Kitabı oku: «"Rosen für den Mörder"», sayfa 3

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Auftakt in Wilna

„Messieurs, mir scheint, wir sind in Jerusalem!“, soll Napoleon Bonaparte gesagt haben, als er 1812 auf dem Weg nach Moskau seinen Einzug in der Stadt hielt. Der schlagfertige Korse und seine Entourage waren überrascht von dem Bild, das sich ihnen in den Gassen bot: Orthodoxe Juden prägen das Leben in der Stadt, die von ihnen Vilne genannt wird und seit Mitte des 18. Jahrhunderts zu einem Mittelpunkt jüdischer Frömmigkeit und Gelehrsamkeit geworden ist. Hier, im „Jerusalem des Nordens“, blüht die Haskala, die osteuropäisch-jüdische Aufklärung, die Bildung und Wissenschaft hochhält und eine Erneuerung des Judentums anstrebt.

1847, unter Zar Nikolaus I., wird eine russischsprachige Rabbinerschule mit einem angeschlossenen Gymnasium gegründet, die russische Assimilationspolitik zielt auf eine Anpassung der jüdischen Bevölkerung an die russische Gesellschaft, die Repressionen reichen von der Zwangstaufe bis zur Aberkennung von Grundbesitzrechten und Militärpflicht für Juden. Gleichzeitig wächst der Antisemitismus – nicht nur bei den Russen, sondern auch bei den Polen. Von Pogromen bleibt Wilna jedoch verschont, die jüdische Gemeinschaft floriert und setzt auch politische Zeichen: 1897 wird in Wilna der „Bund“ gegründet, die bedeutendste jüdisch-sozialistische Partei Osteuropas.

1939, am Vorabend der Besetzung durch die Rote Armee im Gefolge des Hitler-Stalin-Pakts, hat Wilna, zu diesem Zeitpunkt noch Hauptstadt der polnischen Wojewodschaft Wilno (województwo wileńskie), rund 200.000 Einwohner, der Anteil der jüdischen Bevölkerung beträgt knapp 40 Prozent, also etwa 75.000 Menschen.


Wilna, das „Jerusalem des Nordens“, ist eine Stadt der Kirchen und Türme. Blick über die Altstadt, Ansichtskarte, um 1920.

Es ist Anfang Juli 1941. Seit wenigen Tagen läuft „Unternehmen Barbarossa“, Hitlers gigantischer Feldzug gegen die Sowjetunion. Ordensjunker Franz Murer, der mit seiner Truppe noch immer in Nordfrankreich stationiert ist, wird am 2. Juli zur „A. u. E.-Stelle“ des Luftgaukommandos III versetzt, soll also für „Ausbildung und Ersatz“ tätig sein. Die neue Dienststelle ist jedoch nach wenigen Tagen bereits wieder Vergangenheit: Ein Telegramm aus Berlin trifft für den Gefreiten ein. Lakonisch heißt es da: „Auf Befehl des Führers haben Sie sich in Berlin beim Sonderstab R. zu melden …“ Sonderstab R.? Murer hat keine Ahnung, was sich dahinter verbergen mag, offenbar hat man aber in der Hauptstadt eine besondere Aufgabe für ihn vorgesehen. Die Adresse, an der er sich melden soll, klingt ziemlich kryptisch: „Institut für kontinental-europäische Forschung“ in der Rauchstraße 17/18. Geht es um Russland, um einen Einsatz im Osten? Was er nicht weiß: Telegramme wie dieses haben auch zahlreiche andere „Ordensburger“ erhalten. Pflichtbewusst meldet sich Murer am 8. Juli 1941 bei seiner Einheit ab und reist am nächsten Tag nach Berlin, wo sich das Dunkel etwas lichtet: Der „Sonderstab R.“ entpuppt sich als „Einsatzstab Reichsleiter Rosenberg“ (ERR), offenbar verbindet sich damit tatsächlich eine Funktion in den eben von der Wehrmacht eroberten Gebieten. Murer muss für das geheimnisvolle Institut für kontinental-europäische Forschung eine „Notdienstverpflichtung“ unterschreiben und gleichzeitig seinen Dienst als Soldat quittieren: Aufgrund der „Notdienstverordnung vom 15. Oktober 1938“, so der Text dieser wortkargen „Polizeilichen Verfügung“, werde er nun zu einem „langfristigen Notdienst“ herangezogen. Was Murer zu diesem Zeitpunkt wohl noch nicht weiß: Er ist jetzt Mitarbeiter von Alfred Rosenbergs „Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete“, das sich unter dem genannten Tarnnamen im beschlagnahmten Gebäude der ehemaligen jugoslawischen Botschaft in der Rauchstraße angesiedelt hat. Erst am 18. November 1941 wird die Existenz dieses Ministeriums von der NS-Presse offiziell verlautbart werden, sein vorrangiges Ziel erläutert Rosenberg am Tag zuvor in einer geheimen Rede, die bereits unverblümt den Massenmord an den Juden ankündigt: Der Osten sei „berufen, eine Frage zu lösen, die den Völkern Europas gestellt ist: das ist die Judenfrage. Im Osten leben noch etwa sechs Millionen Juden, und diese Frage kann nur gelöst werden in einer biologischen Ausmerzung des gesamten Judentums in Europa.“

