Kitabı oku: «Nachschlag Berlin», sayfa 2
„Fort mit dem Schaden”
Theodor Fontane hingegen, von den Schwestern in ihrem Vorwort nicht als Bruder, sondern ehrfurchtvoll als ,Altmeister‘ tituliert, ist der Berliner Küche gegenüber weitaus ungnädiger, ob vor oder nach dem Aufstieg zur Weltmetropole. Der im brandenburgischen Neu- ruppin geborene Publizist und Schriftsteller kam 1833 im Alter von 13 Jahren nach Berlin und die Stadt sollte, mit gelegentlichen Ausnahmen, bis zu seinem Tod 1898 sein Lebensmittelpunkt bleiben. Mit Berlin verband ihn eine Hassliebe, geprägt von seiner Ablehnung der kunstfeindlichen preußischen Ministerialbürokratie und dem Standesdünkel der Beamten und einem gleichzeitigen ironisch-liebevollen Spötteln bei der Beschreibung des Lebens in einer so plötzlich aufstrebenden Stadt.8
Für Fontane war Berlin durch seine Beförderung zur Reichshauptstadt nur formal zu einer Stadt von Weltrang geworden. Berlin sei nie eine Bürgerrepublik gewesen: Die feine Sitte, die Politesse habe sich hier nie entwickeln können, befindet er 1878 in seinem Fragment gebliebenen Essay mit dem Titel ,Berliner Ton’. 9 Er mokiert sich sowohl über Klein- und Spießbürger, die beim Öffnen einer Seltersflasche die Hand darüber halten, damit von der kostbaren Kohlensäure nichts entweiche,10 als auch über die Oberschicht, nach deren Aussagen man meinen könne, „Berlin spaziere an der Tete der Zivilisation.” 11
Auch die Berliner Restaurants kommen in Fontanes Berichten selten gut weg. So berichtet er im September 1859 in einem Brief an seine Frau Emilie von einem Abendessen in einer Kneipe in der Potsdamer Straße. Einen Hasenbraten von der Größe einer Hirschkeule habe man ihm vorgesetzt, „was in Berliner Restaurationen immer nur dann der Fall ist, wenn es in der Küche heißt: „Fort mit dem Schaden.” 12
Es scheint, als stoße Fontane sich an der Gier seiner Zeitgenossen nach Luxus, wenn er beschreibt, wie man Unter den Linden den Eindruck bekommen könnte, „als ob eine ganze Straße lang nur gegessen und getrunken würde” ,13 auch wenn er sich dem neuen mondänen Lebensstil der Hauptstadt selbst nicht ganz entziehen kann. So schreibt er 1894 seiner Tochter Martha, dass ihm zum 2. Male ein Hummergericht serviert worden sei: „Ich nahm mir einen kleinen Hummerschwanz, weil ich das erste Mal nur eine ganz kleine Schere gekriegt hatte.” 14 Lediglich „die Werderschen” werden mit einer gewissen Milde bedacht - jene Frauen aus dem westlich von Potsdam in der Havel gelegenen Ort Werder, denen Fontane täglich begegnete und die von ihren Kähnen aus Obst und Gemüse an die Städter verkauften. Dabei vermischt sich die sinnliche Erfahrung der angebotenen Früchte mit mehr oder weniger subtilen erotischen Phantasien beim Anblick der Bäuerinnen. „Weithin standen die Himbeer-Tienen [ein für Werder typischer Holzbottich zum Transport von Obst] am Trottoir entlang, nur unterbrochen durch hohe, kiepenartige Körbe, daraus die Besinge [Heidelbeeren], blauschwarz und zum Zeichen ihrer Frische noch mit einem Anflug von Flaum, hervorlugten. In Front aber, und zwar als besondere Prachtstücke, prangten unförmige verspätete Riesenerdbeeren auf Schachtel- und Kistendeckeln” , heißt es im 1887 erschienenen Roman ,Cecile’. 15
