Kitabı oku: «Das Gesetz des Ausgleichs»
Johannes Huber:
Das Gesetz des Ausgleichs
Alle Rechte vorbehalten
© 2020 edition a, Wien
Cover und Gestaltung: Isabella Starowicz
ISBN Druckversion 978-3-99001-425-7
ISBN E-Book 978-3-99001-426-4
E-Book-Herstellung und Auslieferung:
Brockhaus Commission, Kornwestheim
INHALT
TEIL 1 Wie wir bessere Menschen werden
TEIL 2 Gut sein lohnt sich
TEIL 3 Die Anatomie der Ethik
EPILOG Der Kardinal, der Kanzler und das ewige Leben
NACHWORT VON PETER SLOTERDIJK Von der Unwahrscheinlichkeit des Menschen
»Das Leben ist wie ein Fahrrad.
Man muss sich vorwärtsbewegen, um
das Gleichgewicht nicht zu verlieren.«
Albert Einstein am 5. Februar 1930
in einem Brief an seinen Sohn Eduard
Was Sie erwartet
Anfang der 2000er-Jahre, also vor bald zwei Jahrzehnten, griff mich ein Weihbischof der katholischen Kirche in einem Leserbrief an die österreichische Tageszeitung Die Presse an. Er verschwieg zwar meinen Namen, doch er sprach vom »Vorsitzenden einer Ethikkommission«, womit klar war, wen er meinte.
Ethikkommissionen kümmern sich darum, dass angewandte Forschungen am Menschen ethisch sauber sind. Die Kommission, die ich leitete, hatte das österreichische Bundeskanzleramt ins Leben gerufen. Sie hatte sich zu diesem Zeitpunkt mit einem brisanten und dementsprechend polarisierenden Thema zu befassen. Es ging um künstliche Befruchtung, die In-vitro-Fertilisation (IVF), die heute fast schon Routine in der Familienplanung beziehungsweise in der Reproduktionsmedizin ist, damals aber noch völlig neu war. 1978 war in England das erste Retortenkind zur Welt gekommen, 1982 dann das erste in Österreich. Die wichtigste ethische Frage, die dabei zu diskutieren war, hatte damit zu tun, dass bei der IVF jeweils mehrere Eizellen befruchtet werden, aber immer nur eine oder zwei davon in den Körper der Frau implantiert werden. Die übrigen starben damals meist von selbst ab. War das nach ethischen Gesichtspunkten vertretbar?
Eine Frage, mit der nicht nur wir uns befassten. Auf internationaler Ebene tat das zum Beispiel das renommierte Kennedy Institute of Ethics. Der dort in die Diskussion involvierte Professor John Harvey, Leibarzt der Kennedy-Familie, lud mich mehrmals nach Amerika ein. Auch hier kreisten alle Gespräche sehr ernsthaft um die zentrale Überlegung, wie dieser Aspekt der IVF ethisch und juristisch zu handhaben sei.
Ich befürwortete die IVF grundsätzlich. Als Reproduktionsmediziner kannte ich den sehnlichen und oft auf traurige Weise unerfüllten Wunsch von Frauen und Männern nach Kindern. Ich sah hier eine Chance, Leben zu schaffen und Familien zu gründen. Dafür nannte mich der Weihbischof einen »Abtreiber«, der »dem ewigen Gericht nicht entgehen« werde.
Mich traf das umso härter, als ich mich der katholischen Kirche, ihren ethischen und spirituellen Konzepten, ihren Traditionen und ihrem gesamten Apparat verbunden fühlte. Ich hatte als Schüler ein katholisches Internat besucht und mich dort gut aufgehoben gefühlt. Später studierte ich neben Medizin auch Theologie und war einige Jahre lang Sekretär des Wiener Kardinals König gewesen, eine Zeit, die mich als junger Mensch prägte wie keine andere.
Ich wollte den Angriff zunächst ignorieren, doch das ging nicht. Der Weihbischof hatte damit eine Welle der Aggression ausgelöst, und er schürte sie weiter.
Ich war irritiert und fand, dass sich ein Gericht mit dem Weihbischof befassen solle, und zwar nicht nur das von ihm ins Spiel gebrachte ewige, sondern zunächst einmal ein weltliches. Ich wandte mich an einen Anwalt, der für mich eine Klage gegen den Weihbischof samt Antrag auf Unterlassung sowie eine einstweilige Verfügung einbrachte.