Murer erhält Befehl, sich auf der Ordensburg in Krössinsee zu melden, wo die für den „Osteinsatz“ vorgesehenen Absolventen unter dem Titel Führerkorps Ost zusammengezogen werden. In Schulungsvorträgen bereitet man hier die hoffnungsvollen „Nachwuchsführer“ auf ihre Aufgabe vor, Robert Ley und Rosenberg selbst, inzwischen von Hitler als „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ inthronisiert, geben sich die Ehre, um die „weltanschaulich festen Männer“ (Burggemeinschaft 5/6, 1943) auf den „entscheidenden Anfangsaufbau“ einzuschwören. Das unverhüllte langfristige Ziel: Durch „Eindeutschung rassisch möglicher Elemente, durch Kolonisierung germanischer Völker und durch Aussiedlung nicht erwünschter Elemente“ soll das gesamte Gebiet des „Reichskommissariats Ostland“ zu einem Teil des Großdeutschen Reiches werden. („Instruktion für einen Reichskommissar Ostland“, zitiert nach Franz Albert Heinen, Gottlos, schamlos, gewissenlos.) Ein Erlass Hitlers vom 17. Juli 1941 schafft die noch improvisiert klingende juristische Grundlage für Rosenbergs Männer: „Um die öffentliche Ordnung und das öffentliche Leben in den neu besetzten Ostgebieten wiederherzustellen und aufrechtzuerhalten, ordne ich an: § 1 Sobald und soweit die militärischen Kampfhandlungen in den neu besetzten Ostgebieten beendet sind, geht die Verwaltung dieser Gebiete von den militärischen Dienststellen auf die Dienststellen der Zivilverwaltung über. Die Gebiete, die hiernach in die Zivilverwaltung zu überführen sind, und den Zeitpunkt, in dem dies zu geschehen hat, werde ich jeweils durch besonderen Erlass bestimmen.“

Die ausgewählten „Ost-Kämpfer“ (Franz Albert Heinen) werden gesundheitlich untersucht, eingekleidet und mit Ausrüstung und Papieren versehen, dann geht es an die Einteilung der Stäbe und die Zuweisung der zukünftigen Aufgabenfelder. Murer wird dem aus Schleswig-Holstein stammenden SA-Führer Hans Christian Hingst (1895–1955) zugeteilt, der als Gebietskommissar von Wilna-Stadt vorgesehen ist. Murers Funktion als „Stabsleiter“: Als „ständiger Vertreter des Gebietskommissars“ wird er nach seinem Chef der wichtigste Beamte der neu geschaffenen Dienststelle und als Leiter der „Abteilung Politik“ auch für „Judenfragen“ zuständig sein.