Das Cafe Kranzler im Neuen Kranzler-Eck des Architekten Helmut Jahn von 2000, Charlottenburg
Doch abgesehen von diesen romantisierenden Erinnerungen beklagt sich Fontane mit bissigem Spott über die Berliner Semmeln, an deren Qualität sich nur Fremde aus anderen Gegenden erfreuen könnten, über die Seltenheit guten Kaffees, dessen Fehlen seiner Meinung nach der Grund für die Hälfte der unternommenen Sommerreisen sei. Er moniert das Berliner Flaschenbier und den Zustand der Beefsteaks in teuren Restaurants, deren Wirte beleidigt seien, wenn man den Teller nicht leere und in Folge „Selbsttötung als Anstands- pflicht” verlangen würden. Deftige Worte, jedoch nicht ohne Hinweis auf die Ursache der Kritik: „Ich will hier auf die Mängel hinweisen nicht aus kindischer Tadelsucht” , schreibt Fontane, „sondern aus einem patriotischen Gefühl. Ich bin ein guter Berliner, Preuße, Deutscher, und einige halten mich für geeicht in diesem Punkte.”16
Das soupierende Berlin
Fontane ist nicht der einzige Schriftsteller, der den Wandel der städtischen Kultur mit wachsamen Auge und scharfem Kommentar verfolgt. Geschmack in Berlin sei eine Frage des plötzlichen Reichtums und nicht eine von gewachsenen Traditionen, befand auch der Autor L. von Nordegg, der 1907 in seinem Buch ,Die Berliner Gesellschaft‘ ein Bild des sozialen Status quo der Reichshauptstadt skizzierte.
Menükarte von 1905, Heimatmuseum Reinickendorf
Im Schlusskapitel nimmt er unter dem Titel ,Das soupierende Berlin‘ die Ausgehgewohnheiten vor allem der jüngeren Berliner ins Visier. „Wer vor ungefähr zwanzig, ja, noch vor fünfzehn Jahren abends zur Dinerstunde ein Berliner Restaurant im Frackanzug mit weißer Binde betreten hätte, wäre der Gefahr ausgesetzt gewesen, mit den Kellnern verwechselt zu werden” , beschreibt der Autor die gesellschaftlichen Verschiebungen. Früher sei man nach dem Besuch einer Theatervorstellung oder einer Revue nach Hause gefahren und habe sich nach einer kleinen Mahlzeit zu Bett begeben. Gegenwärtig sei es jedoch üblich, bis spät in die Nacht zu soupieren, also in den diversen Restaurants zu speisen. Das Leben in der französischen Hauptstadt wird hier als entscheidendes Vorbild genannt, dabei sei es in Paris eher ungewöhnlich, nach dem Theater ausgiebig zu speisen. Lediglich eine Tasse Schokolade oder ein Brötchen nehme man dort zu sich. „Nicht so in Berlin” , wie der Autor berichtet, „bei uns verlangt man konsistentere Befriedigung. Wenn einer unserer jungen Leute, die sich zur Jeunesse doree‘ rechnen, seiner Angebeteten nach dem Theater als Krönung des Abends eine Tasse Schokolade und ein Brötchen bei Kranzler anbieten wollte, würde er sich ihre Gunst wohl für alle Zeiten verscherzen.” Gegen elf Uhr Abends würden stattdessen ganze Schwärme junger Menschen die Restaurants der Leipziger Straße und Unter den Linden aufsuchen, um dort ausgiebig zu speisen.
