Kitabı oku: «Wilhelm Meisters Wanderjahre — Band 2», sayfa 7
Siebentes Kapitel
Nachdem unser Freund vorstehende Briefe abgelassen, schritt er, durch manchen benachbarten Gebirgszug fortwandernd, immer weiter, bis die herrliche Talgegend sich ihm eröffnete, wo er, vor Beginn eines neuen Lebensganges, so manches abzuschließen gedachte. Unerwartet traf er hier auf einen jungen, lebhaften Reisegefährten, durch welchen seinem Bestreben und seinem Genuß manches zu Gunsten gereichen sollte. Er findet sich mit einem Maler zusammen, welcher, wie dergleichen viele in der offnen Welt, mehrere noch in Romanen und Dramen umherwandeln und spuken, sich diesmal als ein ausgezeichneter Künstler darstellte. Beide schicken sich gar bald ineinander, vertrauen sich wechselseitig Neigungen, Absichten, Vorsätze, und nun wird offenbar, daß der treffliche Künstler, der aquarellierte Landschaften mit geistreicher, wohl gezeichneter und ausgeführter Staffage zu schmücken weiß, leidenschaftlich eingenommen sei von Mignons Schicksalen, Gestalt und Wesen. Er hatte sie gar oft schon vorgestellt und begab sich nun auf die Reise, die Umgebungen, worin sie gelebt, der Natur nachzubilden; hier das liebliche Kind in glücklichen und unglücklichen Umgebungen und Augenblicken darzustellen und so ihr Bild, das in allen zarten Herzen lebt, auch dem Sinne des Auges hervorzurufen.
Die Freunde gelangen bald zum großen See, Wilhelm trachtet, die angedeuteten Stellen nach und nach aufzufinden. Ländliche Prachthäuser, weitläufige Klöster, überfahrten und Buchten, Erdzungen und Landungsplätze wurden gesucht und die Wohnungen kühner und gutmütiger Fischer so wenig als die heiter gebauten Städtchen am Ufer und Schlößchen auf benachbarten Höhen vergessen. Dies alles weiß der Künstler zu ergreifen, durch Beleuchten und Färben der jedesmal geschichtlich erregten Stimmung anzueignen, so daß Wilhelm seine Tage und Stunden in durchgreifender Rührung zubrachte.
Auf mehreren Blättern war Mignon im Vordergrunde, wie sie leibte und lebte, vorgestellt, indem Wilhelm der glücklichen Einbildungskraft des Freundes durch genaue Beschreibung nachzuhelfen und das allgemeiner Gedachte ins Engere der Persönlichkeit einzufassen wußte.
Und so sah man denn das Knaben-Mädchen in mannigfaltiger Stellung und Bedeutung aufgeführt. Unter dem hohen Säulenportale des herrlichen Landhauses stand sie, nachdenklich die Statuen der Vorhalle betrachtend. Hier schaukelte sie sich plätschernd auf dem angebundenen Kahn, dort erkletterte sie den Mast und erzeigte sich als ein kühner Matrose.
Ein Bild aber tat sich vor allen hervor, welches der Künstler auf der Herreise, noch eh' er Wilhelmen begegnet, mit allen Charakterzügen sich angeeignet hatte. Mitten im rauhen Gebirge glänzt der anmutige Scheinknabe, von Sturzfelsen umgeben, von Wasserfällen besprüht, mitten in einer schwer zu beschreibenden Horde. Vielleicht ist eine grauerliche, steile Urgebirg-Schlucht nie anmutiger und bedeutender staffiert worden. Die bunte, zigeunerhafte Gesellschaft, roh zugleich und phantastisch, seltsam und gemein, zu locker, um Furcht einzuflößen, zu wunderlich, um Vertrauen zu erwecken. Kräftige Saumrosse schleppen, bald über Knüppelwege, bald eingehauene Stufen hinab, ein buntverworrenes Gepäck, an welchem herum die sämtlichen Instrumente einer betäubenden Musik, schlotternd aufgehängt, das Ohr mit rauhen Tönen von Zeit zu Zeit belästigen. Zwischen allem dem das liebenswürdige Kind, in sich gekehrt ohne Trutz, unwillig ohne Widerstreben, geführt, aber nicht geschleppt. Wer hätte sich nicht des merkwürdigen, ausgeführten Bildes gefreut? Kräftig charakterisiert war die grimmige Enge dieser Felsmassen; die alles durchschneidenden schwarzen Schluchten, zusammengetürmt, allen Ausgang zu hindern drohend, hätte nicht eine kühne Brücke auf die Möglichkeit, mit der übrigen Welt in Verbindung zu gelangen, hingedeutet. Auch ließ der Künstler mit klugdichtendem Wahrheitssinne eine Höhle merklich werden, die man als Naturwerkstatt mächtiger Kristalle oder als Aufenthalt einer fabelhaft-furchtbaren Drachenbrut ansprechen konnte.