Zum „Reichskommissar für das Ostland“ mit Sitz in Riga wird Hinrich (auch Heinrich) Lohse (1896–1964), der Gauleiter von Schleswig-Holstein, ernannt. Lohse, ehemals Bankangestellter in Altona, ist ein alter Bekannter Rosenbergs aus der „Kampfzeit“, der ihn bereits im April 1941 bei Hitler für dieses Amt vorgeschlagen und durchgesetzt hat. Nun sorgt Lohse dafür, dass seine Gesinnungsfreunde aus Schleswig-Holstein mit Posten im „Ostland“ versorgt werden – zu ihnen zählt auch Murers neuer Chef Hans Christian Hingst, bislang Kreisleiter in Neumünster. Generalkommissar im „Generalbezirk Litauen“ und damit unmittelbarer Vorgesetzter von Hingst und Murer wird Reichshauptamtsleiter Dr. Theodor Adrian von Renteln (1897–1946) aus München, ehemals Reichsführer der Hitlerjugend und seit 1940 „Hauptamtsleiter Handel und Handwerk in der Reichsleitung der NSDAP“. (1946 soll von Renteln, der baltendeutscher Herkunft ist, in der Sowjetunion hingerichtet worden sein, wie jedoch Christoph Dieckmann vermutet, könnte ihm möglicherweise auch die Flucht nach Südamerika geglückt sein.)

Für die Angehörigen der Zivilverwaltung in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine hat man eigene Uniformen aus goldbraunem Stoff geschaffen, die ihren Trägern von Seiten der Wehrmacht den wenig schmeichelhaften Spitznamen „Goldfasane“ einbringen werden, häufig verbunden mit dem Vorurteil, dass es sich um „Schieber“ und „Drückeberger“ handle. Rosenberg hat ursprünglich für seine Mannen feldgraue Uniformen verlangt, da sie ja „zivilen Frontdienst“ leisten würden – ein Überschuss an goldbraunem Stoff gibt jedoch den Ausschlag für eine Einkleidung mit diesem Material.

Ergänzt wird die goldbraune Montur durch eine rote Hakenkreuzschleife am rechten Arm, die die Aufschrift „Krössinsee“ trägt. Dieser Uniform wird später noch große Bedeutung zukommen: Sie unterscheidet ihre Träger eindeutig von Angehörigen der SS und des SD, Zeugen, die später ein Auftreten Murers in dieser goldbraunen Uniform bezeugen können, gewinnen an Glaubwürdigkeit. Wie Murer in seiner autobiografischen Skizze schreibt, bekommt er in Krössinsee auch eine Pistole ausgehändigt, verbunden „mit der ausdrücklichen Belehrung, davon nur zum Zwecke der Selbstverteidigung Gebrauch machen zu dürfen“. Daran habe er sich auch gehalten: „Ich habe auch nie von der Schußwaffe Gebrauch gemacht, ich kam weder durch einen Befehl oder durch Notwehr oder sonst einen Grund in eine solche Lage. Es war ja niemals so, daß jeder nach Belieben herumschießen konnte, da hätte er sich genau so straffällig gemacht wie heute.“ Was Murer allerdings verschweigt: Er erhält in Krössinsee auch eine Schießausbildung an dieser Waffe, der Umgang mit ihr ist ihm durchaus vertraut.