Mittelalterlich anmutende Gestaltung von zeitgenössischen Biermarken
Von Nordegg vergleicht das Kaiserreich und Wilhelm II. mit dem zweiten französischen Kaiserreich (1825 bis 1870) unter Napoleon III. Hier wie dort fördere eine sprunghafte Entwicklung die Kombination angestrengtester Arbeit mit regster Sinnesfreudigkeit. Aber wie man in Berlin keine in sich gefestigte, zusammengehörig fühlende Gesellschaft habe, so fehle auch ein Milieu, das gesellschaftliche Leben im öffentlichen Raum zu gestalten. „Die Ansätze und die Prätentionen dazu sind da” , schreibt der Autor, „man versteht es indessen in Berlin längst noch nicht, sich mit Grazie zu amüsieren - und so setzt man vorläufig an die Stelle des Esprit und der Anmut nur das klobige materielle Geniessen.” 17
Brot mit Bratenfett
Mit der durch den Ersten Weltkrieg und die Weltwirtschaftskrise hervorgerufenen Notlage gewann der Alltag der Menschen jenseits von Hof und Elite an Schärfe. Berlin litt unter den Folgen der britischen Seeblockade, unter Hunger und Kälte und unter dem Wucher, der die Lebensmittelpreise in unvorstellbare Höhen trieb. Die Stadt wurde ein Zentrum wachsender und zunehmend politisierter Unruhe.18 Schon im Februar 1915 war Brot nur noch über Brotkarten erhältlich, später auch Lebensmittel wie Zucker, Butter, Eier, Fleisch und Kartoffeln. Die Missernte von 1916 führt in Berlin zum so genannten Kohlrübenwinter, so dass die Stadt sich gezwungen sah, öffentliche Volksspeisungen zu organisieren. Aber nicht nur Angebot und Beschaffungsbedingungen verschlechterten sich, auch die Mahlzeitenstruktur war Veränderungen unterworfen. Viele Frauen arbeiteten aufgrund des Arbeitskräftemangels in der Rüstungsindustrie und wurden in den Werkskantinen versorgt - private Mahlzeiten und gewachsene Traditionen traten mit der zentralen Lenkung des öffentlichen Lebens und der zunehmenden Unterversorgung der Bevölkerung vielfach in den Hintergrund. Das Ende des Ersten Weltkriegs brachte für einen Großteil der Berliner Bevölkerung kaum Veränderung, breite Schichten lebten nach wie vor in Armut, Unterernährung von Schulkindern war keine Seltenheit. Mit der Weltwirtschaftskrise von 1929 kam es erneut zu Engpässen in der Versorgung, zu Hamsterfahrten ins Umland und zu Warteschlangen in den Geschäften und auf den Märkten. 19
Der britisch-amerikanische Schriftsteller Christopher Isherwood beschrieb in seinem autobiografisch gefärbten, reportagehaften Roman ,Goodbye to Berlin‘ 20 ein Jahrzehnt später seine Eindrücke von Alltag einer Arbeiterfamilie in Berlin-Kreuzberg. Ein verarmter Sprachlehrer zieht im Roman vorübergehend bei der Familie Nowak ein, die mit fünf Personen in einer kleinen Dachgeschosswohnung in der Wassertorstraße wohnen. Die Küche der Wohnung ist so klein, dass kaum zwei Personen Platz haben und Isherwood beim Eintreten fast die Pfanne vom Herd stößt, in der Kartoffeln in billiger Margarine braten. Nachdem sein Einzug beschlossen ist, veranstaltet die Familie ein Willkommensessen für den neuen Kostgänger, bestehend aus Lungenhaschee, Schwarzbrot, Malzkaffee und gekochten Kartoffeln. Eine Mahlzeit, die nur möglich ist, weil der neue Mitbewohner seine wöchentliche Miete von zehn Mark bereits im Voraus bezahlt hat.
Die Zusammenstellung der Lebensmittel - preiswerte Innereien, günstige Vollkornprodukte, Kaffeeersatz und Kartoffeln gewähren (literarisch eingefärbt) einen Einblick in die Essgewohnheiten der Familie. Im Vordergrund steht ganz deutlich der Sättigungscharakter der zubereiteten Lebensmittel, die im Grundpreis nicht teuer sein dürfen. Allein die Menge ist entscheidend, was deutlich wird, als die Mutter und Köchin dem neuen Gast ungefragt mehrere Nachschlagportionen auf den Teller lädt. Der Geschmack des Gerichts bleibt außen vor und spielt in der Erzählung entsprechend auch keine Rolle. „Sie essen gar nichts” , kommentiert die Mutter die Bemühungen des Autors, seine Portion zu bewältigen. „Christoph mag unser Essen nicht” , sagt der Vater, „machen Sie sich keine Sorgen Christoph, Sie werden sich dran gewöhnen.”
Für Berlin typische Muster lassen sich in ,Goodbye to Berlin‘ nicht entdecken, vielmehr enthält der Roman die Schilderungen des alltäglichen Mangels, wie er am Vorabend der nationalsozialistischen Diktatur auch in anderen deutschen Städten zu finden ist.