Nicht ohne heilige Scheu besuchten die Freunde den Palast des Marchese; der Greis war von seiner Reise noch nicht zurück; sie wurden aber auch in diesem Bezirk, weil sie sich mit geistlichen und weltlichen Behörden wohl zu benehmen wußten, freundlich empfangen und behandelt.
Die Abwesenheit des Hausherrn jedoch empfand Wilhelm sehr angenehm; denn ob er gleich den würdigen Mann gerne wieder gesehen und herzlich begrüßt hätte, so fürchtete er sich doch vor dessen dankbarer Freigebigkeit und vor irgendeiner aufgedrungenen Belohnung jenes treuen, liebevollen Handelns, wofür er schon den zartesten Lohn dahingenommen hatte.
Und so schwammen die Freunde auf zierlichem Nachen von Ufer zu Ufer, den See in jeder Richtung durchkreuzend. In der schönsten Jahrszeit entging ihnen weder Sonnenaufgang noch — untergang und keine der tausend Schattierungen, mit denen das Himmelslicht sein Firmament und von da See und Erde freigebigst überspendet und sich im Abglanz erst vollkommen verherrlicht.
Eine üppige Pflanzenwelt, ausgesäet von Natur, durch Kunst gepflegt und gefördert, umgab sie überall. Schon die ersten Kastanienwälder hatten sie willkommen geheißen, und nun konnten sie sich eines traurigen Lächelns nicht enthalten, wenn sie, unter Zypressen gelagert, den Lorbeer aufsteigen, den Granatapfel sich röten, Orangen und Zitronen in Blüte sich entfalten und Früchte zugleich aus dem dunklen Laube hervorglühend erblickten.
Durch den frischen Gesellen entstand jedoch für Wilhelm ein neuer Genuß. Unserm alten Freund hatte die Natur kein malerisches Auge gegeben. Empfänglich für sichtbare Schönheit nur an menschlicher Gestalt, ward er auf einmal gewahr: ihm sei durch einen gleichgestimmten, aber zu ganz andern Genüssen und Tätigkeiten gebildeten Freund die Umwelt aufgeschlossen.
In gesprächiger Hindeutung auf die wechselnden Herrlichkeiten der Gegend, mehr aber noch durch konzentrierte Nachahmung wurden ihm die Augen aufgetan und er von allen sonst hartnäckig gehegten Zweifeln befreit. Verdächtig waren ihm von jeher Nachbildungen italienischer Gegenden gewesen; der Himmel schien ihm zu blau, der violette Ton reizender Fernen zwar höchst lieblich, doch unwahr und das mancherlei frische Grün doch gar zu bunt; nun verschmolz er aber mit seinem neuen Freunde aufs innigste und lernte, empfänglich wie er war, mit dessen Augen die Welt sehen, und indem die Natur das offenbare Geheimnis ihrer Schönheit entfaltete, mußte man nach Kunst als der würdigsten Auslegerin unbezwingliche Sehnsucht empfinden.
Aber ganz unerwartet kam der malerische Freund ihm von einer andern Seite entgegen; dieser hatte manchmal einen heitern Gesang angestimmt und dadurch ruhige Stunden auf weit — und breiter Wellenfahrt gar innig belebt und begleitet. Nun aber traf sich's, daß er in einem der Paläste ein ganz eigenes Saitenspiel fand, eine Laute in kleinem Format, kräftig, vollklingend, bequem und tragbar; er wußte das Instrument alsbald zu stimmen, so glücklich und angenehm zu behandeln und die Gegenwärtigen so freundlich zu unterhalten, daß er, als neuer Orpheus, den sonst strengen und trocknen Kastellan erweichend bezwang und ihn freundlich nötigte, das Instrument dem Sänger auf eine Zeitlang zu überlassen, mit der Bedingung, solches vor der Abreise treulich wiederzugeben, auch in der Zwischenzeit an irgendeinem Sonn — oder Feiertage zu erscheinen und die Familie zu erfreuen.
Ganz anders war nunmehr See und Ufer belebt, Boot und Kahn buhlten um ihre Nachbarschaft, selbst Fracht — und Marktschiffe verweilten in ihrer Nähe, Reihen von Menschen zogen am Strande nach, und die Landenden sahen sich sogleich von einer frohsinnigen Menge umgeben; die Scheidenden segnete jedermann, zufrieden, doch sehnsuchtsvoll.