Es folgte ein langwieriges juristisches Hin und Her. Die Materie war auch für die Gerichte neu und wurde teils recht emotional betrachtet. Zunächst entwickelte sich die Causa eher zu meinen Gunsten. Mit der Beharrlichkeit des Weihbischofs und seines Anwaltes dann wieder eher zu seinen, bis mir die letzte Instanz recht gab. Ich war kein Abtreiber, und weder der Weihbischof noch sonst jemand durfte mich als solchen bezeichnen. Das letzte Wort war gesprochen und mein Ruf war wiederhergestellt.
Ich rechnete nicht damit, dass der Weihbischof sich nun entschuldigte. Am ehesten rechnete ich damit, einfach nichts mehr von ihm zu hören. Doch stattdessen erhielt mein Anwalt von seinem einen Bittbrief. Sein Klient sei ein mittelloser Kirchenmann, hieß es darin sinngemäß, er könne sich die Kosten für einen Widerruf in der genannten Tageszeitung sowie die Rechtskosten, die bereits für mich angefallen waren und die er nun zu übernehmen hätte, einfach nicht leisten. Er fragte an, ob es mir möglich wäre, ihm beides zu erlassen.
Ich verzichtete auf den Kostenersatz sowie auf den Widerruf und begnügte mich mit einem neuerlichen, für den Weihbischof kostenlosen, Leserbrief in der Zeitung. Dabei handelte ich eigentlich nicht aus Großzügigkeit. Ich hatte bereits davor die Leitung der klinischen Abteilung für gynäkologische Endokrinologie am größten österreichischen Krankenhaus, dem Allgemeinen Krankenhaus in Wien, übernommen, und wollte mich darauf konzentrieren.
Zehn Jahre später besuchte ich mit einem befreundeten Arzt, Markus Metka, bei einem Ärztekongress in Rom ein Orgelkonzert in der Kirche Santa Maria dell’Anima. Als der letzte Ton der wunderbaren Musik verklungen war und das Publikum bereits aus der Kirche strömte, blieben Metka und ich noch sitzen, um das Gehörte auf uns wirken zu lassen.
Genau da bemerkte ich den Weihbischof. Wir erhoben uns, um nun ebenfalls zu gehen und ihm die für ihn vielleicht unangenehme Begegnung zu ersparen, doch er kam auf mich zu. Ich sah, dass er gezeichnet war. Er wirkte gesundheitlich angeschlagen, geschwächt und sich seiner selbst unsicher. »Du auch hier?«, sagte er überaus herzlich, während er mich zur Begrüßung nahezu in die Arme nahm.
Offensichtlich wusste er noch, dass wir uns kennen, hatte aber anscheinend vergessen, woher und was uns verband. Die Sache mit dem Leserbrief und dessen juristisches Nachspiel schien seinem Geist entfallen zu sein, doch ich war mir nicht sicher.
Nachdem wir einige ebenso freundliche wie belanglose Worte gewechselt hatten, verließen Metka und ich die Santa Maria dell’Anima, und noch heute macht mich die Sache manchmal nachdenklich.
Eigentlich war ich froh, auf den bezahlten Widerruf und auf meine Anwaltskosten verzichtet zu haben. Ich fühlte mich einfach wohler, als ich den Weihbischof wieder traf und hatte das Gefühl, das von ihm seinerzeit bemühte ewige Gericht habe nun wirklich für mich entschieden.
Dieser Moment in der Kirche schien damals zu vermitteln, dass es tatsächlich so etwas wie einen inneren Ausgleich gibt, wie ihn nicht nur Mozart in seinen Opern, die Freimaurer und die christlichen Kirchen, sondern viele spirituellen Traditionen in den Raum gestellt haben.
Vom Ausgleich, den es nach dem Tod gibt, ist schon lange die Rede. Bereits vor Jahrtausenden gingen ägyptische Denker davon aus, dass unserer Seele beim Tod abgewogen und wir nach unseren Taten beurteilt werden. Ein Gedanke, der offenbar bisher jede Evolution des menschlichen Geistes überstanden hat.
Aber selbst, wenn die Angst vor diesem letzten Gericht langsam schwindet: Bleibt ein Leben in Rücksichtslosigkeit, Unbeherrschtheit, Übermaß, Gier, Hochmut und allen möglichen anderen Sünden trotzdem unbestraft? Oder gibt es so etwas wie eine ausgleichende Gerechtigkeit auch schon im Diesseits? Und wenn ja, warum und wodurch?
