viel besser unterrichtet, deinen Vortrag mit Aufmerksamkeit vernehmen".
"Da du uns einmal aufgerufen hast", versetzte Eduard, "so kommst du so leicht nicht los; denn eigentlich sind die verwickelten Fälle die interessantesten.
Erst bei diesen lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nähern, stärkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; die Verwandtschaften werden erst interessant, wenn sie Scheidungen bewirken". "Kommt das traurige Wort", rief Charlotte, "das man leider in der Welt jetzt so oft hört, auch in der Naturlehre vor?" "Allerdings!" erwiderte Eduard.
"Es war sogar ein bezeichnender Ehrentitel der Chemiker, daß man sie Scheidekünstler nannte".
"Das tut man also nicht mehr", versetzte Charlotte, "und tut sehr wohl daran.
Das Vereinigen ist eine größere Kunst, ein größeres Verdienst.
Ein Einungskünstler wäre in jedem Fache der ganzen Welt willkommen.
"Nun so laßt mich denn, weil ihr doch einmal im Zug seid, ein paar solche Fälle wissen!" "So schließen wir uns denn gleich", sagte der Hauptmann, "an dasjenige wieder an, was wir oben schon benannt und besprochen haben.
Zum Beispiel was wir Kalkstein nennen, ist eine mehr oder weniger reine Kalkerde, innig mit einer zarten Säure verbunden, die uns in Luftform bekannt geworden ist.
Bringt man ein Stück solchen Steines in verdünnte Schwefelsäure, so ergreift diese den Kalk und erscheint mit ihm als Gips; jene zarte, luftige Säure hingegen entflieht.
Hier ist eine Trennung, eine neue Zusammensetzung entstanden, und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaft anzuwenden, weil es wirklich aussieht, als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde".
"Verzeihen Sie mir", sagte Charlotte, "wie ich dem Naturforscher verzeihe; aber ich würde hier niemals eine Wahl, eher eine Naturnotwendigkeit erblicken, und diese kaum; denn es ist am Ende vielleicht gar nur die Sache der Gelegenheit.
Gelegenheit macht Verhältnisse, wie sie Diebe macht; und wenn von Ihren Naturkörpern die Rede ist, so scheint mir die Wahl bloß in den Händen des Chemikers zu liegen, der diese Wesen zusammenbringt.
Sind sie aber einmal beisammen, dann gnade ihnen Gott!
In dem gegenwärtigen Falle dauert mich nur die arme Luftsäure, die sich wieder im Unendlichen herumtreiben muß".
"Es kommt nur auf sie an", versetzte der Hauptmann, "sich mit dem Wasser zu verbinden und als Mineralquelle Gesunden und Kranken zur Erquickung zu dienen".
"Der Gips hat gut reden", sagte Charlotte; "der ist nun fertig, ist ein Körper, ist versorgt, anstatt daß jenes ausgetriebene Wesen noch manche Not haben kann, bis es wieder unterkommt".
"Ich müßte sehr irren", sagte Eduard lächelnd, "oder es steckt eine kleine Tücke hinter deinen Reden.
Gesteh nur deine Schalkheit!
Am Ende bin ich in deinen Augen der Kalk, der vom Hauptmann, als einer Schwefelsäure, ergriffen, deiner anmutigen Gesellschaft entzogen und in einen refraktären Gips verwandelt wird".
"Wenn das Gewissen", versetzte Charlotte, "dich solche Betrachtungen machen heißt, so kann ich ohne Sorge sein.
Diese Gleichnisreden sind artig und unterhaltend, und wer spielt nicht gern mit ähnlichkeiten!
Aber der Mensch ist doch um so manche Stufe über jene Elemente erhöht, und wenn er hier mit den schönen Worten Wahl und Wahlverwandtschaft etwas freigebig gewesen, so tut er wohl, wieder in sich selbst zurückzukehren und den Wert solcher Ausdrücke bei diesem Anlaß recht zu bedenken.
Mir sind leider Fälle genug bekannt, wo eine innige, unauflöslich scheinende Verbindung zweier Wesen durch gelegentlich Zugesellung eines dritten aufgehoben und eins der erst so schön verbundenen ins lose Weite hinausgetrieben ward".
"Da sind die Chemiker viel galanter", sagte Eduard; "sie gesellen ein viertes dazu, damit keines leer ausgehe".