Franz Murer ist im Übrigen nicht der einzige „Ostmärker“, der in Krössinsee auf den „Osteinsatz“ vorbereitet wird: Da ist etwa der SA-Sturmbannführer Leopold Windisch, geboren am 15. April 1913 im niederösterreichischen Senftenberg, auch er ein Absolvent der pommerschen NS-Ordensburg. Windisch, 1928 bis 1931 stellvertretender „Gauführer“ der Hitlerjugend in Niederösterreich und später „Verbindungsführer“ der österreichischen SA-Landesleitung, wird Stabsleiter beim Gebietskommissariat in der weißrussischen Stadt Lida, 40 km von der litauischen Grenze entfernt. Geleitet wird die Dienststelle vom „alten Kämpfer“ Hermann Hanweg (1907–1944), einem „Kameradschaftsführer“ aus Krössinsee. Vom 8. bis zum 12. Mai 1942 ermorden die Nazis und ihre litauischen und lettischen Helfer im Distrikt Lida mindestens 12.874 Juden, Windisch, für den die Opfer nur „Abschaum“ und „syphilitisches Pack“ sind, ist an den Massentötungen wesentlich beteiligt. Unter den Ermordeten sind auch Juden aus Wilna, die hier Zuflucht suchten. Unter dem Vorwurf, die Wilnaer Juden mit Papieren ausgestattet zu haben, lässt Windisch im Frühjahr 1942 sieben Mitglieder des Judenrates von Wilna schwer misshandeln und hinrichten. Nach umfangreichen Ermittlungen – die Akten und Dokumente zu seinem Fall im Bundesarchiv Ludwigsburg umfassen 46 Bände – wird er 1969 in einem Prozess vor dem Landgericht Mainz wegen „gemeinschaftlichen Mordes“ zu lebenslanger Zuchthausstrafe verurteilt. Leopold Windisch, der bis an sein Lebensende überzeugter Nationalsozialist und Judenhasser bleibt, stirbt 1985.

Erste Station für Hingst und Murer auf ihrem Weg in das „Ostland“ ist Kaunas (Kowno), wohin Hinrich Lohse am 27. Juli 1941 die neuen Gebietskommissare und ihre Mitarbeiter zu einem Auftaktmeeting geladen hat. Noch gibt es keine klaren Anweisungen oder Verordnungsblätter, es bleibt vorerst beim Appell an „höchste Einsatzbereitschaft und nationalsozialistische Haltung“, wie es der Burgbrief, die Zeitschrift der Ordensburg Sonthofen, im August 1941 formuliert. Eine Ausnahme macht da, wie könnte es anders sein, nur das Thema Juden. Dazu kann Lohse bereits „vorläufige Richtlinien für die Behandlung der Juden im Reichskommissariat Ostland“ präsentieren, die offen und jedes Menschenrechts spottend auf die völlige Entrechtung und Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung zielen: Festgeschrieben sind hier das Tragen des gelben sechszackigen „Judensterns“ und zahlreiche Verbote wie jenes der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel oder Kraftfahrzeuge. Ohne Erlaubnis des Gebietskommissars ist kein Wechseln des Wohnortes oder der Wohnung mehr möglich, die „endgültige Lösung der Judenfrage“ behalte man sich aber noch vor – blanker Zynismus angesichts der Tatsache, dass inzwischen die Männer der Einsatzkommandos 9 und 3 in den litauischen Dörfern und Städten beinahe täglich Massaker mit Hunderten und Tausenden Ermordeten veranstalten.


Das alte „polnische“ Wilna: Die „Pohulanka“ wurde zur Jono-Basanavičiaus-Straße. Ansichtskarte, um 1916.

Einen oder zwei Tage später treffen Hingst und Murer in Wilna ein, begleitet werden sie von sechs oder sieben Mitarbeitern – Murer nennt sie in seiner autobiografischen Skizze abschätzig „Hilfskräfte“. Erste Unterkunft ist ein Hotel, da das vorgesehene „Dienstgebäude“ in der Wilnastraße noch nicht fertig eingerichtet ist. Murer wird später eine Wohnung in der Steinstraße 2 – bis 1987 Kamienna, heute Kalinausko gatve – zugewiesen, die er sich allerdings mit einem Kameraden aus Krössinsee, dem Ordensjunker Heinrich Lackner, teilen muss. Lackner, ehemals als Gastwirt und Kaufmann tätig, ist 1912 in Himmelberg, Kärnten, geboren und für seine Teilnahme am Juliputsch 1934 mit dem Blutorden der Partei ausgezeichnet worden. Im Gebietskommissariat leitet er die AbteilungenVerwaltung und Politik. Die beiden Ordensjunker haben eigene Schlafzimmer, teilen sich aber den Wohnraum. Auch ihr Chef, Hans Christian Hingst, hat seine Wohnung in diesem Haus. Die Verteidigung wird im Prozess 1963 als Entlastungszeugen auch Lackner vorladen, der Kärntner Blutordensträger lässt seinen alten Kumpel auch nicht im Stich: In der Schilderung Lackners ist Murer ein harmloser Zivilbeamter, das Gebietskommissariat habe sogar als „judenfreundlich“ gegolten. In den Geheimberichten, die er von einer Jüdin aus dem Ghetto erhalten habe, sei der Name Murer nie vorgekommen.