Kann es sein, fragte ich mich, dass das »ewige Gericht« von der ewigen Verfassung der Natur, der wir alle unterworfen sind, stattfindet? Dass uns also böse Taten physisch, psychisch oder materiell letztendlich selbst schaden, uns schwächen? Kann es sein, dass das Bibelzitat »Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan«1 so etwas wie einer medizinischen Logik folgt? Und dass für gute Taten das Umgekehrte gilt? Dass sie am Ende uns selbst nützen und uns stärken?
Es sind wohl Fragen, die sich viele Menschen so oder so ähnlich stellen, besonders dann, wenn ihnen gerade andere übel mitspielen, und das passiert uns allen manchmal im Leben. Viele Menschen spüren, dass es eine ausgleichende Gerechtigkeit geben könnte, auch wenn sie es vielleicht nicht richtig zu hoffen und schon gar nicht laut auszusprechen wagen. Vielleicht hat sich deshalb ein Zitat des Konfuzius auch in Europa im Volksmund verbreitet: »Setze dich an einen Fluss und warte, bis die Leiche deines Feindes vorbeischwimmt.« Was intendiert, dass das, der oder die Böse einer irdischen Strafe zugeführt wird, und letztlich auch, dass das, der oder die Gute irdischen Lohn empfängt.
Ich hatte das Privileg, diese von viel emotionalem, religiösem und esoterischem Wirrwarr überschatteten Fragen lang zu betrachten und aufgrund vieler Informationen zu beleuchten. Ich tat es als Arzt und mithilfe jeweils aktueller naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse.
Gerade in den vergangenen Jahren, in denen sich die Medizin mit neuen Disziplinen wie der Epigenetik oder der Psychoneuroendokrinologie über die Grenzen des mechanistischen Menschenbildes hinauszuwagen begann, fand ich bei der Lektüre neuer Fachbeiträge sowie bei der eigenen ärztlichen Tätigkeit Hinweise auf mögliche Antworten, die sich allmählich zu einem Gesamtbild formten. Von diesem Gesamtbild handelt dieses Buch.
Kurz gesagt werden Sie darin lesen, warum es sich auszahlt, ein guter Mensch zu sein. Sie werden dies mit einer gewissen Befriedigung und vielleicht auch mit einem gewissen Effekt der Entspannung lesen, denn es enthebt Sie dem vermeintlichen Zwang, auf Aggression mit Aggression oder womöglich auf Böses mit Bösem zu reagieren.
Ihr Leben wird schöner davon werden, wenn Sie aus pragmatischen, naturwissenschaftlich unterlegbaren Gründen auf die genannte Verfassung der Natur zu vertrauen lernen, und darauf, dass sie das Gute auf Dauer unterstützt und dem Bösen auf Dauer den Boden entzieht. Vielleicht werden Sie jene, die Ihnen bewusst übel mitspielen, die Sie bewusst unfair und ungerecht behandeln, in Zukunft sogar ein wenig bedauern. Weil sie nicht wissen, was sie sich damit selbst antun.
Und vielleicht werden Sie sich auch Sorgen machen. Weil Sie sich fragen müssen: Bin ich selbst wirklich gut? Oder fällt mir eines Tages auch unerwartet etwas auf den Kopf, weil ich irgendwann einmal leichtfertig und gedankenlos »böse« war? Wer kann schon von sich sagen, immer und in jeder Situation ein »guter« Mensch zu sein? Wer kann von sich sagen, dass er sich in seinem Gutsein niemals von »bösen« Emotionen wie Zorn, Aggression und vielleicht auch Hochmut kompromittieren lässt? Und ist es nicht schon ein Akt des Hochmutes, wenn wir die Grenze zwischen Gut und Böse so ziehen, dass wir eindeutig bei den Guten sind? Weil es im Grunde jeden Tag eine Herausforderung ist, zu den Guten in einem tieferen, von der Stimme unseres Gewissens bestimmten Sinn zu gehören?
Damit Sie sich diese Sorgen beim Lesen nicht machen müssen, zeigt das Folgende, wie wir gute Menschen sein können. Ich beziehe mich dabei auch auf den großen Psychoanalytiker, Philosophen und Sozialpsychologen Erich Fromm, mit dem ich in jungen Jahren im Rahmen eines Buchprojektes zusammenarbeiten durfte. Fromm sagte, das Sein müsse anstelle des Habens in den Vordergrund unseres Lebens treten, wenn wir dessen Sinn gerecht werden wollen.