Nun hätte zuletzt ein Dritter, die Freunde beobachtend, gar wohl bemerken können, daß die Sendung beider eigentlich geendigt sei: alle die auf Mignon sich beziehenden Gegenden und Lokalitäten waren sämtlich umrissen, teils in Licht, Schatten und Farbe gesetzt, teils in heißen Tagesstunden treulich ausgeführt. Dies zu leiten, hatten sie sich auf eine eigne Weise von Ort zu Ort bewegt, weil ihnen Wilhelms Gelübde gar oft hinderlich war; doch wußten sie solches gelegentlich zu umgehen durch die Auslegung: es gelte nur für das Land, auf dem Wasser sei es nicht anwendbar.
Auch fühlte Wilhelm selbst, daß ihre eigentliche Absicht erreicht sei, aber leugnen konnte er sich nicht, daß der Wunsch, Hilarien und die schöne Witwe zu sehen, auch noch befriedigt werden müsse, wenn man mit freiem Sinne diese Gegend verlassen wollte. Der Freund, dem er die Geschichte vertraut, war nicht weniger neugierig und freute sich schon, einen herrlichen Platz in einer seiner Zeichnungen leer und ledig zu wissen, den er mit den Gestalten so holder Personen künstlerisch zu verzieren gedachte.
Nun stellten sie Kreuz-und-Quer-Fahrten an, die Punkte, wo der Fremde in dieses Paradies einzutreten pflegt, beobachtend. Ihre Schiffer hatten sie mit der Hoffnung, Freunde hier zu sehen, bekannt gemacht, und nun dauerte es nicht lange, so sahen sie ein wohlverziertes Prachtschiff herangleiten, worauf sie Jagd machten und sich nicht enthielten, sogleich leidenschaftlich zu entern. Die Frauenzimmer, einigermaßen betroffen, faßten sich sogleich, als Wilhelm das Blättchen vorwies und beide den von ihnen selbst vorgezeichneten Pfeil ohne Bedenken anerkannten. Die Freunde wurden alsbald zutraulich eingeladen, das Schiff der Damen zu besteigen, welches eilig geschah.
Und nun vergegenwärtige man sich die viere, wie sie, im zierlichsten Raum beisammen, gegen einander über sitzen in der seligsten Welt, von lindem Lufthauch angeweht, auf glänzenden Wellen geschaukelt. Man denke das weibliche Paar, wie wir sie vor kurzem geschildert gesehen, das männliche, mit dem wir schon seit Wochen ein gemeinsames Reiseleben führen, und wir sehen sie nach einiger Betrachtung sämtlich in der anmutigsten, obgleich gefährlichsten Lage.
Für die drei, welche sich schon, willig oder unwillig, zu den Entsagenden gezählt, ist nicht das Schwerste zu besorgen, der Vierte jedoch dürfte sich nur allzubald in jenen Orden aufgenommen sehen.
Nachdem man einigemal den See durchkreuzt und auf die interessantesten Lokalitäten sowohl des Ufers als der Inseln hingedeutet hatte, brachte man die Damen gegen den Ort, wo sie übernachten sollten und wo ein gewandter, für diese Reise angenommener Führer alle wünschenswerten Bequemlichkeiten zu besorgen wußte. Hier war nun Wilhelms Gelübde ein schicklicher, aber unbequemer Zeremonienmeister; denn gerade an dieser Station hatten die Freunde vor kurzem drei Tage zugebracht und alles Merkwürdige der Umgebung erschöpft. Der Künstler, welchen kein Gelübde zurückhielt, wollte die Erlaubnis erbitten, die Damen ans Land zu geleiten, die es aber ablehnten, weswegen man sich in einiger Entfernung vom Hafen trennte.
Kaum war der Sänger in sein Schiff gesprungen, das sich eiligst vom Ufer entfernte, als er nach der Laute griff und jenen wundersam-klagenden Gesang, den die venezianischen Schiffer von Land zu See, von See zu Land erschallen lassen, lieblich anzustimmen begann. Geübt genug zu solchem Vortrag, der ihm diesmal eigens zart und ausdrucksvoll gelang, verstärkte er, verhältnismäßig zur wachsenden Entfernung, den Ton, so daß man am Ufer immer die gleiche Nähe des Scheidenden zu hören glaubte. Er ließ zuletzt die Laute schweigen, seiner Stimme allein vertrauend, und hatte das Vergnügen, zu bemerken, daß die Damen, anstatt sich ins Haus zurückzuziehen, am Ufer zu verweilen beliebten. Er fühlte sich so begeistert, daß er nicht endigen konnte, auch selbst als zuletzt Nacht und Entfernung das Anschauen aller Gegenstände entzogen; bis ihm endlich der mehr beruhigte Freund bemerklich machte, daß, wenn auch Finsternis den Ton begünstigte, das Schiff den Kreis doch längst verlassen habe, in welchem derselbe wirken könne.