Diese bedeutete ab 1933 neben einer politischen, spätestens mit den Vorbereitungen auf die Kriegswirtschaft gegen Ende der 1930er Jahre, auch eine Gleichschaltung‘ der Ernährung. Regionale und persönliche Präferenzen wurden den militärischen Belangen untergeordnet, unter anderem wurde der Nahrungsmittelverbrauch unter ökonomischen Gesichtspunkten gezielt beeinflusst. So versuchte das Regime die Essgewohnheiten der Menschen auf Produkte zu lenken, die in ausreichender Menge zur Verfügung standen, wie beispielsweise Brot, Gemüse und Rübenzucker statt Eiern, Fleisch und tierischem Fett.21 Für die Ernährungstraditionen bedeutete dies eine dauerhafte Schwächung, da die Bevölkerung eher nach den Prinzipien der modernen Agrarwissenschaften als nach den Grundlinien der bisherigen Ernährungslehre versorgt wurde. Damit war für eine ganze Generation der Ausnahmezustand auch beim Essen zur Normalität geworden. 22
Die ersten Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren nach wie vor geprägt von Mangel und Unterversorgung. In Berlin verstärkte sich die Ungewissheit durch die Aufteilung der Stadt unter den vier Besatzungsmächten und die Blockade des Westteils der Stadt durch die Sowjetunion. Die Ernährung wurde in Ost wie West wieder in den Dienst der herrschenden Ideologie gestellt; die Mahlzeit zum Politikum. Während im Ostteil der Stadt eine Grundversorgung der Bevölkerung nur durch unwirtschaftliche Subventionen und eine bis 1958 beibehaltene Rationierung von Lebensmitteln notdürftig aufrecht erhalten werden konnte, profitierte Westberlin vom raschen wirtschaftlichen Aufschwung der Bundesrepublik.
Ernährungserziehungsarbeit
1951/52 ließ das Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten eine Studie mit dem Titel ,Erhebung über die Ernährungsverhältnisse in 25 Westberliner Haushalten mit Kindern‘ durchführen. 23 „Wir verfügen wieder über Lebensmittel in so großer Auswahl, daß das Kochen wieder Spaß macht” , heißt es dort, „unsere Wahl wird meist vom Geldbeutel her bestimmt.” Umso wichtiger sei es, das knappe Geld derart anzulegen, dass es der Gesundheit am zuträglichsten sei.24 Die Frage einer gesunden Ernährung wird somit an ökonomische Aspekte gekoppelt. Die Vergeudung von Lebensmitteln wird hier zwar nur als nebensächlicher Punkt angesprochen, sie wird aber bei der Versorgungsproblematik während der Berlinblockade von 1948/49 eine nicht zu vernachlässigende Rolle gespielt haben. Die Studie befasst sich schwerpunktmäßig mit Frühstück, Mittagessen und Abendessen und wertet sowohl Einkauf, Zubereitung und Verzehr, als auch den Kontext der Mahlzeiten (Alltag, Feiertage, Unterschiede im Jahreslauf) aus. Es ist eine wertvolle Dokumentation zeitgenössischer Ernährung innerhalb eines durch die Insellage Westberlins klar definierten Raumes. Aber auch abseits einer reinen Datensammlung lassen die Formulierungen und inhaltlichen Schwerpunkte der Studie interessante Einblicke zu. So wird beispielsweise der Anteil der süßen Hauptgerichte zum Mittagessen (beispielsweise Hefeklöße mit Backobst oder Pflaumenknödel) mit 8,1 Prozent gegenüber den Vorjahren (1950: 9,7 Prozent) als rückläufig angegeben. Eine Tatsache, die sowohl die Verdrängung regionaler Ernährungsmuster als auch eine steigende Wertigkeit und vor allem Verfügbarkeit von Fleisch sichtbar werden lässt. Auch politisch-ideologische Aspekte wurden sorgsam in den Text integriert. So wird betont, dass eine ganzjährige Versorgung mit Zitrusfrüchten wieder problemlos möglich sei, was auch als Hinweis auf die schwierigen Verhältnisse in Ostberlin zu lesen ist. Die Schulspeisung und die Speisung im Kinderhort schließlich, an denen die Kinder aus 22 der 25 Haushalte teilnahmen, zeigt, dass die Restauration der Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kind noch nicht vollständig vollzogen war. Noch gebot die ungewisse Zukunft Berlins zumindest teilweise eine Versorgung durch die öffentliche Hand. Gegen Ende der Adenauer-Ära verschwand diese nahezu sozialistisch anmutende Gemeinschaftsversorgung fast vollständig und die Mahlzeiten kehrten - im übertragenen Sinn - in den ,Schoß der Familie‘ zurück.