»Sein« bedeutet allerdings nicht, im Sinne der modern gewordenen Work-Life-Balance mehr zu »chillen« und mit möglichst geringem Aufwand ein möglichst bequemes Leben zu führen. »Sein« kann, wenn wir unser Leben aus philosophischer Perspektive betrachten, nur bedeuten, dass wir diesen Planeten als das anerkennen, was er ist: einer der Askese, einer der Übung also. Er ist dazu da, uns weiterzuentwickeln, auf eine höhere Ebene zu gelangen, uns also darin zu üben, bessere Menschen zu werden.
Doch wie tun wir das? Das soll dieses Buch zeigen. Ich kann vorausschicken, dass es weniger komplex ist, als es jetzt scheinen mag. Denn genau wie wir Trainingsprogramme für den Körper und für den Geist erstellen können, können wir auch welche für die Seele erstellen, bloß haben wir es nie getan, weil wir viel eher an einem fitten Körper und an einem fitten Geist gemessen werden als an einer fitten Seele.
Doch das könnte sich bald ändern. Denn die Corona-Krise und der Klimawandel zeigen, dass wir die großen Aufgaben, die vor uns liegen, als Menschheit nur lösen können, wenn wir »gut« sind, gut zu unseren Mitmenschen, gut zu den anderen Wesen, die diesen Planeten bevölkern und gut zum Planeten selbst. Weshalb im genannten tieferen Sinn gut zu sein vielleicht künftig auch einen höheren sozialen Stellenwert erhalten wird. Womit der Verfassung der Natur wieder die Bedeutung zukäme, die ihr zusteht. Zusätzlich können wir die Vorteile, die uns das Gutsein selbst bringt, am ehesten dann lukrieren, wenn wir unser Gutsein regelmäßig trainieren.
Welche Vorteile das genau sind, beziehungsweise auch, welche Nachteile Sie sich im Diesseits einhandeln, wenn Sie sich auf den Deal mit der Strafe erst im Jenseits einlassen, lesen Sie im zweiten Teil. Darin erfahren Sie, was Sie durch Gutsein alles für sich gewinnen und welche scheinbar schicksalhaften Unbilden im Leben Sie vermeiden können, wenn Sie sich an den Fünf-Punkte-Trainingsplan für Ihre Seele halten.
Der dritte Teil überlegt mit Ihnen, dass Sie mit Ihrem Versuch, gut zu sein, keineswegs nur pragmatische Vorteile lukrieren. Er versucht aufzuzeigen, warum Sie sich damit zum Teil eines größeren Ganzen machen, zum Teil jenes Himmel und Erde umspannenden komplexen Systems, das uns als holistische Wesen in der Form, die wir gerade einnehmen, hervorgebracht hat, und in dem wir eines Tages in neuer Form wieder aufgehen könnten. Dieser abschließende dritte Teil soll auch beschreiben, was Ethik eigentlich ist, woher sie kommt, wieso wir Menschen als einzige Wesen auf diesem Planeten Zugang dazu haben, und wozu wir sie weit über die Organisation unseres irdischen persönlichen Lebens und unseres irdischen Miteinanders hinaus vielleicht eines Tages brauchen.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen bei der Lektüre!
Johannes Huber, September 2020
TEIL 1
WIE WIR BESSERE MENSCHEN WERDEN
Die amerikanische Forscherin Laurie Santos begeisterte Millionen Menschen mit ihrem Online-Kurs über das Wesen des Wohlbehagens. Der Psychologieprofessorin der Yale University in Connecticut war aufgefallen, dass Studenten immer häufiger Angstzustände und Depressionen mit in den Hörsaal brachten. Bleiche Gesichter, fahrige Blicke, nervöse Hände. Es herrschte eine innere Unruhe, ein Gefühl der Unrast. Viele konnten sich kaum konzentrieren, waren nicht motiviert und schnell überfordert.