Der Verabredung gemäß traf man sich des andern Tags abermals auf offener See. Vorüberfliegend befreundete man sich mit der schönen Reihe merkwürdig hingelagerter, bald reihenweis übersehbarer, bald sich verschiebender Ansichten, die, im Wasser sich gleichmäßig verdoppelnd, bei Uferfahrten das mannigfaltigste Vergnügen gewähren. Dabei ließen denn die künstlerischen Nachbildungen auf dem Papier dasjenige vermuten und ahnen, was man auf dem heutigen Zug nicht unmittelbar gewahrte. Für alles dieses schien die stille Hilarie freien und schönen Sinn zu besitzen.
Aber nun gegen Mittag erschien abermals das Wunderbare: die Damen landeten allein, die Männer kreuzten vor dem Hafen. Nun suchte der Sänger seinen Vortrag einer solchen Annäherung zu bequemen, wo nicht bloß von einem zart und lebhaft jodelnden allgemeinen Sehnsuchtston, sondern von heiterer, zierlicher Andringlichkeit irgendeine glückliche Wirkung zu hoffen wäre. Da wollte denn manchmal ein und das andere der Lieder, die wir geliebten Personen der "Lehrjahre" schuldig sind, über den Saiten, über den Lippen schweben; doch enthielt er sich, aus wohlmeinender Schonung, deren er selbst bedurfte, und schwärmte vielmehr in fremden Bildern und Gefühlen umher, zum Gewinn seines Vortrags, der sich nur um desto einschmeichelnder vernehmen ließ. Beide Freunde hätten, auf diese Weise den Hafen blockierend, nicht an Essen und Trinken gedacht, wenn die vorsichtigen Freundinnen nicht gute Bissen herübergesendet hätten, wozu ein begleitender Trunk ausgesuchten Weins zum allerbesten schmeckte.
Jede Absonderung, jede Bedingung, die unsern aufkeimenden Leidenschaften in den Weg tritt, schärft sie, anstatt sie zu dämpfen; und auch diesmal läßt sich vermuten, daß die kurze Abwesenheit beiden Teilen gleiche Sehnsucht erregt habe. Allerdings! man sah die Damen in ihrer blendend-muntern Gondel gar bald wieder heranfahren.
Das Wort Gondel nehme man aber nicht im traurigen venezianischen Sinne; hier bezeichnet es ein lustig-bequem-gefälliges Schiff, das, hätte sich unser kleiner Kreis verdoppelt, immer noch geräumig genug gewesen wäre.
Einige Tage wurden so auf diese eigene Weise zwischen Begegnen und Scheiden, zwischen Trennen und Zusammensein hingebracht; im Genuß vergnüglichster Geselligkeit schwebte immer Entfernen und Entbehren vor der bewegten Seele. In Gegenwart der neuen Freunde rief man sich die ältern zurück; vermißte man die neuen, so mußte man bekennen, daß auch diese schon starken Anspruch an Erinnerung zu erwerben gewußt. Nur ein gefaßter, geprüfter Geist wie unsere schöne Witwe konnte sich zu solcher Stunde völlig im Gleichgewicht erhalten.
Hilariens Herz war zu sehr verwundet, als daß es einen neuen, reinen Eindruck zu empfangen fähig gewesen wäre; aber wenn die Anmut einer herrlichen Gegend uns lindernd umgibt, wenn die Milde gefühlvoller Freunde auf uns einwirkt, so kommt etwas Eigenes über Geist und Sinn, das uns Vergangenes, Abwesendes traumartig zurückruft und das Gegenwärtige, als wäre es nur Erscheinung, geistermäßig entfernt. So abwechselnd hin und wider geschaukelt, angezogen und abgelehnt, genähert und entfernt, wallten und wogten sie verschiedene Tage.
Ohne diese Verhältnisse näher zu beurteilen, glaubte doch der gewandte, wohlerfahrene Reiseführer einige Veränderung in dem ruhigen Betragen seiner Heldinnen gegen das bisherige zu bemerken, und als das Grillenhafte dieser Zustände sich ihm endlich aufgeklärt hatte, wußte er auch hier das Erfreulichste zu vermitteln. Denn als man eben die Damen abermals zu dem Orte, wo ihre Tafel bereitet wäre, bringen wollte, begegnete ihnen ein anderes geschmücktes Schiff, das, an das ihrige sich anlegend, einen gut gedeckten Tisch mit allen Heiterkeiten einer festlichen Tafel einladend vorwies; man konnte nun den Verlauf mehrerer Stunden zusammen abwarten, und erst die Nacht entschied die herkömmliche Trennung.
