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Kitabı oku: «Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 2», sayfa 2

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Zweites Kapitel

An der Hand des ältesten trat nun unser Freund durch ein ansehnliches Portal in eine runde oder vielmehr achteckige Halle, die mit Gemälden so reichlich ausgeziert war, daß sie den Ankömmling in Erstaunen setzte. Er begriff leicht, daß alles, was er erblickte, einen bedeutenden Sinn haben müßte, ob er sich gleich denselben nicht so geschwind entziffern konnte. Er war eben im Begriff, seinen Begleiter deshalb zu befragen, als dieser ihn einlud, seitwärts in eine Galerie zu treten, die, an der einen Seite offen, einen geräumigen, blumenreichen Garten umgab. Die Wand zog jedoch mehr als dieser heitre, natürliche Schmuck die Augen an sich: denn sie war durchaus gemalt, und der Ankömmling konnte nicht lange daran hergehen, ohne zu bemerken, daß die heiligen Bücher der Israeliten den Stoff zu diesen Bildern geliefert hatten.

"Es ist hier", sagte der älteste, "wo wir diejenige Religion überliefern, die ich Euch der Kürze wegen die ethnische genannt habe.

Der Gehalt derselben findet sich in der Weltgeschichte, so wie die Hülle derselben in den Begebenheiten. An der Wiederkehr der Schicksale ganzer Völker wird sie eigentlich begriffen."

"Ihr habt", sagte Wilhelm, "wie ich sehe, dem israelitischen Volke die Ehre erzeigt und seine Geschichte zum Grunde dieser Darstellung gelegt, oder vielmehr ihr habt sie zum Hauptgegenstande derselben gemacht." — "Wie Ihr seht", versetzte der Alte; "denn Ihr werdet bemerken, daß in den Sockeln und Friesen nicht sowohl synchronistische als symphronistische Handlungen und Begebenheiten aufgeführt sind, indem unter allen Völkern gleichbedeutende und Gleiches deutende Nachrichten vorkommen. So erblickt Ihr hier, wenn in dem Hauptfelde Abraham von seinen Göttern in der Gestalt schöner Jünglinge besucht wird, den Apoll unter den Hirten Admets oben in der Friese; woraus wir lernen können, daß, wenn die Götter den Menschen erscheinen, sie gewöhnlich unerkannt unter ihnen wandeln."

Die Betrachtenden schritten weiter. Wilhelm fand meistens bekannte Gegenstände, jedoch lebhafter und bedeutender vorgetragen, als er sie sonst zu sehen gewohnt war. über weniges bat er sich einige Erklärung aus; wobei er sich nicht enthalten konnte, nochmals zu fragen, warum man die israelitische Geschichte vor allen andern gewählt. Hierauf antwortete der älteste: "Unter allen heidnischen Religionen, denn eine solche ist die israelitische gleichfalls, hat diese große Vorzüge, wovon ich nur einiger erwähnen will. Vor dem ethnischen Richterstuhle, vor dem Richterstuhl des Gottes der Völker, wird nicht gefragt, ob es die beste, die vortrefflichste Nation sei, sondern nur, ob sie daure, ob sie sich erhalten habe. Das israelitische Volk hat niemals viel getaugt, wie es ihm seine Anführer, Richter, Vorsteher, Propheten tausendmal vorgeworfen haben; es besitzt wenig Tugenden und die meisten Fehler anderer Völker: aber an Selbständigkeit, Festigkeit, Tapferkeit und, wenn alles das nicht mehr gilt, an Zäheit sucht es seinesgleichen. Es ist das beharrlichste Volk der Erde, es ist, es war, es wird sein, um den Namen Jehova durch alle Zeiten zu verherrlichen. Wir haben es daher als Musterbild aufgestellt, als Hauptbild, dem die andern nur zum Rahmen dienen."

"Es ziemt sich nicht, mit Euch zu rechten", versetzte Wilhelm, "da Ihr mich zu belehren imstande seid. Eröffnet mir daher noch die übrigen Vorteile dieses Volks, oder vielmehr seiner Geschichte, seiner Religion." — "Ein Hauptvorteil", versetzte jener, "ist die treffliche Sammlung ihrer heiligen Bücher. Sie stehen so glücklich beisammen, daß aus den fremdesten Elementen ein täuschendes Ganze entgegentritt. Sie sind vollständig genug, um zu befriedigen, fragmentarisch genug, um anzureizen; hinlänglich barbarisch, um aufzufordern, hinlänglich zart, um zu besänftigen; und wie manche andere entgegengesetzte Eigenschaften sind an diesen Büchern, an diesem Buche zu rühmen!"