"Jawohl!" versetzte der Hauptmann; "diese Fälle sind allerdings die bedeutendsten und merkwürdigsten, wo man das Anziehen, das Verwandtsein, dieses Verlassen, dieses Vereinigen gleichsam übers Kreuz wirklich darstellen kann, wo vier bisher je zwei zu zwei verbundene Wesen, in Berührung gebracht, ihre bisherige Vereinigung verlassen und sich aufs neue verbinden.
In diesem Fahrenlassen und Ergreifen, in diesem Fliehen und Suchen glaubt man wirklich eine höhere Bestimmung zu sehen; man traut solchen Wesen eine Art von Wollen und Wählen zu und hält das Kunstwort 'Wahlverwandtschaften' für vollkommen gerechtfertigt".
"Beschreiben Sie mir einen solchen Fall!" sagte Charlotte. "Man sollte dergleichen", versetzte der Hauptmann, "nicht mit Worten abtun.
Wie schon gesagt: sobald ich Ihnen die Versuche selbst zeigen kann, wird alles anschaulicher und angenehmer werden.
Jetzt müßte ich Sie mit schrecklichen Kunstworten hinhalten, die Ihnen doch keine Vorstellung gäben.
Man muß diese tot scheinenden und doch zur Tätigkeit innerlich immer bereiten Wesen wirkend vor seinen Augen sehen, mit Teilnahme schauen, wie sie einander suchen, sich anziehen, ergreifen, zerstören, verschlingen, aufzehren und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten: dann traut man ihnen erst ein ewiges Leben, ja wohl gar Sinn und Verstand zu, weil wir unsere Sinne kaum genügend fühlen, sie recht zu beobachten, und unsre Vernunft kaum hinlänglich, sie zu fassen".
"Ich leugne nicht", sagte Eduard, "daß die seltsamen Kunstwörter demjenigen, der nicht durch sinnliches Anschauen, durch Begriffe mit ihnen versöhnt ist, beschwerlich, ja lächerlich werden müssen.
Doch könnten wir leicht mit Buchstaben einstweilen das Verhältnis ausdrücken, wovon hier die Rede war".
"Wenn Sie glauben, daß es nicht pedantisch aussieht", versetzte der Hauptmann, "so kann ich wohl in der Zeichensprache mich kürzlich zusammenfassen.
Denken Sie sich ein A, das mit einem B innig verbunden ist, durch viele Mittel und durch manche Gewalt nicht von ihm zu trennen; denken Sie sich ein C, das sich ebenso zu einem D verhält; bringen Sie nun die beiden Paare in Berührung: A wird sich zu C, C zu B werfen, ohne daß man sagen kann, wer das andere zuerst verlassen, wer sich mit dem andern zuerst wieder verbunden habe".
"Nun denn!" fiel Eduard ein; "bis wir alles dieses mit Augen sehen, wollen wir diese Formel als Gleichnisrede betrachten, woraus wir uns eine Lehre zum unmittelbaren Gebrauch ziehen.
Du stellst das A vor, Charlotte, und ich dein B; denn eigentlich hänge ich doch nur von dir ab und folge dir wie dem A das B.
Das C ist ganz deutlich der Kapitän, der mich für diesmal dir einigermaßen entzieht.
Nun ist es billig, daß, wenn du nicht ins Unbestimmte entweichen sollst, dir für ein D gesorgt werde, und das ist ganz ohne Frage das liebenswürdige Dämchen Ottilie, gegen deren Annäherung du dich nicht länger verteidigen darfst".
"Gut!" versetzte Charlotte.
"Wenn auch das Beispiel, wie mir scheint, nicht ganz auf unsern Fall paßt, so halte ich es doch für ein Glück, daß wir heute einmal völlig zusammentreffen und daß diese Natur – und Wahlverwandtschaften unter uns eine vertrauliche Mitteilung beschleunigen. Ich will es also nur gestehen, daß ich seit diesem Nachmittage entschlossen bin, Ottilien zu berufen; denn meine bisherige treue Beschließerin und Haushälterin wird abziehen, weil sie heiratet.
Dies wäre von meiner Seite und um meinetwillen; was mich um Ottiliens willen bestimmt, das wirst du uns vorlesen.
Ich will dir nicht ins Blatt sehen, aber freilich ist mir der Inhalt schon bekannt.
Doch ließ nur, lies!" Mit diesen Worten zog sie einen Brief hervor und reichte ihn Eduarden.