Glücklicherweise hatten die männlichen Freunde auf ihren früheren Fahrten gerade die geschmückteste der Inseln aus einer gewissen Naturgrille zu betreten vernachlässigt und auch jetzt nicht gedacht, die dortigen, keineswegs im besten Stand erhaltenen Künsteleien den Freundinnen vorzuzeigen, ehe die herrlichen Weltszenen völlig erschöpft wären. Doch zuletzt ging ihnen ein ander Licht auf! Man zog den Führer ins Vertrauen, dieser wußte jene Fahrt sogleich zu beschleunigen, und sie hielten solche für die seligste. Nun durften sie hoffen und erwarten, nach so manchen unterbrochenen Freuden drei volle himmlische Tage, in einem abgeschlossenen Bezirk versammelt, zuzubringen.
Hier müssen wir nun den Reiseführer besonders rühmen; er gehörte zu jenen beweglichen, tätig gewandten, welche, mehrere Herrschaften geleitend, dieselben Routen oft zurücklegen; mit Bequemlichkeiten und Unbequemlichkeiten genau bekannt, die einen zu vermeiden, die andern zu benutzen und, ohne Hintansetzung eignen Vorteils, ihre Patrone doch immer wohlfeiler und vergnüglicher durchs Land zu führen verstehen, als diesen auf eigene Hand würde gelungen sein.
Zu gleicher Zeit tat sich eine lebhafte weibliche Bedienung der Frauenzimmer zum erstenmal entschieden tätig hervor, so daß die schöne Witwe zur Bedingung machen konnte, die beiden Freunde möchten bei ihr als Gäste einkehren und mit mäßiger Bewirtung vorliebnehmen. Auch hier gelang alles zum günstigsten: denn der kluge Geschäftsträger hatte, bei dieser Gelegenheit wie früher, von den Empfehlungs — und Kreditbriefen der Damen so klugen Gebrauch zu machen gewußt, daß, in Abwesenheit der Besitzer, Schloß und Garten, nicht weniger die Küche zu beliebigem Gebrauch eröffnet wurden, ja sogar einige Aussicht auf den Keller blieb. Alles stimmte nun so zusammen, daß man sich gleich vom ersten Augenblick an als einheimisch, als eingeborne Herrschaft solcher Paradiese fühlen mußte.
Das sämtliche Gepäck aller unserer Reisenden ward sogleich auf die Insel gebracht, wodurch für die Gesellschaft große Bequemlichkeit entstand, der größte Vorteil aber dabei erzielt ward, indem die sämtlichen Portefeuilles des trefflichen Künstlers, zum erstenmal alle beisammen, ihm Gelegenheit gaben, den Weg, den er genommen, in stetiger Folge den Schönen zu vergegenwärtigen. Man nahm die Arbeit mit Entzücken auf. Nicht etwa wie Liebhaber und Künstler sich wechselweise präkonisieren, hier ward einem vorzüglichen Manne das gefühlteste und einsichtigste Lob erteilt. Damit wir aber nicht in Verdacht geraten, als wollten wir mit allgemeinen Phrasen dasjenige, was wir nicht vorzeigen können, gläubigen Lesern nur unterschieben, so stehe hier das Urteil eines Kenners, der bei jenen fraglichen sowohl als gleichen und ähnlichen Arbeiten mehrere Jahre nachher bewundernd verweilte.
"Ihm gelingt, die heitere Ruhe stiller Seeaussichten darzustellen, wo anliegend-freundliche Wohnungen, sich in der klaren Flut spiegelnd, gleichsam zu baden scheinen; Ufer, mit begrünten Hügeln umgeben, hinter denen Waldgebirge sind eisige Gletscherfirnen aufsteigen. Der Farbenton solcher Szenen ist heiter, fröhlich-klar; die Fernen mit milderndem Duft wie übergossen, der, nebelgrauer und einhüllender, aus durchströmenden Gründen und Tälern hervorsteigt und ihre Windungen andeutet. Nicht minder ist des Meisters Kunst zu loben in Ansichten aus Tälern, näher am Hochgebirg gelegen, wo üppig bewachsene Bergeshänge niedersteigen, frische Ströme sich am Fuß der Felsen eilig fortwälzen.
Trefflich weiß er in mächtig schattenden Bäumen des Vordergrundes den unterscheidenden Charakter verschiedener Arten so in Gestalt des Ganzen wie in dem Gang der Zweige, den einzelnen Partien der Blätter befriedigend anzudeuten; nicht weniger in dem auf mancherlei Weise nuancierten frischen Grün, worin sanfte Lüfte mit gelindem Hauch zu fächeln und die Lichter daher gleichsam bewegt erscheinen.