Tatsächlich übernimmt der Steirer die „Kernzuständigkeiten“ (Christoph Dieckmann) des Gebietskommissariats: Judentum, Polizei, Volkstums- und Siedlungsfragen, Preisbindung und -überwachung sowie das Verkehrswesen. Sein für das jüdische Vermögen zuständiger Mitarbeiter ist der Litauendeutsche August Kühn, ein ehemaliger Volksschullehrer, der nun in Iserlohe, Westfalen, lebt. Auch er wird 1963 zum Prozesss nach Graz vorgeladen und auch er bestätigt, wie korrekt und fürsorglich Murer gewesen sei: „Murer war Adjutant des Gebietskommissars und Referent für Landwirtschaft, Preisüberwachung und Fahrbereitschaft. Mit Juden hat er nur in wirtschaftlichen Sachen zu tun gehabt. Bei der Errichtung des Ghettos war er Vertreter des Gebietskommissars. Murer war oft im Ghetto und ich bin ein einziges Mal mit ihm gewesen. Sein Ruf im Ghetto war nicht schlecht. Man hat nichts Schlechtes über ihn gehört. (…) Es ist mir völlig unbekannt, daß Murer von den Juden so gefürchtet war.“ (Zitiert nach Gerichtsakt Franz Murer, Steirmärkisches Landesarchiv.)

Ein Mädchen erlebt Franz Murer:
Mascha Rolnikaite

Mascha Rolnikaite ist 13, als die Deutschen nach Wilna kommen, in wenigen Wochen, am 21. Juli, will sie ihren 14. Geburtstag feiern. Ihr Vater, der jüdische Rechtsanwalt Dr. Hirsch Rolnik, hat in Leipzig promoviert und spricht fließend Deutsch, ihre Mutter Taiba Rolnikene kümmert sich um den Haushalt. Die Familie – Mascha hat noch drei Geschwister: die 16-jährige Schwester Mira, den 5-jährigen Bruder Ruwele und die 7-jährige Schwester Rajele – ist erst 1940 aus der nordwestlitauischen Kleinstadt Plunge nach Wilna gezogen und hat eine Wohnung im zweiten Stock in der Deutschen Straße 26 gemietet. Am Sonntag, dem 22. Juni 1941, dem Tag des ersten Bombenangriffs der deutschen Luftwaffe auf Wilna, bricht ihre Welt zusammen. Ein Fluchtversuch der Mutter mit den vier Kindern in Richtung Minsk scheitert im Chaos, der Vater Hirsch Rolnik wird von seiner Familie getrennt. Von den Fenstern ihrer Wohnung aus beobachten Mira und Mascha am 24. Juni den Einmarsch der Deutschen. Die „schwarze Spinne, das faschistische Hakenkreuz, macht uns große Angst“, schreibt Mascha in ihrem Tagebuch. Auf Zetteln und Papierschnipseln notiert sie von nun an den Leidensweg der Familie, immer mit der Gefahr lebend, dass ihre Aufzeichnungen bei einer Hausdurchsuchung entdeckt werden könnten – Franz Murer, so befürchtet sie, würde sie und alle anderen Hausbewohner auf der Stelle erschießen lassen.


Befürchtet von Murer erschossen zu werden: Mascha Rolnikaite. Ihr Tagebuch, eine wichtige Quelle für das Schicksal der Wilnaer Juden, wird erst nach dem Grazer Prozess gegen den Steirer publiziert.

Maschas Geburtstag wird trotz des Schreckens gefeiert. „Als Mama mir gratuliert und ein langes Leben gewünscht hat, ist sie in Tränen ausgebrochen. Wie oft habe ich diesen einfachen Glückwunsch gehört und mir nichts dabei gedacht: Dabei ist er so bedeutungsvoll …“ (Zitiert nach Mascha Rolnikaite, Ich muss erzählen.)