"Euer Gnaden werden verzeihen, wenn ich mich heute ganz kurz fassen; denn ich habe nach vollendeter öffentlicher Prüfung dessen, was wir im vergangenen Jahr an unsern Zöglingen geleistet haben, an die sämtlichen Eltern und Vorgesetzten den Verlauf zu melden; auch darf ich wohl kurz sein, weil ich mit wenigem viel sagen kann.
Ihre Fräulein Tochter hat sich in jedem Sinne als die Erste bewiesen.
Die beiliegenden Zeugnisse, ihr eigner Brief, der die Beschreibung der Preise enthält, die ihr geworden sind, und zugleich das Vergnügen ausdrückt, das sie über ein so glückliches Gelingen empfindet, wird Ihnen zur Beruhigung, ja zur Freude gereichen.
Die meinige wird dadurch einigermaßen gemindert, daß ich voraussehe, wir werden nicht lange mehr Ursache haben, ein so weit vorgeschrittenes Frauenzimmer bei uns zurückzuhalten.
Ich empfehle mich zu Gnaden und nehme mir die Freiheit, nächstens meine Gedanken über das, was ich am vorteilhaftesten für sie halte, zu eröffnen.
Von Ottilien schreibt mein freundlicher Gehülfe".
"Von Ottilien läßt mich unsre ehrwürdige Vorsteherin schreiben, teils weil es ihr, nach ihrer Art zu denken, peinlich wäre, dasjenige, was zu melden ist, zu melden, teils auch, weil sie selbst einer Entschuldigung bedarf, die sie lieber mir in den Mund legen mag.
Da ich nur allzuwohl weiß, wie wenig die gute Ottilie das zu äußern imstande ist, was in ihr liegt und was sie vermag, so war mir vor der öffentlichen Prüfung einigermaßen bange, um so mehr, als überhaupt dabei keine Vorbereitung möglich ist, und auch, wenn es nach der gewöhnlichen Weise sein könnte, Ottilie auf den Schein nicht vorzubereiten wäre.
Der Ausgang hat meine Sorge nur zu sehr gerechtfertigt; sie hat keinen Preis erhalten und ist auch unter denen, die kein Zeugnis empfangen haben.
Was soll ich viel sagen?
Im Schreiben hatten andere kaum so wohlgeformte Buchstaben, doch viel freiere Züge; im Rechnen waren alle schneller, und an schwierige Aufgaben, welche sie besser löst, kam es bei der Untersuchung nicht.
Im Französischen überparlierten und überexponierten sie manche; in der Geschichte waren ihr Namen und Jahrzahlen nicht gleich bei der Hand; bei der Geographie vermißte man Aufmerksamkeit auf die politische Einleitung.
Zum musikalischen Vortrag ihrer wenigen bescheidenen Melodien fand sich weder Zeit noch Ruhe.
Im Zeichnen hätte sie gewiß den Preis davongetragen; ihre Umrisse waren rein und die Ausführung bei vieler Sorgfalt geistreich.
Leider hatte sie etwas zu Großes unternommen und war nicht fertig geworden.
Als die Schülerinnen abgetreten waren, die Prüfenden zusammen Rat hielten und uns Lehrern wenigstens einiges Wort dabei gönnten, merkte ich wohl bald, daß von Ottilien gar nicht und, wenn es geschah, wo nicht mit Mißbilligung, doch mit Gleichgültigkeit gesprochen wurde.
Ich hoffte, durch eine offne Darstellung ihrer Art zu sein einige Gunst zu erregen, und wagte mich daran mit doppeltem Eifer, einmal, weil ich nach meiner überzeugung sprechen konnte, und sodann, weil ich mich in jüngeren Jahren in eben demselben traurigen Fall befunden hatte.
Man hörte mich mit Aufmerksamkeit an; doch als ich geendigt hatte, sagte mir der vorsitzende Prüfende zwar freundlich, aber lakonisch: 'Fähigkeiten werden vorausgesetzt, sie sollen zu Fertigkeiten werden.
Dies ist der Zweck aller Erziehung, dies ist die laute, deutliche Absicht der Eltern und Vorgesetzten, die stille, nur halb bewußte der Kinder selbst.
Dies ist auch der Gegenstand der Prüfung, wobei zugleich Lehrer und Schüler beurteilt werden.