Die Folge der Hauptbilder sowohl als die Beziehung der kleinern, die sie oben und unten begleiteten, gab dem Gast so viel zu denken, daß er kaum auf die bedeutenden Bemerkungen hörte, wodurch der Begleiter mehr seine Aufmerksamkeit abzulenken als an die Gegenstände zu fesseln schien. Indessen sagte jener bei Gelegenheit: "Noch einen Vorteil der israelitischen Religion muß ich hier erwähnen: daß sie ihren Gott in keine Gestalt verkörpert und uns also die Freiheit läßt, ihm eine würdige Menschengestalt zu geben, auch im Gegensatz die schlechte Abgötterei durch Tier — und Untiergestalten zu bezeichnen."

Unser Freund hatte sich nunmehr auf einer kurzen Wanderung durch diese Hallen die Weltgeschichte wieder vergegenwärtigt; es war ihm einiges neu in Absicht auf die Begebenheit. So waren ihm durch Zusammenstellung der Bilder, durch die Reflexionen seines Begleiters manche neue Ansichten entsprungen, und er freute sich, daß Felix durch eine so würdige sinnliche Darstellung sich jene großen, bedeutenden, musterhaften Ereignisse für sein ganzes Leben als wirklich, und als wenn sie neben ihm lebendig gewesen wären, zueignen sollte. Er betrachtete diese Bilder zuletzt nur aus den Augen des Kindes, und in diesem Sinne war er vollkommen damit zufrieden; und so waren die Wandelnden zu den traurigen, verworrenen Zeiten und endlich zu dem Untergang der Stadt und des Tempels, zum Morde, zur Verbannung, zur Sklaverei ganzer Massen dieser beharrlichen Nation gelangt. Ihre nachherigen Schicksale waren auf eine kluge Weise allegorisch vorgestellt, da eine historische, eine reale Darstellung derselben außer den Grenzen der edlen Kunst liegt.

Hier war die bisher durchwanderte Galerie auf einmal abgeschlossen, und Wilhelm war verwundert, sich schon am Ende zu sehen. "Ich finde", sagte er zu seinem Führer, "in diesem Geschichtsgang eine Lücke. Ihr habt den Tempel Jerusalems zerstört und das Volk zerstreut, ohne den göttlichen Mann aufzuführen, der kurz vorher daselbst noch lehrte, dem sie noch kurz vorher kein Gehör geben wollten."

"Dies zu tun, wie Ihr es verlangt, wäre ein Fehler gewesen. Das Leben dieses göttlichen Mannes, den Ihr bezeichnet, steht mit der Weltgeschichte seiner Zeit in keiner Verbindung. Es war ein Privatleben, seine Lehre eine Lehre für die Einzelnen. Was Völkermassen und ihren Gliedern öffentlich begegnet, gehört der Weltgeschichte, der Weltreligion, welche wir für die erste halten. Was dem Einzelnen innerlich begegnet, gehört zur zweiten Religion, zur Religion der Weisen: eine solche war die, welche Christus lehrte und übte, solange er auf der Erde umherging. Deswegen ist hier das äußere abgeschlossen, und ich eröffne Euch nun das Innere."

Eine Pforte tat sich auf, und sie traten in eine ähnliche Galerie, wo Wilhelm sogleich die Bilder der zweiten heiligen Schriften erkannte. Sie schienen von einer andern Hand zu sein als die ersten: alles war sanfter, Gestalten, Bewegungen, Umgebung, Licht und Färbung.