Vor zwei Jahren stellte Santos das Seminar Die Wissenschaft des Wohlbefindens ins Vorlesungsverzeichnis und wurde von Studierenden auf der Suche nach Zufriedenheit und Glück elektronisch überrannt. Knapp 26 Millionen Mal riefen sie den Kurs auf. Die Geheimnisse des Innenlebens und vor allem der Weg zu innerer Ausgeglichenheit weckten mehr Neugier als jede andere Vorlesung am Campus. »Wir haben hier Handlungsbedarf«, resümierte Laurie Santos.2
Die Wissenschaftlerin erfand das Rad nicht neu, sie riet zu relativ einfachen Dingen. In den Mittelpunkt stellte sie allerdings etwas, das auf den ersten Blick so gar nicht in unsere Zeit zu passen scheint, in der Ellbogenmentalität, Selbstdarstellung und Egozentrik auf allen Ebenen dominieren: Wer etwas Gutes für andere tut, fühlt sich auch selbst besser. Wir kennen das von den Pfadfindern. Jeden Tag eine gute Tat, und die Seele jubelt.
Das Ganze hat einen relativ einfachen menschheitsgeschichtlichen Hintergrund. Die Evolution belohnt Verhaltensweisen, die das Überleben der Spezies sichern, zum Beispiel mit Ausschüttungen des Glückshormons Dopamin. Füreinander da zu sein, gehört zu diesen Verhaltensweisen, weil der vergleichsweise schwache Mensch Herausforderungen wie Säbelzahntiger oder andere Unbilden der Urzeit nur gemeinsam meistern konnte.
Füreinander da zu sein, wiegt uns deshalb in einem Gefühl von Schutz, Geborgenheit und Sicherheit. Es lässt uns besser schlafen und senkt zum Beispiel den Spiegel des Stresshormons Cortisol in unserem Blut, mit allen damit verbundenen positiven Folgen für unsere Gesundheit. Egoisten hingegen suchen mit ihrer Scheuklappenmentalität das Glück eher, als dass sie es finden.
Laurie Santos’ Ruf nach mehr Mitmenschlichkeit als Mittel zur seelischen und letztlich auch zur körperlichen Selbsttherapie war über Kontinente hinweg zu hören, wohl auch im asiatischen Staat Bhutan. Denn bereits im Jahr 1979 ging in Bhutan aus einer 200 Jahre alten Vorgeschichte der Begriff Bruttonationalglück hervor, international bekannt als Gross National Happiness. Bhutan definierte damit den Lebensstandard in breiter, humanistischer und psychologischer Weise und stellt dem herkömmlichen Bruttonationaleinkommen, in dem es nur um Geldflüsse geht, einen ganzheitlichen Wert gegenüber.3
Eine Staatskommission ermittelt diesen Wert regelmäßig. Wie geht es der Bevölkerung? Was bewegt die Menschen? Was beschäftigt sie? Was erfreut sie. Was macht sie trübselig? Was geht ihnen zu Herzen oder auf die Nerven?
So ein Barometer der inneren Ausgeglichenheit wäre überall auf der Welt wünschenswert. Nicht nur, um das individuelle Glück der Menschen zu mehren. In einer Welt, in der Glück einen politischen Stellenwert hat, wird aus den genannten einfachen evolutionsgeschichtlichen Gründen auch das Füreinander-da-Sein als Voraussetzung dafür unverzichtbar.
Anders ausgedrückt: Ein Staat, der seine Bürger glücklich machen will, zeigt ihnen, dass sie besser gute Menschen sind. Wenn in einem Staat viele Menschen füreinander da sind, löst das fundamentale gesellschaftliche Probleme, die mit dem Narzissmus und der Vereinzelung einhergehen.
Der Ruf nach Glück, Anstand und Moral war auch schon vor Laurie Santos’ erstaunlich erfolgreicher Initiative massentauglich, doch nicht immer ist er wie bei ihr von Wahrhaftigkeit getragen. Haltung, Ethik, Menschlichkeit. Die Schlagwörter tauchen heute in Gesprächen schnell einmal auf, doch das Gutsein in einem tiefen, evolutionären und spirituellen Sinn musste dabei vielfach dem »Gutmensch-Sein« weichen, das politisch meist linke Gruppen zu einem Dogma erhoben. Mit Verhaltensvorgaben, die teilweise nicht als wesentlich erlebbar sind, aber dennoch durch den digitalen Pranger geahndet werden, was zu einer Art modernem Tugendterror führte.
Gut zu sein, darauf sollten wir uns an dieser Stelle einigen, darf kein Trend sein, mit dem sich bestimmte Gruppen schmücken. Es muss aus uns selbst kommen. Als Entscheidung. Aus Überzeugung.