Berauben, erpressen, vernichten

Die erste Aufgabe des Gebietskommissariats: Es muss sich seinen Platz im Reigen der einzelnen NS-Dienststellen erkämpfen. Da ist einmal die Wehrmachtsfeldkommandantur, Gestapo, SD und Sicherheitspolizei (Sipo) haben sich ebenfalls bereits in der Stadt eingenistet, später kommt auch noch eine SS- und Polizeistandortkommandantur dazu, die von dem aus Preußisch Stargard stammenden SS- und Polizeiführer Lucian Wysocki (1899–1964) geleitet wird. Und es gibt eine intakte litauische Stadtverwaltung mit dem litauischen Bürgermeister Karolis Dabulevičius an der Spitze, die zum unmittelbaren Ansprechpartner oder besser „Befehlsempfänger“ wird. Parallel zum Gebietskommissariat Wilna-Stadt wird das Gebietskommissariat Wilna-Land eingerichtet, dem der SA- und spätere SS-Angehörige Horst Wulff (1907–1945), ein ehemaliger Hotelkaufmann, als Gebietskommissar vorsteht.

Die Arbeitsrichtlinien und Verordnungen von Rosenbergs Ministerium für die Zivilverwaltung in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine ergehen schließlich am 3. September 1941, zusammengefasst in einer Dokumentensammlung, die als Braune Mappe bekannt geworden ist. Die Aufgabe des Gebietskommissars wird darin folgendermaßen definiert: „Der Gebietskommissar leitet als untere Verwaltungsbehörde im Kreisgebiet die gesamte Verwaltung nach den Weisungen des Generalkommissars und der übergeordneten Dienststellen. Bei ihm liegt daher das Schwergewicht der gesamten Verwaltung.“ Und in den „Arbeitsrichtlinien“ für die Zivilverwalter heißt es: „Die erste Aufgabe der Verwaltung in den besetzten Ostgebieten ist, die Interessen des Reiches zu vertreten. Dieser oberste Grundsatz ist bei allen Maßnahmen und Überlegungen voranzustellen. Zwar sollen die besetzten Gebiete in späterer Zukunft in dieser oder jener noch zu bestimmenden Form ihr Eigenleben führen können. Sie bleiben jedoch Teile des großdeutschen Lebensraumes und sind stets unter diesem Leitgedanken zu regieren.“ (Zitiert nach Franz Albert Heinen, Gottlos, schamlos, gewissenlos.)