"Ihr seht", sagte der Begleiter, nachdem sie an einem Teil der Bilder vorübergegangen waren, "hier weder Taten noch Begebenheiten, sondern Wunder und Gleichnisse. Es ist eine neue Welt, ein neues äußere, anders als das vorige, und ein Inneres, das dort ganz fehlt. Durch Wunder und Gleichnisse wird eine neue Welt aufgetan. Jene machen das Gemeine außerordentlich, diese das Außerordentliche gemein. " — "Ihr werdet die Gefälligkeit haben", versetzte Wilhelm, "mir diese wenigen Worte umständlicher auszulegen: denn ich fühle mich nicht geschickt, es selbst zu tun." — "Sie haben einen natürlichen Sinn", versetzte jener, "obgleich einen tiefen. Beispiele werden ihn am geschwindesten aufschließen. Es ist nichts gemeiner und gewöhnlicher als Essen und Trinken; außerordentlich dagegen, einen Trank zu veredeln, eine Speise zu vervielfältigen, daß sie für eine Unzahl hinreiche. Es ist nichts gewöhnlicher als Krankheit und körperliche Gebrechen; aber diese durch geistige oder geistigen ähnlichen Mittel aufheben, lindern ist außerordentlich, und eben daher entsteht das Wunderbare des Wunders, daß das Gewöhnliche und das Außerordentliche, das Mögliche und das Unmögliche eins werden. Bei dem Gleichnisse, bei der Parabel ist das Umgekehrte: hier ist der Sinn, die Einsicht, der Begriff das Hohe, das Außerordentliche, das Unerreichbare. Wenn dieser sich in einem gemeinen, gewöhnlichen, faßlichen Bilde verkörpert, so daß er uns als lebendig, gegenwärtig, wirklich entgegentritt, daß wir ihn uns zueignen, ergreifen, festhalten, mit ihm wie mit unsersgleichen umgehen können, das ist denn auch eine zweite Art von Wunder und wird billig zu jenen ersten gesellt, ja vielleicht ihnen noch vorgezogen. Hier ist die lebendige Lehre ausgesprochen, die Lehre, die keinen Streit erregt; es ist keine Meinung über das, was Recht oder Unrecht ist; es ist das Rechte oder Unrechte unwidersprechlich selbst."

Dieser Teil der Galerie war kürzer, oder vielmehr es war nur der vierte Teil der Umgebung des innern Hofes. Wenn man jedoch an dem ersten nur vorbeiging, so verweilte man hier gern; man ging gern hier auf und ab. Die Gegenstände waren nicht so auffallend, nicht so mannigfaltig; aber desto einladender, den tiefen, stillen Sinn derselben zu erforschen. Auch kehrten die beiden Wandelnden am Ende des Ganges um, indem Wilhelm eine Bedenklichkeit äußerte, daß man hier eigentlich nur bis zum Abendmahle, bis zum Scheiden des Meisters von seinen Jüngern gelangt sei. Er fragte nach dem übrigen Teil der Geschichte.

"Wir sondern", versetzte der älteste, "bei jedem Unterricht, bei aller überlieferung sehr gerne, was nur möglich zu sondern ist; denn dadurch allein kann der Begriff des Bedeutenden bei der Jugend entspringen. Das Leben mengt und mischt ohnehin alles durcheinander, und so haben wir auch hier das Leben jenes vortrefflichen Mannes ganz von dem Ende desselben abgesondert. Im Leben erscheint er als ein wahrer Philosoph — stoßet Euch nicht an diesen Ausdruck — , als ein Weiser im höchsten Sinne. Er steht auf seinem Punkte fest; er wandelt seine Straße unverrückt, und indem er das Niedere zu sich heraufzieht, indem er die Unwissenden, die Armen, die Kranken seiner Weisheit, seines Reichtums, seiner Kraft teilhaftig werden läßt und sich deshalb ihnen gleichzustellen scheint, so verleugnet er nicht von der andern Seite seinen göttlichen Ursprung; er wagt, sich Gott gleichzustellen, ja sich für Gott zu erklären. Auf diese Weise setzt er von Jugend auf seine Umgebung in Erstaunen, gewinnt einen Teil derselben für sich, regt den andern gegen sich auf und zeigt allen, denen es um eine gewisse Höhe im Lehren und Leben zu tun ist, was sie von der Welt zu erwarten haben. Und so ist sein Wandel für den edlen Teil der Menschheit noch belehrender und fruchtbarer als sein Tod: denn zu jenen Prüfungen ist jeder, zu diesem sind nur wenige berufen; und damit wir alles übergehen, was aus dieser Betrachtung folgt, so betrachtet die rührende Szene des Abendmahls. Hier läßt der Weise, wie immer, die Seinigen ganz eigentlich verwaist zurück, und indem er für die Guten besorgt ist, füttert er zugleich mit ihnen einen Verräter, der ihn und die Bessern zugrunde richten wird."