Aus dem, was wir von Ihnen vernehmen, schöpfen wir gute Hoffnung von dem Kinde, und Sie sind allerdings lobenswürdig, indem Sie auf die Fähigkeiten der Schülerinnen genau achtgeben.
Verwandeln Sie solche übers Jahr in Fertigkeiten, so wird es Ihnen und Ihrer begünstigten Schülerin nicht an Beifall mangeln.
' In das, was hierauf folgte, hatte ich mich schon ergeben, aber ein noch übleres nicht befürchtet, das sich bald darauf zutrug.
Unsere gute Vorsteherin, die wie ein guter Hirte auch nicht eins von ihren Schäfchen verloren oder, wie es hier der Fall war, ungeschmückt sehen möchte, konnte, nachdem die Herren sich entfernt hatten, ihren Unwillen nicht bergen und sagte zu Ottilien, die ganz ruhig, indem die andern sich über ihre Preise freuten, am Fenster stand: 'aber sagen Sie mir, um 's Himmels willen!
Wie kann man so dumm aussehen, wenn man es nicht ist?'
Ottilie versetzte ganz gelassen: 'verzeihen Sie, liebe Mutter, ich habe gerade heute wieder mein Kopfweh, und ziemlich stark'. – 'Das kann niemand wissen!' Versetzte die sonst so teilnehmende Frau und kehrte sich verdrießlich um.
Nun es ist wahr: niemand kann es wissen; denn Ottilie verändert das Gesicht nicht, und ich habe auch nicht gesehen, daß sie einmal die Hand nach dem Schlafe zu bewegt hätte.
Das war noch nicht alles.
Ihre Fräulein Tochter, gnädige Frau, sonst lebhaft und freimütig, war im Gefühl ihres heutigen Triumphs ausgelassen und übermütig.
Sie sprang mit ihren Preisen und Zeugnissen in den Zimmern herum und schüttelte sie auch Ottilien vor dem Gesicht.
"Du bist heute schlecht gefahren!" rief sie aus.
Ganz gelassen antwortete Ottilie: "es ist noch nicht der letzte Prüfungstag". – "Und doch wirst du immer die Letzte bleiben!" rief das Fräulein und sprang hinweg.
Ottilie schien gelassen für jeden andern, nur nicht für mich. Eine innere, unangenehme, lebhafte Bewegung, der sie widersteht, zeigt sich durch eine ungleiche Farbe des Gesichts.
Die linke Wange wird auf einen Augenblick rot, indem die rechte bleich wird.
Ich sah dies Zeichen, und meine Teilnehmung konnte sich nicht zurückhalten.
Ich führte unsre Vorsteherin beiseite, sprach ernsthaft mit ihr über die Sache.
Die treffliche Frau erkannte ihren Fehler.
Wir berieten, wir besprachen uns lange, und ohne deshalb weitläufiger zu sein, will ich Euer Gnaden unsern Beschluß und unsre Bitte vortragen: Ottilien auf einige Zeit zu sich zu nehmen.
Die Gründe werden Sie sich selbst am besten entfalten.
Bestimmen Sie sich hiezu, so sage ich mehr über die Behandlung des guten Kindes.
Verläßt uns dann Ihre Fräulein Tochter, wie zu vermuten steht, so sehen wir Ottilien mit Freuden zurückkehren.
Noch eins, das ich vielleicht in der Folge vergessen könnte: ich habe nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt oder gar um etwas dringend gebeten hätte.
Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht, was man von ihr fordert.
Sie tut das mit einer Gebärde, die für den, der den Sinn davon gefaßt hat, unwiderstehlich ist.
Sie drückt die flachen Hände, die sie in die Höhe hebt, zusammen und führt sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigt und den dringend Fordernden mit einem solchen Blick ansieht, daß er gern von allem absteht, was er verlangen oder wünschen möchte.
Sehen Sie jemals diese Gebärde, gnädige Frau, wie es bei Ihrer Behandlung nicht wahrscheinlich ist, so gedenken Sie meiner und schonen Ottilien".
Eduard hatte diese Briefe vorgelesen, nicht ohne Lächeln und Kopfschütteln.
Auch konnte es an Bemerkungen über die Personen und über die Lage der Sache nicht fehlen.
"Genug!" rief Eduard endlich aus; "es ist entschieden, sie kommt!
Für dich wäre gesorgt, meine Liebe, und wir dürfen nun auch mit unserm Vorschlag hervorrücken.
Es wird höchst nötig, daß ich zu dem Hauptmann auf den rechten Flügel hinüberziehe.