Breiten Raum nehmen in diesen „Arbeitsrichtlinien“ von Rosenbergs Ostministerium die „Richtlinien für die Behandlung der Judenfrage“ ein, die systematisch die weitere Isolierung und umfassende Entrechtung der jüdischen Bevölkerung einfordern. Ein „etwaiges Vorgehen der örtlichen Zivilbevölkerung gegen die Juden“, so ein wichtiger Punkt, sei nicht zu hindern, gerne überlässt man das Morden wie in Kaunas litauischen Faschisten und Totschlägern. Ein „erstes Hauptziel der deutschen Maßnahmen“ müsse es sein, das „Judentum streng von der übrigen Bevölkerung abzusondern“, die „Überführung in ein Ghetto“ sei daher anzustreben, das Judentum müsse „Zug um Zug“ aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden werden. Bereits mit einer Verordnung vom 16. August 1941 hat Rosenberg die Zwangsarbeit für alle Juden vom vollendeten 14. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr eingeführt, nun folgen weitere Schikanen: Juden sollen nur mehr schwere körperliche Hilfsarbeiten leisten und ansonsten „aus dem Wirtschaftsleben ausgeschieden“ werden. Das flache Land sei von den Juden zu „säubern“, das Verlassen der Ghettos in den Städten sei ihnen zu verbieten, es sei ihnen „nur so viel an Nahrungsmitteln zu überlassen, wie die übrige Bevölkerung entbehren kann, jedoch nicht mehr, als zur notdürftigen Ernährung der Insassen der Ghettos ausreicht“. Die „arbeitsfähigen Juden“ seien nach „Maßgabe des Arbeitsbedarfs“ zur Zwangsarbeit heranzuziehen, die Vergütung habe dabei „nicht der Arbeitsleistung zu entsprechen, sondern nur der Bestreitung des notdürftigen Lebensunterhaltes“ zu dienen. Das hermetisch abgeschlossene Ghetto müsse seine „inneren Verhältnisse“ in Selbstverwaltung regeln, das Gebietskommissariat habe darüber die Aufsicht – ein klarer Arbeitsauftrag für Hingst und Murer, dem sie auch auf Punkt und Beistrich nachkommen wollen: „Konzentration, Kennzeichnung, Enteignung und Ausbeutung“ der Juden von Wilna sind ihr Ziel, ein „gestaffeltes System von Ausbeutung, Terror und Kontrolle“, das dafür sorgt, dass diese „tagtäglich im Schatten des Todes“ leben. (Wolfgang Benz, Einsatz im Reichskommissariat Ostland.) Dass sie damit der Endlösung der Judenfrage, der flächendeckenden „Vernichtung“ von jüdischen Männern, Frauen und Kindern, zuarbeiten, scheint die beiden „Goldfasane“ nicht weiter zu stören, ja, sie unterstützen die Mordkommandos mit entsprechenden Maßnahmen. Sie haben zwar nicht das Recht zu töten oder töten zu lassen – sie nehmen es sich jedoch einfach. Die jüdische Bevölkerung untersteht dem Gebietskommissariat in allen zivilen Belangen, Polizei, SD und Gestapo sind für „Sicherheitsbelange“ zuständig, was immer auch das heißen mag – gemeinsam sorgt man für Terror und Tod.


Auftakt zum Holocaust: Angehörige des Litauischen Selbstschutzes treiben Juden aus ihren Häusern, Juli 1941.

Auftakt zu den antijüdischen Maßnahmen bildet eine erste „Bekanntmachung“, die vom Gebietskommissariat am 2. August 1941 veröffentlicht wird. Die Vernichtung beginnt mit der Erfassung der jüdischen Bevölkerung und ihrer Stigmatisierung: Bei Aufruf durch den Bürgermeister haben sich alle Einwohner „zwecks Registrierung“ zu melden. Alle Juden und Jüdinnen, die das 10. Lebensjahr überschritten haben, sind „mit sofortiger Wirkung verpflichtet, auf der rechten Brustseite und am Rücken einen – mindestens 10 cm breiten – weißen Streifen mit dem gelben Zionsstern oder einen 10 cm großen gelben Fleck zu tragen. Diese Armbinden bzw. Flecke haben sich die Juden und Jüdinnen selbst zu verschaffen und mit dem entsprechenden Kennzeichen zu versehen.“ Mit einer Reihe weiterer Schikanen wird die jüdische Bevölkerung systematisch ihrer Menschenwürde beraubt: Juden dürfen von nun an die Gehsteige nicht mehr benutzen, verboten sind ihnen ebenso Promenaden und öffentliche Parkanlagen sowie Strände. Verboten ist ihnen ab sofort auch die Benützung aller öffentlichen Verkehrsmittel und von Taxis, die Betreiber öffentlicher Verkehrsmittel müssen dafür sorgen, dass in ihren Fahrzeugen gut sichtbar ein Schild „Nur für Nichtjuden“ angebracht ist. Später wird auch „das Grüßen seitens der Juden und Jüdinnen“ ausdrücklich verboten, „Zuwiderhandlungen“ werden natürlich streng bestraft.