Mit diesen Worten eröffnete der älteste eine Pforte, und Wilhelm stutzte, als er sich wieder in der ersten Halle des Eingangs fand. Sie hatten, wie er wohl merkte, indessen den ganzen Umkreis des Hofes zurückgelegt. "Ich hoffte", sagte Wilhelm. "Ihr würdet mich ans Ende führen, und bringt mich wieder zum Anfang." — "Für diesmal kann ich Euch weiter nichts zeigen", sagte der älteste; "mehr lassen wir unsere Zöglinge nicht sehen, mehr erklären wir ihnen nicht, als was Ihr bis jetzt durchlaufen habt; das äußere allgemein Weltliche einem jeden von Jugend auf, das innere besonders Geistige und Herzliche nur denen, die mit einiger Besonnenheit heranwachsen, und das übrige, was des Jahrs nur einmal eröffnet wird, kann nur denen mitgeteilt werden, die wir entlassen. Jene letzte Religion, die aus der Ehrfurcht vor dem, was unter uns ist, entspringt, jene Verehrung des Widerwärtigen, Verhaßten, Fliehenswerten geben wir einem jeden nur ausstattungsweise in die Welt mit, damit er wisse, wo er dergleichen zu finden hat, wenn ein solches Bedürfnis sich in ihm regen sollte. Ich lade Euch ein, nach Verlauf eines Jahres wiederzukehren, unser allgemeines Fest zu besuchen und zu sehen, wie weit Euer Sohn vorwärts gekommen; alsdann sollt auch Ihr in das Heiligtum des Schmerzes eingeweiht werden."

"Erlaubt mir eine Frage", versetzte Wilhelm. "Habt ihr denn auch, so wie ihr das Leben dieses göttlichen Mannes als Lehr — und Musterbild aufstellt, sein Leiden, seinen Tod gleichfalls als ein Vorbild erhabener Duldungen herausgehoben?" — "Auf alle Fälle", sagte der älteste. "Hieraus machen wir kein Geheimnis; aber wir ziehen einen Schleier über diese Leiden, eben weil wir sie so hoch verehren. Wir halten es für eine verdammungswürdige Frechheit, jenes Martergerüst und den daran leidenden Heiligen dem Anblick der Sonne auszusetzen, die ihr Angesicht verbarg, als eine ruchlose Welt ihr dies Schauspiel aufdrang, mit diesen tiefen Geheimnissen, in welchen die göttliche Tiefe des Leidens verborgen liegt, zu spielen, zu tändeln, zu verzieren und nicht eher zu ruhen, bis das Würdigste gemein und abgeschmackt erscheint. So viel sei für diesmal genug, um Euch über Euren Knaben zu beruhigen und völlig zu überzeugen, daß Ihr ihn auf irgendeine Art, mehr oder weniger, aber doch nach wünschenswerter Weise gebildet und auf alle Fälle nicht verworren, schwankend und unstät wiederfinden sollt."

Wilhelm zauderte, indem er sich die Bilder der Vorhalle besah und ihren Sinn gedeutet wünschte. "Auch dieses", sagte der älteste, "bleiben wir Euch bis übers Jahr schuldig. Bei dem Unterricht, den wir in der Zwischenzeit den Kindern geben, lassen wir keine Fremden zu; aber alsdann kommt und vernehmt, was unsere besten Redner über diese Gegenstände öffentlich zu sagen für dienlich halten."

Bald nach dieser Unterredung hörte man an der kleine Pforte pochen. Der gestrige Aufseher meldete sich, er hatte Wilhelms Pferd vorgeführt, und so beurlaubte sich der Freund von der Dreie, welche zum Abschied ihn dem Aufseher folgendermaßen empfahl: "Dieser wird nun zu den Vertrauten gezählt, und dir ist bekannt, was du ihm auf seine Fragen zu erwidern hast: denn er wünscht gewiß noch über manches, was er bei uns sah und hörte, belehrt zu werden; Maß und Ziel ist dir nicht verborgen."

Wilhelm hatte freilich noch einige Fragen auf dem Herzen, die er auch sogleich anbrachte. Wo sie durchritten, stellten sich die Kinder wie gestern; aber heute sah er, obgleich selten, einen und den andern Knaben, der den vorbereitenden Aufseher nicht grüßte, von seiner Arbeit nicht aufsah und ihn unbemerkt vorüberließ. Wilhelm fragte nun nach der Ursache und was diese Ausnahme zu bedeuten habe. Jener erwiderte darauf: "Sie ist freilich sehr bedeutungsvoll: denn es ist die höchste Strafe, die wir den Zöglingen auflegen, sie sind unwürdig erklärt, Ehrfurcht zu beweisen, und genötigt, sich als roh und ungebildet darzustellen; sie tun aber das mögliche, um sich aus dieser Lage zu retten, und finden sich aufs geschwindeste in jede Pflicht. Sollte jedoch ein junges Wesen verstockt zu seiner Rückkehr keine Anstalt machen, so wird es mit einem kurzen, aber bündigen Bericht den Eltern wieder zurückgesandt. Wer sich den Gesetzen nicht fügen lernt, muß die Gegend verlassen, wo sie gelten."