Sowohl abends als morgens ist erst die rechte Zeit, zusammen zu arbeiten.
Du erhältst dagegen für dich und Ottilien auf deiner Seite den schönsten Raum".
Charlotte ließ sichs gefallen, und Eduard schilderte ihre künftige Lebensart.
Unter andern rief er aus: "es ist doch recht zuvorkommend von der Nichte, ein wenig Kopfweh auf der linken Seite zu haben; ich habe es manchmal auf der rechten.
Trifft es zusammen und wir sitzen gegeneinander, ich auf den rechten Ellbogen, sie auf den linken gestützt und die Köpfe nach verschiedenen Seiten in die Hand gelegt, so muß das ein Paar artige Gegenbilder geben".
Der Hauptmann wollte das gefährlich finden.
Eduard hingegen rief aus: "nehmen Sie sich nur, lieber Freund, vor dem D in acht!
Was sollte B denn anfangen, wenn ihm C entrissen würde?" "Nun, ich dächte doch", versetzte Charlotte, "das verstünde sich von selbst".
"Freilich", rief Eduard; "es kehrte zu seinem A zurück, zu seinem A und O!" rief er, indem er aufsprang und Charlotten fest an seine Brust drückte.
Ein Wagen, der Ottilien brachte, war angefahren.
Charlotte ging ihr entgegen; das liebe Kind eilte, sich ihr zu nähern, warf sich ihr zu Füßen und umfaßte ihre Kniee.
"Wozu die Demütigung!" sagte Charlotte, die einigermaßen verlegen war und sie aufheben wollte.
"Es ist so demütig nicht gemeint", versetzte Ottilie, die in ihrer vorigen Stellung blieb.
"Ich mag mich nur so gern jener Zeit erinnern, da ich noch nicht höher reichte als bis an Ihre Kniee und Ihrer Liebe schon so gewiß war".
Sie stand auf, und Charlotte umarmte sie herzlich.
Sie ward den Männern vorgestellt und gleich mit besonderer Achtung als Gast behandelt.
Schönheit ist überall ein gar willkommener Gast.
Sie schien aufmerksam auf das Gespräch, ohne daß sie daran teilgenommen hätte.
Den andern Morgen sagte Eduard zu Charlotten: "es ist ein angenehmes, unterhaltendes Mädchen".
"Unterhaltend?" versetzte Charlotte mit Lächeln;" sie hat ja den Mund noch nicht aufgetan".
"So?" erwiderte Eduard, indem er sich zu besinnen schien, "das wäre doch wunderbar!" Charlotte gab dem neuen Ankömmling nur wenig Winke, wie es mit dem Hausgeschäfte zu halten sei.
Ottilie hatte schnell die ganze Ordnung eingesehen, ja, was noch mehr ist, empfunden.
Was sie für alle, für einen jeden insbesondre zu besorgen hatte, begriff sie leicht.
Alles geschah pünktlich.
Sie wußte anzuordnen, ohne daß sie zu befehlen schien, und wo jemand säumte, verrichtete sie das Geschäft gleich selbst.
Sobald sie gewahr wurde, wieviel Zeit ihr übrigblieb, bat sie Charlotten, ihre Stunden einteilen zu dürfen, die nun genau beobachtet wurden.
Sie arbeitete das Vorgesetzte auf eine Art, von der Charlotte durch den Gehülfen unterrichtet war.
Man ließ sie gewähren.
Nur zuweilen suchte Charlotte sie anzuregen.
So schob sie ihr manchmal abgeschriebene Federn unter, um sie auf einen freieren Zug der Handschrift zu leiten; aber auch diese waren bald wieder scharf geschnitten.
Die Frauenzimmer hatten untereinander festgesetzt, französisch zu reden, wenn sie allein wären, und Charlotte beharrte um so mehr dabei, als Ottilie gesprächiger in der fremden Sprache war, indem man ihr die übung derselben zur Pflicht gemacht hatte.
Hier sagte sie oft mehr, als sie zu wollen schien.
Besonders ergetzte sich Charlotte an einer zufälligen, zwar genauen, aber doch liebevollen Schilderung der ganzen Pensionsanstalt.
Ottilie ward ihr eine liebe Gesellschafterin, und sie hoffte, dereinst an ihr eine zuverlässige Freundin zu finden.