Die Rolle der Hausfrau als pflichtbewusste Versorgerin der Familie wird im Text ganz explizit formuliert: „Auch die geplagte Berliner Hausfrau bemüht sich, den geselligen Charakter des Abendessens, das für viele Familien zum ersten Mal am Tage eine Stunde ruhigen Beisammenseins bedeutet, durch Abwechslung in Speisen und Getränken zu betonen und durch die liebevolle Herrichtung der Speisen zur Behaglichkeit beizutragen.” Das Gesamtergebnis der Studie ist hingegen wenig schmeichelhaft. „Zusammenfassend ist auch hier wieder festzustellen” , heißt es im Fazit, „daß besondere Zeichen einer gepflegten Kochkultur nicht anzutreffen waren.” 25 Die Berliner Küche sei nüchtern und praktisch, ernährungsphysiologisch nicht unzweckmäßig und ihre Protagonistinnen durchaus aufgeschlossen. Aber auch in den gepflegtesten Haushalten seien kaum kulinarische Feinheiten zu finden gewesen. Als Alltagsessen würden einfache Gerichte wie Pellkartoffeln, Quark und Leinöl, Hefeklöße mit Backobst, Pflaumenknödel, schlesisches Himmelreich (geräucherter Schweinebauch mit Backobst und Klößen) und Dampfnudeln bevorzugt. Brühe mit Eierstich, gebratenes Hähnchen mit Blumenkohl und brauner Butter, Kartoffelbrei und Schokoladenpudding mit Soße seien schon ein Feiertagsessen besonderer Art.
Diktatur der Kellner
Während das bundesdeutsche Wirtschaftswunder langsam aber sicher auch in Westberlin die Küchen, Kantinen und Restaurants erreichte, unterlagen die Versorgungsverhältnisse auf der anderen Seite der Grenze ganz anderen Gesetzmäßigkeiten. Im ,real existierenden Sozialismus‘ war eine offene Kritik an der staatlichen Ernährungspolitik nur bedingt möglich, da sie eine Infragestellung der herrschenden politischen Verhältnisse bedeutet hätte. Die Journalistin Jutta Voigt beschreibt in ihrem Buch ,Der Geschmack des Ostens‘ die Wertigkeit von Essen und Trinken in der DDR. Man habe sein Geld für Lebensmittel ausgegeben, weil man anderes nur mit viel Warten oder gar nicht habe bekommen können, der hohe Verbrauch der DDR-Bürger an Fleisch, Zucker, Butter und Eiern in den 1980er Jahren sei Weltspitze gewesen. „Wir aßen aus Lust und Frust, aus Begeisterung und Verzweiflung, aus Langeweile und der chronischen Angst, nicht genug zu kriegen.” 26 Die DDR sei eine proletkultische Gesellschaft gewesen, so Voigt, was sich in einer Vorliebe für kräftiges, kalorienreiches Essen, für große Portionen und Alkohol geäußert habe. 1958 ordnete der Staatsratsvorsitzende Walter Ulbricht die Versorgung der Bevölkerung auf Weltniveau an, bezeichnete sie als ökonomische Hauptaufgabe des jungen Staates und kündigte an, die Bundesrepublik in den kommenden drei Jahren im Pro-Kopf-Verbrauch von Fleisch und Butter überholen zu wollen.