Ein anderer Anblick reizte, heute wie gestern, des Wanderers Neugierde; es war Mannigfaltigkeit an Farbe und Schnitt der Zöglingskleidung; hier schien kein Stufengang obzuwalten, denn solche, die verschieden grüßten, waren überein gekleidet, gleich Grüßende waren anders angezogen. Wilhelm fragte nach der Ursache dieses scheinbaren Widerspruchs. "Er löst sich", versetzte jener, "darin auf, daß es ein Mittel ist, die Gemüter der Knaben eigens zu erforschen. Wir lassen, bei sonstiger Strenge und Ordnung, in diesem Falle eine gewisse Willkür gelten. Innerhalb des Kreises unserer Vorräte an Tüchern und Verbrämungen dürfen die Zöglinge nach beliebiger Farbe greifen, so auch innerhalb einer mäßigen Beschränkung Form und Schnitt wählen; dies beobachten wir genau, denn an der Farbe läßt sich die Sinnesweise, an dem Schnitt die Lebensweise des Menschen erkennen. Doch macht eine besondere Eigenheit der menschlichen Natur eine genauere Beurteilung gewissermaßen schwierig; es ist der Nachahmungsgeist, die Neigung, sich anzuschließen. Sehr selten, daß ein Zögling auf etwas fällt, was noch nicht dagewesen, meistens wählen sie etwas Bekanntes, was sie gerade vor sich sehen. Doch auch diese Betrachtung bleibt uns nicht unfruchtbar, durch solche äußerlichkeiten treten sie zu dieser oder jener Partei, sie schließen sich da oder dort an, und so zeichnen sich allgemeinere Gesinnungen aus, wir erfahren, wo jeder sich hinneigt, welchem Beispiel er sich gleichstellt.

Nun hat man Fälle gesehen, wo die Gemüter sich ins Allgemeine neigten, wo eine Mode sich über alle verbreiten, jede Absonderung sich zur Einheit verlieren wollte. Einer solchen Wendung suchen wir auf gelinde Weise Einhalt zu tun, wir lassen die Vorräte ausgehen; dieses und jenes Zeug, eine und die andere Verzierung ist nicht mehr zu haben; wir schieben etwas Neues, etwas Reizendes herein, durch helle Farben und kurzen, knappen Schnitt locken wir die Muntern, durch ernste Schattierungen, bequeme, faltenreiche Tracht die Besonnenen und stellen so nach und nach ein Gleichgewicht her.

Denn der Uniform sind wir durchaus abgeneigt, sie verdeckt den Charakter und entzieht die Eigenheiten der Kinder, mehr als jede andere Verstellung, dem Blicke der Vorgesetzten."

Unter solchen und andern Gesprächen gelangte Wilhelm an die Grenze der Provinz, und zwar an den Punkt, wo sie der Wanderer, nach des alten Freundes Andeutung, verlassen sollte, um seinem eigentlichen Zweck entgegenzusehen.

Beim Lebewohl bemerkte zunächst der Aufseher: Wilhelm möge nun erwarten, bis das große Fest allen Teilnehmern auf mancherlei Weise angekündigt werde. Hierzu würden die sämtlichen Eltern eingeladen und tüchtige Zöglinge ins freie, zufällige Leben entlassen. Alsdann solle er, hieß es, auch die übrigen Landschaften nach Belieben betreten, wo, nach eigenen Grundsätzen, der einzelne Unterricht in vollständiger Umgebung erteilt und ausgeübt wird.

Drittes Kapitel

Der Angewöhnung des werten Publikums zu schmeicheln, welches seit geraumer Zeit Gefallen findet, sich stückweise unterhalten zu lassen, gedachten wir erst, nachstehende Erzählung in mehreren Abteilungen vorzulegen. Der innere Zusammenhang jedoch, nach Gesinnungen, Empfindungen und Ereignissen betrachtet, veranlaßte einen fortlaufenden Vortrag. Möge derselbe seinen Zweck erreichen und zugleich am Ende deutlich werden, wie die Personen dieser abgesondert scheinenden Begebenheit mit denjenigen, die wir schon kennen und lieben, aufs innigste zusammengeflochten worden. Der Mann von funfzig Jahren Der Major war in den Gutshof hereingeritten, und Hilarie, seine Nichte, stand schon, um ihn zu empfangen, außen auf der Treppe, die zum Schloß hinaufführte. Kaum erkannte er sie; denn schon war sie wieder größer und schöner geworden. Sie flog ihm entgegen, er drückte sie an seine Brust mit dem Sinn eines Vaters, und sie eilten hinauf zu ihrer Mutter.