Im Mittelgrund ermattet allmählich der lebhafte grüne Ton und vermählt sich auf entferntern Berghöhen schwach violett mit dem Blau des Himmels. Doch unserm Künstler glücken über alles Darstellungen höherer Alpgegenden; das einfach Große und Stille ihres Charakters, die ausgedehnten Weiden am Bergeshang, mit dem frischesten Grün überkleidet, wo dunkel einzeln stehende Tannen aus dem Rasenteppich ragen und von hohen Felswänden sich schäumende Bäche stürzen. Mag er die Weiden mit grasendem Rindvieh staffieren oder den engen, um Felsen sich windenden Bergpfad mit beladenen Saumpferden und Maultieren, er zeichnet alle gleich gut und geistreich; immer am schicklichen Ort und nicht in zu großer Fülle angebracht, zieren und beleben sie diese Bilder, ohne ihre ruhige Einsamkeit zu stören oder auch nur zu mindern. Die Ausführung zeugt von der kühnsten Meisterhand, leicht mit wenigen sichern Strichen und doch vollendet. Er bediente sich später englischer glänzender Permanentfarben auf Papier, daher sind diese Gemälde von vorzüglich blühendem Farbenton, heiter, aber zugleich kräftig und gesättigt.
Seine Abbildungen tiefster Felsschluchten, wo um und um nur totes Gestein starrt, im Abgrund, von kühner Brücke übersprungen, der wilde Strom tobt, gefallen zwar nicht wie die vorigen, doch ergreift uns ihre Wahrheit; wir bewundern die große Wirkung des Ganzen, durch wenige bedeutende Striche und Massen von Lokalfarben mit dem geringsten Aufwand hervorgebracht.
Ebenso charakteristisch weiß er die Gegenden des Hochgebirges darzustellen, wo weder Baum noch Gesträuch mehr fortkommt, sondern nur zwischen Felszacken und Schneegipfeln sonnige Flächen mit zartem Rasen sich bedecken. So schön und gründuftig und einladend er dergleichen Stellen auch koloriert, so sinnig hat er doch unterlassen, hier mit weidenden Herden zu staffieren, denn diese Gegenden geben nur Futter den Gemsen, und Wildheuern einen gefahrvollen Erwerb."
Wir entfernen uns nicht von der Absicht, unsern Lesern den Zustand solcher wilden Gegenden so nah als möglich zu bringen, wenn wir das eben gebrauchte Wort Wildheuer mit wenigem erklären. Man bezeichnet damit ärmere Bewohner der Hochgebirge, welche sich unterfangen, auf Grasplätzen, die für das Vieh schlechterdings unzugänglich sind, Heu zu machen. Sie ersteigen deswegen, mit Steigehaken an den Füßen, die steilsten, gefährlichsten Klippen, oder lassen sich, wo es nötig ist, von hohen Felswänden an Stricken auf die besagten Grasplätze herab. Ist nun das Gras von ihnen geschlagen und zu Heu getrocknet, so werfen sie solches von den Höhen in tiefere Talgründe herab, wo dasselbe, wieder gesammelt, an Viehbesitzer verkauft wird, die es der vorzüglichen Beschaffenheit wegen gern erhandeln.
Jene Bilder, die zwar einen jeden erfreuen und anziehen müßten, betrachtete Hilarie besonders mit großer Aufmerksamkeit; ihre Bemerkungen gaben zu erkennen, daß sie selbst diesem Fache nicht fremd sei; am wenigsten blieb dies dem Künstler verborgen, der sich von niemand lieber erkannt gesehen hätte als gerade von dieser anmutigsten aller Personen. Die ältere Freundin schwieg daher nicht länger, sondern tadelte Hilarien, daß sie mit ihrer eigenen Geschicklichkeit hervorzutreten auch diesmal, wie immer, zaudere; hier sei die Frage nicht, gelobt oder getadelt zu werden, sondern zu lernen. Eine schönere Gelegenheit finde sich vielleicht nicht wieder.
Nun zeigte sich erst, als sie genötigt war, ihre Blätter vorzuweisen, welch ein Talent hinter diesem stillen, zierlichsten Wesen verborgen liege; die Fähigkeit war eingeboren, fleißig geübt. Sie besaß ein treues Auge, eine reinliche Hand, wie sie Frauen bei ihren sonstigen Schmuck — und Putzarbeiten zu höherer Kunst befähigt. Man bemerkte freilich Unsicherheit in den Strichen und deshalb nicht hinlänglich ausgesprochenen Charakter der Gegenstände, aber man bewunderte genugsam die fleißigste Ausführung; dabei jedoch das Ganze nicht aufs vorteilhafteste gefaßt, nicht künstlerisch zurechtgerückt. Sie fürchtet, so scheint es, den Gegenstand zu entweihen, bliebe sie ihm nicht vollkommen getreu, deshalb ist sie ängstlich und verliert sich im Detail.