Charlotte nahm indes die älteren Papiere wieder vor, die sich auf Ottilien bezogen, um sich in Erinnerung zu bringen, was die Vorsteherin, was der Gehülfe über das gute Kind geurteilt, um es mit ihrer Persönlichkeit selbst zu vergleichen.
Denn Charlotte war der Meinung, man könne nicht geschwind genug mit dem Charakter der Menschen bekannt werden, mit denen man zu leben hat, um zu wissen, was sich von ihnen erwarten, was sich an ihnen bilden läßt, oder was man ihnen ein für allemal zugestehen und verzeihen muß.
Sie fand zwar bei dieser Untersuchung nichts Neues, aber manches Bekannte ward ihr bedeutender und auffallender.
So konnte ihr zum Beispiel Ottiliens Mäßigkeit im Essen und Trinken wirklich Sorge machen.
Das Nächste, was die Frauen beschäftigte, war der Anzug.
Charlotte verlangte von Ottilien, sie solle in Kleidern reicher und mehr ausgesucht erscheinen.
Sogleich schnitt das gute, tätige Kind die ihr früher geschenkten Stoffe selbst zu und wußte sie sich mit geringer Beihülfe anderer schnell und höchst zierlich anzupassen.
Die neuen, modischen Gewänder erhöhten ihre Gestalt; denn indem das Angenehme einer Person sich auch über ihre Hülle verbreitet, so glaubt man sie immer wieder von neuem und anmutiger zu sehen, wenn sie ihre Eigenschaften einer neuen Umgebung mitteilt.
Dadurch ward sie den Männern, wie von Anfang so immer mehr, daß wir es nur mit dem rechten Namen nennen, ein wahrer Augentrost.
Denn wenn der Smaragd durch seine herrliche Farbe dem Gesicht wohltut, ja sogar einige Heilkraft an diesem edlen Sinn ausübt, so wirkt die menschliche Schönheit noch mit weit größerer Gewalt auf den äußern und innern Sinn.
Wer sie erblickt, den kann nichts übles anwehen; er fühlt sich mit sich selbst und mit der Welt in übereinstimmung.
Auf manche Weise hatte daher die Gesellschaft durch Ottiliens Ankunft gewonnen.
Die beiden Freunde hielten regelmäßiger die Stunden, ja die Minuten der Zusammenkünfte.
Sie ließen weder zum Essen, noch zum Tee, noch zum Spaziergang länger als billig auf sich warten.
Sie eilten, besonders abends, nicht so bald von Tische weg. Charlotte bemerkte das wohl und ließ beide nicht unbeobachtet. Sie suchte zu erforschen, ob einer vor dem andern hiezu den Anlaß gäbe; aber sie konnte keinen Unterschied bemerken.
Beide zeigten sich überhaupt geselliger.
Bei ihren Unterhaltungen schienen sie zu bedenken, was Ottiliens Teilnahme zu erregen geeignet sein möchte, was ihren Einsichten, ihren übrigen Kenntnissen gemäß wäre.
Beim Lesen und Erzählen hielten sie inne, bis sie wiederkam. Sie wurden milder und im ganzen mitteilender.
In Erwiderung dagegen wuchs die Dienstbeflissenheit Ottiliens mit jedem Tage.
Je mehr sie das Haus, die Menschen, die Verhältnisse kennenlernte, desto lebhafter griff sie ein, desto schneller verstand sie jeden Blicke, jede Bewegung, ein halbes Wort, einen Laut.
Ihre ruhige Aufmerksamkeit blieb sich immer gleich, so wie ihre gelassene Regsamkeit.
Und so war ihr Sitzen, Aufstehen, Gehen, Kommen, Holen, Bringen, Wiederniedersitzen ohne einen Schein von Unruhe, ein ewiger Wechsel, eine ewige angenehme Bewegung.
Dazu kam, daß man sie nicht gehen hörte; so leise trat sie auf.
Diese anständige Dienstfertigkeit Ottiliens machte Charlotten viele Freude.
Ein einziges, was ihr nicht ganz angemessen vorkam, verbarg sie Ottilien nicht.
"Es gehört", sagte sie eines Tages zu ihr, "unter die lobenswürdigen Aufmerksamkeiten, daß wir uns schnell bücken, wenn jemand etwas aus der Hand fallen läßt, und es eilig aufzuheben suchen.
Wir bekennen uns dadurch ihm gleichsam dienstpflichtig; nur ist in der größern Welt dabei zu bedenken, wenn man eine solche Ergebenheit bezeigt.