Der Baronin, seiner Schwester, war er gleichfalls willkommen, und als Hilarie schnell hinwegging, das Frühstück zu bereiten, sagte der Major freudig: "Diesmal kann ich mich kurz fassen und sagen, daß unser Geschäft beendigt ist. Unser Bruder, der Obermarschall, sieht wohl ein, daß er weder mit Pächtern noch Verwaltern zurechtkommt. Er tritt bei seinen Lebzeiten die Güter uns und unsern Kindern ab; das Jahrgehalt, das er sich ausbedingt, ist freilich stark; aber wir können es ihm immer geben: wir gewinnen doch noch für die Gegenwart viel und für die Zukunft alles. Die neue Einrichtung soll bald in Ordnung sein. Da ich zunächst meinen Abschied erwarte, so sehe ich doch wieder ein tätiges Leben vor mir, das uns und den Unsrigen einen entschiedenen Vorteil bringen kann. Wir sehen ruhig zu, wie unsre Kinder emporwachsen, und es hängt von uns, von ihnen ab, ihre Verbindung zu beschleunigen."

"Das wäre alles recht gut", sagte die Baronin, "wenn ich dir nur nicht ein Geheimnis zu entdecken hätte, das ich selbst erst gewahr worden bin. Hilariens Herz ist nicht mehr frei; von der Seite hat dein Sohn wenig oder nichts zu hoffen."

"Was sagst du?" rief der Major; "ist's möglich? indessen wir uns alle Mühe geben, uns ökonomisch vorzusehen, so spielt uns die Neigung einen solchen Streich! Sag' mir, Liebe, sag' mir geschwind, wer ist es, der das Herz Hilariens fesseln konnte? Oder ist es denn auch schon so arg? Ist es nicht vielleicht ein flüchtiger Eindruck, den man wieder auszulöschen hoffen kann?"

"Du mußt erst ein wenig sinnen und raten", versetzte die Baronin und vermehrte dadurch seine Ungeduld. Sie war schon aufs höchste gestiegen, als Hilarie, mit den Bedienten, welche das Frühstück trugen, hereintretend, eine schnelle Auflösung des Rätsels unmöglich machte.

Der Major selbst glaubte das schöne Kind mit andern Augen anzusehen als kurz vorher. Es war ihm beinahe, als wenn er eifersüchtig auf den Beglückten wäre, dessen Bild sich in einem so schönen Gemüt hatte eindrücken können. Das Frühstück wollte ihm nicht schmecken, und er bemerkte nicht, daß alles genau so eingerichtet war, wie er es am liebsten hatte und wie er es sonst zu wünschen und zu verlangen pflegte. über dieses Schweigen und Stocken verlor Hilarie fast selbst ihre Munterkeit. Die Baronin fühlte sich verlegen und zog ihre Tochter ans Klavier; aber ihr geistreiches und gefühlvolles Spiel konnte dem Major kaum einigen Beifall ablocken. Er wünschte das schöne Kind und das Frühstück je eher je lieber entfernt zu sehen, und die Baronin mußte sich entschließen, aufzubrechen und ihrem Bruder einen Spaziergang in den Garten vorzuschlagen.

Kaum waren sie allein, so wiederholte der Major dringend seine vorige Frage; worauf seine Schwester nach einer Pause lächelnd versetzte: "Wenn du den Glücklichen finden willst, den sie liebt, so brauchst du nicht weit zu gehen, er ist ganz in der Nähe: dich liebt sie."

Der Major stand betroffen, dann rief er aus: "Es wäre ein sehr unzeitiger Scherz, wenn du mich etwas überreden wolltest, das mich im Ernst so verlegen wie unglücklich machen würde. Denn ob ich gleich Zeit brauche, mich von meiner Verwunderung zu erholen, so sehe ich doch mit einem Blicke voraus, wie sehr unsere Verhältnisse durch ein so unerwartetes Ereignis gestört werden müßten. Das einzige, was mich tröstet, ist die überzeugung, daß Neigungen dieser Art nur scheinbar sind, daß ein Selbstbetrug dahinter verborgen liegt, und daß eine echte, gute Seele von dergleichen Fehlgriffen oft durch sich selbst oder doch wenigstens mit einiger Beihülfe verständiger Personen gleich wieder zurückkommt."