Nun aber fühlt sie sich durch das große, freie Talent, die dreiste Hand des Künstlers aufgeregt, erweckt, was von Sinn und Geschmack in ihr treulich schlummerte; es geht ihr auf, daß sie nur Mut fassen, einige Hauptmaximen, die ihr der Künstler gründlich, freundlich-dringend, wiederholt überlieferte, ernst und sträcklich befolgen müsse. Die Sicherheit des Striches findet sich ein, sie hält sich allmählich weniger an die Teile als ans Ganze, und so schließt sich die schönste Fähigkeit unvermutet zur Fertigkeit auf: wie eine Rosenknospe, an der wir noch abends unbeachtend vorübergingen, morgens mit Sonnenaufgang vor unsern Augen hervorbricht, so daß wir das lebende Zittern, das die herrliche Erscheinung dem Lichte entgegenregt, mit Augen zu schauen glauben.
Auch nicht ohne sittliche Nachwirkung war eine solche ästhetische Ausbildung geblieben: denn einen magischen Eindruck auf ein reines Gemüt bewirkt das Gewahrwerden der innigsten Dankbarkeit gegen irgend jemand, dem wir entscheidende Belehrung schuldig sind. Diesmal war es das erste frohe Gefühl, das in Hilariens Seele nach geraumer Zeit hervortrat. Die herrliche Welt erst tagelang vor sich zu sehen und nun die auf einmal verliehene vollkommenere Darstellungsgabe zu empfinden! Welche Wonne, in Zügen und Farben dem Unaussprechlichen näher zu treten! Sie fühlte sich mit einer neuen Jugend überrascht und konnte sich eine besondere Anneigung zu jenem, dem sie dies Glück schuldig geworden, nicht versagen.
So saßen sie nebeneinander; man hätte nicht unterscheiden können, wer hastiger, Kunstvorteile zu überliefern oder sie zu ergreifen und auszuüben, gewesen wäre. Der glücklichste Wettstreit, wie er sich selten zwischen Schüler und Meister entzündet, tat sich hervor. Manchmal schien der Freund auf ihr Blatt mit einem entscheidenden Zuge einwirken zu wollen, sie aber, sanft ablehnend, eilte, gleich das Gewünschte, das Notwendige zu tun, und immer zu seinem Erstaunen.
Der letzte Abend war nun herangekommen, und ein hervorleuchtender, klarster Vollmond ließ den übergang von Tag zu Nacht nicht empfinden. Die Gesellschaft hatte sich zusammen auf einer der höchsten Terrassen gelagert, den ruhigen, von allen Seiten her erleuchteten und rings widerglänzenden See, dessen Länge sich zum Teil verbarg, seiner Breite nach ganz und klar zu überschauen.
Was man nun auch in solchen Zuständen besprechen mochte, so war doch nicht zu unterlassen, das hundertmal Besprochene, die Vorzüge dieses Himmels, dieses Wassers, dieser Erde, unter dem Einfluß einer gewaltigern Sonne, eines mildern Mondes nochmals zu bereden, ja sie ausschließlich und lyrisch anzuerkennen.
Was man sich aber nicht gestand, was man sich kaum selbst bekennen mochte, war das tiefe, schmerzliche Gefühl, das in jedem Busen stärker oder schwächer, durchaus aber gleich wahr und zart sich bewegte. Das Vorgefühl des Scheidens verbreitete sich über die Gesamtheit; ein allmähliches Verstummen wollte fast ängstlich werden.
Da ermannte, da entschloß sich der Sänger, auf seinem Instrumente kräftig präludierend, uneingedenk jener früheren wohlbedachten Schonung. Ihm schwebte Mignons Bild mit dem ersten Zartgesang des holden Kindes vor. Leidenschaftlich über die Grenze gerissen, mit sehnsüchtigem Griff die wohlklingenden Saiten aufregend, begann er anzustimmen:
"Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn,
Im dunklen Laub — "
Hilarie stand erschüttert auf und entfernte sich, die Stirne verschleiernd; unsere schöne Witwe bewegte ablehnend eine Hand gegen den Sänger, indem sie mit der andern Wilhelms Arm ergriff. Hilarien folgte der wirklich verworrene Jüngling, Wilhelmen zog die mehr besonnene Freundin hinter beiden drein. Und als sie nun alle viere im hohen Mondschein sich gegenüberstanden, war die allgemeine Rührung nicht mehr zu verhehlen. Die Frauen warfen sich einander in die Arme, die Männer umhalsten sich, und Luna ward Zeuge der edelsten, keuschesten Tränen. Einige Besinnung kehrte langsam erst zurück, man zog sich auseinander, schweigend, unter seltsamen Gefühlen und Wünschen, denen doch die Hoffnung schon abgeschnitten war. Nun fühlte sich unser Künstler, welchen der Freund mit sich riß, unter dem hehren Himmel, in der ernst-lieblichen Nachtstunde, eingeweiht in alle Schmerzen des ersten Grades der Entsagenden, welchen jene Freunde schon überstanden hatten, nun aber sich in Gefahr sahen, abermals schmerzlich geprüft zu werden.