Gegen Frauen will ich dir darüber keine Gesetze vorschreiben. Du bist jung.
Gegen Höhere und ältere ist es Schuldigkeit, gegen deinesgleichen Artigkeit, gegen Jüngere und Niedere zeigt man sich dadurch menschlich und gut; nur will es einem Frauenzimmer nicht wohl geziemen, sich Männern auf diese Weise ergeben und dienstbar zu bezeigen".
"Ich will es mir abzugewöhnen suchen", versetzte Ottilie.
"Indessen werden Sie mir diese Unschicklichkeit vergeben, wenn ich Ihnen sage, wie ich dazu gekommen bin.
Man hat uns die Geschichte gelehrt; ich habe nicht soviel daraus behalten, als ich wohl gesollt hätte; denn ich wußte nicht, wozu ichs brauchen würde.
Nur einzelne Begebenheiten sind mir sehr eindrücklich gewesen, so folgende: als Karl der Erste von England von seinen sogenannten Richtern stand, fiel der goldne Knopf des Stöckchens, das er trug, herunter.
Gewohnt, daß bei solchen Gelegenheiten sich alles für ihn bemühte, schien er sich umzusehen und zu erwarten, daß ihm jemand auch diesmal den kleinen Dienst erzeigen sollte.
Es regte sich niemand; er bückte sich selbst, um den Kopf aufzuheben.
Mir kam das so schmerzlich vor, ich weiß nicht, ob mit Recht, daß ich von jenem Augenblick an niemanden kann etwas aus den Händen fallen sehn, ohne mich darnach zu bücken.
Da es aber freilich nicht immer schicklich sein mag und ich", fuhr sie lächelnd fort, "nicht jederzeit meine Geschichte erzählen kann, so will ich mich künftig mehr zurückhalten".
Indessen hatten die guten Anstalten, zu denen sich die beiden Freunde berufen fühlten, ununterbrochenen Fortgang.
Ja täglich fanden sie neuen Anlaß, etwas zu bedenken und zu unternehmen.
Als sie eines Tages zusammen durch das Dorf gingen, bemerkten sie mißfällig, wie weit es an Ordnung und Reinlichkeit hinter jenen Dörfern zurückstehe, wo die Bewohner durch die Kostbarkeit des Raums auf beides hingewiesen werden.
"Du erinnerst dich", sagte der Hauptmann, "wie wir auf unserer Reise durch die Schweiz den Wunsch äußerten, eine ländliche sogenannte Parkanlage recht eigentlich zu verschönern, indem wir ein so gelegnes Dorf nicht zur Schweizer Bauart, sondern zur Schweizer Ordnung und Sauberkeit, welche die Benutzung so sehr befördern, einrichteten".
"Hier zum Beispiel", versetzte Eduard, "ginge das wohl an.
Der Schloßberg verläuft sich in einen vorspringenden Winkel herunter; das Dorf ist ziemlich regelmäßig im Halbzirkel gegenüber gebaut; dazwischen fließt der Bach, gegen dessen Anschwellen sich der eine mit Steinen, der andere mit Pfählen, wieder einer mit Balken und der Nachbar sodann mit Planken verwahren will, keiner aber den andern fördert, vielmehr sich und den übrigen Schaden und Nachteil bringt.
So geht der Weg auch in ungeschickter Bewegung bald herauf, bald herab, bald durchs Wasser, bald über Steine.
Wollten die Leute mit Hand anlegen, so würde kein großer Zuschuß nötig sein, um hier eine Mauer im Halbkreis aufzuführen, den Weg dahinter bis an die Häuser zu erhöhen, den schönsten Raum herzustellen, der Reinlichkeit Platz zu geben und durch eine ins Große gehende Anstalt alle kleine, unzulängliche Sorge auf einmal zu verbannen".
"Laß es uns versuchen!" sagte der Hauptmann, indem er die Lage mit den Augen überlief und schnell beurteilte.
"Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann", versetzte Eduard.
"Du hast so unrecht nicht", erwiderte der Hauptmann; "denn auch mir machten dergleichen Geschäfte im Leben schon viel Verdruß.
Wie schwer ist es, daß der Mensch recht abwäge, was man aufopfern muß gegen das, was zu gewinnen ist, wie schwer, den Zweck zu wollen und die Mittel nicht zu verschmähen!