"Ich bin dieser Meinung nicht", sagte die Baronin; "denn nach allen Symptomen ist es ein sehr ernstliches Gefühl, von welchem Hilarie durchdrungen ist."

"Etwas so Unnatürliches hätte ich ihrem natürlichen Wesen nicht zugetraut", versetzte der Major.

"Es ist so unnatürlich nicht", sagte die Schwester. "Aus meiner Jugend erinnere ich mich selbst einer Leidenschaft für einen älteren Mann, als du bist. Du hast funfzig Jahre; das ist immer noch nicht gar zu viel für einen Deutschen, wenn vielleicht andere, lebhaftere Nationen früher altern."

"Wodurch willst du aber deine Vermutung bekräftigen?" sagte der Major.

"Es ist keine Vermutung, es ist Gewißheit. Das Nähere sollst du nach und nach vernehmen."

Hilarie gesellte sich zu ihnen, und der Major fühlte sich, wider seinen Willen, abermals verändert. Ihre Gegenwart deuchte ihn noch lieber und werter als vorher; ihr Betragen schien ihm liebevoller, und schon fing er an, den Worten seiner Schwester Glauben beizumessen. Die Empfindung war für ihn höchst angenehm, ob er sich gleich solche weder gestehen noch erlauben wollte. Freilich war Hilarie höchst liebenswürdig, indem sich in ihrem Betragen die zarte Scheu gegen einen Liebhaber und die freie Bequemlichkeit gegen einen Oheim auf das innigste verband; denn sie liebte ihn wirklich und von ganzer Seele. Der Garten war in seiner vollen Frühlingspracht, und der Major, der so viele alte Bäume sich wieder belauben sah, konnte auch an die Wiederkehr seines eignen Frühlings glauben. Und wer hätte sich nicht in der Gegenwart des liebenswürdigsten Mädchens dazu verführen lassen!

So verging ihnen der Tag zusammen; alle häuslichen Epochen wurden mit der größten Gemütlichkeit durchlebt; abends nach Tisch setzte sich Hilarie wieder ans Klavier; der Major hörte mit andern Ohren als heute früh; eine Melodie schlang sich in die andere, ein Lied schloß sich ans andere, und kaum vermochte die Mitternacht die kleine Gesellschaft zu trennen.

Als der Major auf seinem Zimmer ankam, fand er alles nach seiner alten, gewohnten Bequemlichkeit eingerichtet; sogar einige Kupferstiche, bei denen er gern verweilte, waren aus andern Zimmern herübergehängt; und da er einmal aufmerksam geworden war, so sah er sich bis auf jeden einzelnen kleinen Umstand versorgt und geschmeichelt.

Nur wenig Stunden Schlaf bedurfte er diesmal; seine Lebensgeister waren früh aufgeregt. Aber nun merkte er auf einmal, daß eine neue Ordnung der Dinge manches Unbequeme nach sich ziehe. Er hatte seinem alten Reitknecht, der zugleich die Stelle des Bedienten und Kammerdieners vertrat, seit mehreren Jahren kein böses Wort gegeben: denn alles ging in der strengsten Ordnung seinen gewöhnlichen Gang; die Pferde waren versorgt und die Kleidungsstücke zu rechter Stunde gereinigt; aber der Herr war früher aufgestanden, und nichts wollte passen.

Sodann gesellte sich noch ein anderer Umstand hinzu, um die Ungeduld und eine Art böser Laune des Majors zu vermehren. Sonst war ihm alles an sich und seinem Diener recht gewesen; nun aber fand er sich, als er vor den Spiegel trat, nicht so, wie er zu sein wünschte. Einige graue Haare konnte er nicht leugnen, und von Runzeln schien sich auch etwas eingefunden zu haben. Er wischte und puderte mehr als sonst und mußte es doch zuletzt lassen, wie es sein konnte. Auch mit der Kleidung und ihrer Sauberkeit war er nicht zufrieden. Da sollten sich immer noch Fasern auf dem Rock und noch Staub auf den Stiefeln finden. Der Alte wußte nicht, was er sagen sollte, und war erstaunt, einen so veränderten Herrn vor sich zu sehen.