Doch die Umsetzung dieser großspurigen Ankündigung erfolgte nicht an allen Orten mit dem gleichen Engagement. Ostberlin wurde, durch seine Zugänglichkeit für Bundesbürger und westliche Ausländer, zum ,Schaufenster des Sozialismus’. Die Mangelwirtschaft war hier nur in abgeschwächter Form zu spüren, seine Einwohner in vielerlei Hinsicht privilegiert. Auch außerhalb einer direkten Einflussnahme durch die Politik unterlag die Esskultur der DDR und im besonderen die ihres Aushängeschilds Ostberlin besonderen Bedingungen. Voigt spricht in ihren aufschlussreichen Schilderungen des Alltags von einer ,Diktatur der Kellner‘ .27 Die Bediensteten der Restaurants und Gaststätten und in einem vergleichbaren Maße auch die Verkäuferinnen und Verkäufer des staatlich gelenkten Lebensmittelhandels, wussten als Überbleibsel des überwundenen kapitalistischen Systems innerhalb einer sozialistischen Gesellschaft die Macht ihrer paradoxen Position zu nutzen. Einerseits ein Relikt einer ständischen Klassengesellschaft, andererseits die Speerspitze des neuen Deutschlands, hatte das Personal die Anweisung, den Kunden oder Gästen gleichberechtigt gegenüberzutreten, was sich in einer konstanten Bevormundung, Zurechtweisung und Erniedrigung des Gegenübers manifestierte. „Der Kunde duckte sich unter ihr Zepter, tanzte nach ihrer Pfeife,” schreibt Voigt: „Aufbegehren zog Liebesentzug nach sich.”28
Minimalistischer Industriechic
20 Jahre nach der Wiedervereinigung ist die Hauptstadt arm, aber sexy. Die Esskultur der Hauptstadt ist durch die Schere zwischen Elite und Prekariat, zwischen arm und reich geprägt. Die Ernährung unter so genannten Hartz IV-Verhältnissen wird dabei regelmäßig in den Medien thematisiert, von der Pseudodokumentation im Privatfernsehen bis zur politisch motivierten Berichterstattung in der ,taz’. Jedes dritte Kind in Berlin lebe in armen Verhältnissen, zitiert die Berliner Morgenpost im Juni 2010 die Antwort der Sozialsenatorin Carola Bluhm auf eine parlamentarische Anfrage. Programme wie der ,Aktionsplan plus‘ seien notwendig, um eine durchgehende Betreuung und eine ausgewogene Ernährung zu gewährleisten, so die Politikerin. Neukölln ist dabei der Bezirk, in dem mit 25.541 Kindern und Jugendlichen die meisten Minderjährigen auf staatliche Leistungen angewiesen sind. Der Neuköllner Bürgermeister Heinz Buschkowsky bescheinigt seinem Krisenkiez im selben Artikel eine Verschlechterung der Situation innerhalb der vergangenen Jahre. Der Zustand Nordneuköllns werde keinesfalls verbessert durch den Zuzug des kreativen Milieus aus Kreuzberg und Friedrichshain, so der SPD-Politiker: „Leute, die um 22 Uhr kommen und bis sechs Uhr morgens Caipi trinken, ändern die Sozialstruktur dort nicht.” 29
Anders als im industrialisierten Berlin der Wende zum 20. Jahrhundert, als soziale Klassen, auch räumlich getrennt, im Alltag kaum miteinander in Berührung kamen, finden sich gegenwärtig Sozialfälle und Trendsetter Tür an Tür, so im Neuköllner Reuterkiez an der Sonnenallee. Während in Pannier- und Weserstraße in zahlreichen neu entstandenen Cafes, Bars und Restaurants spanische Tapas die Weinkarte ergänzen, wird nur eine Straße weiter, in der Fuldastraße, jeden Freitag eine kostenlose Mahlzeit für Bedürftige angeboten. Während frühmorgens Werbetexter und Filmemacher Caffe Latte Soja und ein Buttercroissant verzehren, versuchen schlecht ernährte Kinder mit dem Tempo ihrer eiligen Eltern mitzuhalten und gleichzeitig ihr aus einem Sesamkringel oder Rosinenbrötchen bestehendes Frühstück zu verzehren. Die vielfach prekäre finanzielle Situation Alleinerziehender wirke sich auch auf die Ernährung der Kinder aus, schrieb die ,taz‘ 2008 in einer Reportage über das Kinderrestaurant Kireli in Lichterfelde. Das Restaurant biete den Kindern die Chance, mittags gesund und genug zu essen, zitiert die Zeitung die Leiterin der Einrichtung. Man habe das Projekt ins Leben gerufen, weil viele Kinder ohne Mittagsessen aus der Schule ins Jugendzentrum gekommen seien, gerade aus Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind. Bei Alleinerziehenden komme oft erst abends etwas Warmes auf den Tisch.30