Spät hatten sich die Jünglinge zur Ruhe begeben, und am frühen Morgen zeitig erwachend, faßten sie ein Herz und glaubten sich stark zu einem Abschied aus diesem Paradiese, ersannen mancherlei Plane, wie sie ohne Pflichtverletzung in der angenehmen Nähe zu verharren allenfalls möglich machten.
Ihre Vorschläge deshalb gedachten sie anzubringen, als die Nachricht sie überraschte, schon beim frühsten Scheine des Tages seien die Damen abgefahren. Ein Brief von der Hand unserer Herzenskönigin belehrte sie des Weitern. Man konnte zweifelhaft sein, ob mehr Verstand oder Güte, mehr Neigung oder Freundschaft, mehr Anerkennung des Verdienstes oder leises, verschämtes Vorurteil darin ausgesprochen sei. Leider enthielt der Schluß die harte Forderung, daß man den Freundinnen weder folgen noch sie irgendwo aufsuchen, ja, wenn man sich zufällig begegnete, einander treulich ausweichen wolle.
Nun war das Paradies wie durch einen Zauberschlag für die Freunde zur völligen Wüste gewandelt; und gewiß hätten sie selbst gelächelt, wäre ihnen in dem Augenblick klar geworden, wie ungerecht-undankbar sie sich auf einmal gegen eine so schöne, so merkwürdige Umgebung verhielten. Kein selbstsüchtiger Hypochondrist würde so scharf und scheelsüchtig den Verfall der Gebäude, die Vernachlässigung der Mauern, das Verwittern der Türme, den Grasüberzug der Gänge, das Aussterben der Bäume, das vermoosende Vermodern der Kunstgrotten, und was noch alles dergleichen zu bemerken wäre, gerügt und gescholten haben. Sie faßten sich indes, so gut es sich fügen wollte; unser Künstler packte sorgfältig seine Arbeit zusammen, sie schifften beide sich ein, Wilhelm begleitete ihn bis in die obere Gegend des Sees, wo jener nach früherer Verabredung seinen Weg zu Natalien suchte, um sie durch die schönen landschaftlichen Bilder in Gegenden zu versetzen, die sie vielleicht so bald nicht betreten sollte. Berechtigt ward er zugleich, den unerwarteten Fall bekennend vorzutragen, wodurch er in die Lage geraten, von den Bundesgliedern des Entsagens aufs freundlichste in die Mitte genommen und durch liebevolle Behandlung, wo nicht geheilt, doch getröstet zu werden. Lenardo an Wilhelm Ihr Schreiben, mein Teuerster, traf mich in einer Tätigkeit, die ich Verwirrung nennen könnte, wenn der Zweck nicht so groß, das Erlangen nicht so sicher wäre. Die Verbindung mit den Ihrigen ist wichtiger, als beide Teile sich denken konnten. Darüber darf ich nicht anfangen zu schreiben, weil sich gleich hervortut, wie unübersehbar das Ganze, wie unaussprechlich die Verknüpfung. Tun ohne Reden muß jetzt unsre Losung sein. Tausend Dank, daß Sie mir auf ein so anmutiges Geheimnis halb verschleiert in die Ferne hindeuten; ich gönne dem guten Wesen einen so einfach glücklichen Zustand, indessen mich ein Wirbel von Verschlingungen, doch nicht ohne Leitstern, umhertreiben wird. Der Abbé übernimmt, das Weitere zu vermelden, ich darf nur dessen gedenken, was fördert; die Sehnsucht verschwindet im Tun und Wirken. Sie haben mich — und hier nicht weiter; wo genug zu schaffen ist, bleibt kein Raum für Betrachtung. Der Abbé an Wilhelm Wenig hätte gefehlt, so wäre Ihr wohlgemeinter Brief, ganz Ihrer Absicht entgegen, uns höchst schädlich geworden. Die Schilderung der Gefundenen ist so gemütlich und reizend, daß, um sie gleichfalls aufzufinden, der wunderliche Freund vielleicht alles hätte stehen und liegen lassen, wären unsre nunmehr verbündeten Plane nicht so groß und weitaussehend. Nun aber hat er die Probe bestanden, und es bestätigt sich, daß er von der wichtigen Angelegenheit völlig durchdrungen ist und sich von allem andern ab — und allein dorthin gezogen fühlt.