Ungeachtet aller dieser Hindernisse war der Major schon früh genug im Garten. Hilarien, die er zu finden hoffte, fand er wirklich. Sie brachte ihm einen Blumenstrauß entgegen, und er hatte nicht den Mut, sie wie sonst zu küssen und an sein Herz zu drücken. Er befand sich in der angenehmsten Verlegenheit von der Welt und überließ sich seinen Gefühlen, ohne zu denken, wohin das führen könne.

Die Baronin gleichfalls säumte nicht lange zu erscheinen, und indem sie ihrem Bruder ein Billet wies, das ihr eben ein Bote gebracht hatte, rief sie aus: "Du rätst nicht, wen uns dieses Blatt anzumelden kommt." — "So entdecke es nur bald!" versetzte der Major; und er erfuhr, daß ein alter theatralischer Freund nicht weit von dem Gute vorbeireise und für einen Augenblick einzukehren gedenke. "Ich bin neugierig, ihn wiederzusehen", sagte der Major; "er ist kein Jüngling mehr, und ich höre, daß er noch immer die jungen Rollen spielt." — "Er muß um zehn Jahre älter sein als du", versetzte die Baronin. — "Ganz gewiß", erwiderte der Major, "nach allem, was ich mich erinnere."

Es währte nicht lange, so trat ein munterer, wohlgebauter, gefälliger Mann herzu. Man stutzte einen Augenblick, als man sich wiedersah. Doch sehr bald erkannten sich die Freunde, und Erinnerungen aller Art belebten das Gespräch. Hierauf ging man zu Erzählungen, zu Fragen und zu Rechenschaft über; man machte sich wechselweise mit den gegenwärtigen Lagen bekannt und fühlte sich bald, als wäre man nie getrennt gewesen.

Die geheime Geschichte sagt uns, daß dieser Mann in früherer Zeit, als ein sehr schöner und angenehmer Jüngling, einer vornehmen Dame zu gefallen das Glück oder Unglück gehabt habe; daß er dadurch in große Verlegenheit und Gefahr geraten, woraus ihn der Major eben im Augenblick, als ihn das traurigste Schicksal bedrohte, glücklich herausriß. Ewig blieb er dankbar, dem Bruder sowohl als der Schwester; denn diese hatte durch zeitige Warnung zur Vorsicht Anlaß gegeben.

Einige Zeit vor Tische ließ man die Männer allein. Nicht ohne Bewunderung, ja gewissermaßen mit Erstaunen hatte der Major das äußere Behaben seines alten Freundes im ganzen und einzelnen betrachtet. Er schien gar nicht verändert zu sein, und es war kein Wunder, daß er noch immer als jugendlicher Liebhaber auf dem Theater erscheinen konnte. "Du betrachtest mich aufmerksamer als billig ist", sprach er endlich den Major an; "ich fürchte sehr, du findest den Unterschied gegen vorige Zeit nur allzu groß." — "Keineswegs", versetzte der Major, "vielmehr bin ich voll Verwunderung, dein Aussehen frischer und jünger zu finden als das meine; da ich doch weiß, daß du schon ein gemachter Mann warst, als ich, mit der Kühnheit eines wagehalsigen Gelbschnabels, dir in gewissen Verlegenheiten beistand." — "Es ist deine Schuld", versetzte der andere, "es ist die Schuld aller deinesgleichen; und ob ihr schon darum nicht zu schelten seid, so seid ihr doch zu tadeln. Man denkt immer nur ans Notwendige; man will sein und nicht scheinen. Das ist recht gut, solange man etwas ist. Wenn aber zuletzt das Sein mit dem Scheinen sich zu empfehlen anfängt und der Schein noch flüchtiger als das Sein ist, so merkt denn doch ein jeder, daß er nicht übel getan hätte, das äußere über dem Innern nicht ganz zu vernachlässigen." — "Du hast recht", versetzte der Major und konnte sich fast eines Seufzers nicht enthalten "Vielleicht nicht ganz recht", sagte der bejahrte Jüngling; "denn freilich bei meinem Handwerke wäre es ganz unverzeihlich, wenn man das äußere nicht so lange aufstutzen wollte, als nur möglich ist. Ihr andern aber habt Ursache, auf andere Dinge zu sehen, die bedeutender und nachhaltiger sind." — "Doch gibt es Gelegenheiten", sagte der Major, "wo man sich innerlich frisch fühlt und sein äußeres auch gar zu gern wieder auffrischen möchte."

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27 eylül 2017
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