»Moralische Vollendung ist nicht länger das Privileg einiger weniger Asketen und Altruisten«, beklagte in diesem Zusammenhang der deutsche Publizist und Philosoph Alexander Grau. »Moralischer Kitsch macht Moral zum Massengut. Jeder kann hochmoralisch sein, zu jeder Zeit. Es reicht aus, einfach die richtigen Phrasen abzusondern. Man muss nur für Frieden sein, für Toleranz und natürlich Haltung zeigen. Das alles kostet nichts, gibt aber ein gutes Gefühl und entlastet von Reflexion.«
Grau fand mit leiser Ironie, dass wir aufpassen sollten, keinen moralischen Kitsch zu erzeugen, nur um vor uns selbst oder in einer Blase Gleichgesinnter gut dazustehen. Rechtschaffenheit ist kein Gütesiegel, das sich jemand anheftet wie ein Autokennzeichen oder ein Namensschild. Sie ist vielmehr ein Gut, das wachsen und in uns reifen muss und so etwas wie Seelen-Selbst-Erforschung voraussetzt, für die wir uns bewusst entscheiden müssen. Denn nur Erkenntnisse machen uns weiser und bilden eine Richtschnur, die uns auch besser macht.4
Der österreichische Schriftsteller und Journalist Robert Misik konterte Alexander Grau mit einem philosophischen Gedanken, der Hoffnung macht. »Der Mensch ist ein veränderbares Tier«, lautet er. Menschen ändern sich wie die Figuren in einem Videospiel, die neue Kräfte bekommen oder Lebenspunkte verlieren, wenn sie falsch agieren, und ihr Tun wirkt immer auf sie und auf die Welt zurück.
Wir können etwas ändern, wenn wir wollen, und unser Wirken nach einem moralischen Kompass ausrichten. Allerdings reicht es dabei nicht, Worthülsen wiederzugeben, Sprachregelungen zu befolgen und Empörungsreflexe zu zeigen, die vom modernen Gutmenschen-Dogma bestimmt sind. Wir fühlen es selbst: Das wäre zu einfach.5
Wenn wir wirklich bessere Menschen werden wollen, mit allen Vorteilen, die das zum Beispiel in Laurie Santos’ Sinne haben, müssen wir in uns gehen und es so machen wie die Wiener Philharmoniker, die ihren festen Sitz im unweit von meiner Wiener Ordination gelegenen Goldenen Saal des Musikvereins haben: Wir müssen üben, üben, üben.
Nach dem Untergang des Römischen Reiches war das Üben als massentaugliche menschliche Erfolgsstrategie 1.500 Jahre lang weitgehend vergessen. Erst um 1900 entdeckten wir es wieder, dank des Pädagogen und Sportfunktionärs Pierre de Coubertin, der Muskelübungen empfahl.6 Körperliche Übungen und deren sinnvolle Effekte sind selbstverständlich für uns. Im Jahr 2019 waren rund 11,7 Millionen Menschen in einem der fast 10.000 deutschen Fitnessklubs aktiv.7 In Österreich gibt es mehr als 1.200 Studios mit mehr als einer Million Mitglieder.8
Dass sich auch unser Gutsein, also unser Charakter, durch Übung stärken lässt, hat sich weit weniger gut durchgesetzt. Dies, obwohl prominente Akteure der deutschen Geistesgeschichte das regelmäßig betonten. Rudolf Steiner oder etwa Friedrich Nietzsche taten es mit ganz ähnlicher Intention. Wir müssen den Menschen dazu bringen, gut zu sein, denn nur so kann er über sich hinauswachsen, glaubten sie.
Mario Schönhart, Herausgeber des Buches Spiel mit der Wirklichkeit: Zum Erfahrungsbegriff in den Naturwissenschaften bezeichnete eine dementsprechende Initiative des Philosophen Peter Sloterdijk als »alternative Athletik«, die an die Stelle eines »Sklavenaufstandes in der Moral« trete.
Diesen Gedanken, der sich auch innerlich schon viel eher nachvollziehen lässt als das Gutmenschen-Dogma mit dem Tugendterror, ist allerdings kein globaler. Er ist vor allem ein europäischer, vielleicht auch einer der westlichen Welt, dem allerdings die Version Chinas zum Gutsein gegenübersteht.