Einladung zum gemeinsamen Essen auf der Straße im Neuköllner Reuterkiez
Die Restaurantkritik, ein anderer Bereich der öffentlichen Auseinandersetzung mit Ernährung, bewegt sich auf einem weitaus höheren Niveau, wie ein Blick in die Stadtmagazine ,tip‘ oder ,zitty‘ deutlich macht. Der Besuch eines Restaurants ist für viele nach wie vor eine Sache des Sozialprestiges, die verzehrten Lebensmittel bleiben weiterhin eher nebensächlich, doch eine, zumindest vordergründig kompetente Kritik an Material, Zubereitung oder Service erhöht unter Umständen das eigene Ansehen. Ein Besucher des hochpreisigen ,Borchardt‘ in Mitte habe sich über den Service beschwert heißt es im ,tip’, die Zeitschrift sei der Sache nachgegangen. „Das Team vom Borchardt wollte sich als Entschädigung etwas überlegen, doch bis heute ist nichts passiert. Blöd gelaufen!” 31 Im Widerspruch gegen die Behauptung, im ,Grill Royal‘ würde Fertigware verwendet, mag man noch eine Spur einer konkreten Restaurantkritik entdecken. Doch kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die bloße Nennung solcher Kritik an teuren Institutionen der kulinarischen Elite wichtiger ist als der tatsächliche Erkenntnisgewinn der Leser.
Restaurant Borchardt, Französische Straße in Mitte
Discounter-Filiale auf der Sonnenallee in Neukölln
Dass Geschmack und Qualität der angebotenen Lebensmittel vielfach in den Hintergrund treten, zeigt die Aufmerksamkeit, die in den Restaurantkritiken der innenarchitektonischen Ausstattung der Lokale zukommt. Sei es der fachkundige Blick für einen Tresen aus Nussbaum auf einem Fundament aus unbehandeltem Nadelholz32 oder die Schilderung des Werkstoffs Beton, die in einer fast karikaturhaften Beschreibung urbaner Inszenierung von Ernährung gipfelt: „In dem minimalistischen Industrieschick zieht sich die Mittagspause der medienkreativen Nachbarschaft schon mal in den frühen Abend.” 33 Dass Essen und Trinken, oder um präziser zu sein, die Qualität von Essen und Trinken, in diesem Kontext erst einmal eine untergeordnete Rolle spielen, ist nicht nur in Berlin eine Tatsache. Während die arrivierten Trendsetter der ,Generation Golf‘ den Wert gemeinsamer Mahlzeiten wieder entdeckt haben, muss, allen Bio- und Ökosiegeln zum Trotz, die Güte des Essens und Trinkens nach wie vor oft hinten anstehen. Diese Schere zwischen Anspruch und Wirklichkeit zu überwinden ist eine Aufgabe, an der jedoch kein Weg vorbeiführt, um sowohl die gesundheitlichen als auch die ökonomischen Folgen von Übergewicht und Fehlernährung zumindest ansatzweise eindämmen zu können.
Soweit ein zugegebenermaßen düsterer deutschlandweiter Befund. Berlin ist in dieser Beziehung keine Ausnahme. Im Gegenteil: Essen und Trinken scheinen in der Hauptstadt des wiedervereinigten Deutschlands unter verschärften Bedingungen stattzufinden. Das Publikum scheint noch anspruchsloser zu sein, das Angebot noch industrieller und der Service noch eine Spur unfreundlicher als im Rest der Republik. Berlin ist auch in kulinarischer Hinsicht eine Stadt der Extreme - die Differenz zwischen hochpreisigen HighEnd-Restaurants in Berlin-Mitte und einer Imbissbude in Moabit, zwischen der Feinkostabteilung des KaDeWe in Schöneberg und dem Angebot einer Aldi-Nord-Filiale in Neukölln könnte größer nicht sein. Die Stadt gewährt in diesem Fall, wie es als Hauptstadt zu ihren Aufgaben gehört, sowohl in ihrem kreativen Potential als auch in ihrer finanziellen Misere einen Blick in gesellschaftliche Tendenzen der Zukunft.
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