Wenige Tage später verschärft das Gebietskommissariat diese Bestimmungen und nennt 17 „Prinzipialstraßen“, die von nun an von Juden nicht mehr betreten werden dürfen. Als der Judenrat daraufhin am 18. August interveniert, lässt sich Murer zu einer Sonderregelung bewegen: 5 Mitgliedern des Judenrates soll das Betreten dieser „Prinzipialstraßen“ gestattet sein, weiters auch zwei „Courieren“, um den Dienstbetrieb aufrechtzuerhalten. Der Referent für jüdische Angelegenheiten im Landkreis Vilnius, zu diesem Zeitpunkt noch ein Herr Jonas Čiuberkis, wird von ihm gebeten, entsprechende Ausweise „mit den Namen der Juden“ auszuarbeiten. (LCVA, R-643, ap. 3, b. 300, BL. 50)

Von Anfang an, so hat man den Eindruck, ist es Murer, der das Heft in die Hand nimmt. Vor Gericht wird er später treuherzig beteuern, nur für das Landwirtschaftsreferat zuständig gewesen zu sein, in seiner im Alter verfassten autobiografischen Notiz räumt er ein, dass er die „Landwirtschaft im Stadtbereich“ nur „nebenbei“ zu betreuen hatte, damit verknüpft wäre gewesen, „die Ablieferungspflichten einzuführen, das Verwaltungsstrafrecht bei Preisüberwachung und Schleichhandel auszuüben und die Preisüberwachungsstelle zu übernehmen. Weiters die Kraftfahrzeug-Zulassung und den Kraftfahrzeugpark zu organisieren“ – all das in Zusammenarbeit mit der litauischen Stadtverwaltung. Seine Hauptaufgabe als Stabsleiter und Adjutant Hingsts liegt aber von Anfang an in der Auseinandersetzung mit „Judenangelegenheiten“ und da will er es den Juden gleich einmal so richtig zeigen:

Am 6. August 1941 lädt Franz Murer – angeblich auf Befehl von Hingst und SS- und Polizeiführer Lucian Wysocki – Mitglieder des Judenrats zu einem Gespräch ein, es kommen Eliezer Kruk, Abraham Zajdsznur und Shaul Pietuchowski. Das Treffen findet jedoch nicht in den Büroräumen des Gebietskommissariats statt, sondern in einem Haus in einer nahe gelegenen Gasse. Murer überrascht die drei Männer mit einer schockierenden Forderung: Am nächsten Tag, dem 7. August, müssten ihm die Juden fünf Millionen Rubel (= 500.000 Reichsmark) „Bußgeld“ übergeben. Um neun Uhr morgens, so Murer weiter, solle ihm die Deputation des Judenrats die ersten zwei Millionen überbringen, im Laufe des Tages dann die weiteren Millionen. Und dann eine deutliche Drohung: Sollten ihm die zwei Millionen nicht am nächsten Morgen übergeben werden, so hätten sich um zehn Uhr alle anderen Mitglieder des Judenrats bei ihm einzufinden, um die Leichen ihrer Kollegen abzuholen.

Die drei Männer kehren in den Judenrat zurück, Panik macht sich breit, als sie von Murers Forderung berichten. Wie soll man so schnell so viel Geld auftreiben? Auf den Straßen dürfe man sich bis sechs Uhr abends aufhalten, zahlreiche Straßen sind für Juden überhaupt gesperrt. Schließlich ist es, wie Herman Kruk in seinem Tagebuch berichtet, der greise Arzt Dr. Jakob Wygodzki, der seine Stimme erhebt: Für Verzweiflung sei keine Zeit, man müsse sofort mit dem Sammeln des Geldes beginnen.

Die Nachricht von Murers Bußgeld-Forderung verbreitet sich rasch. Spontan werden Komitees gebildet, die einzelne Straßen und Stadtteile übernehmen, man beginnt mit dem Einsammeln von Geld, Gold und diversen Wertgegenständen. Um sechs Uhr abends hat man 667.000 Rubel, ein Pfund Gold, Uhren und Diamanten beisammen. Viele Juden glauben, dass sie mit ihrer „Spende“ ihr Leben erkauft haben. Andere wieder hoffen, dass die Tributzahlung dazu beitragen könne, etwas über das Schicksal ihrer verschleppten Angehörigen zu erfahren.

In ihrem Tagebuch schildert Mascha Rolnikaite die Verzweiflung dieses Tages – der 14-Jährigen hat man gesagt, dass die Deutschen am nächsten Morgen mit der Tötung aller Juden beginnen werden, sollte die geforderte Summe nicht abgeliefert werden. Ihre Mutter hat „alles Geld bis auf den letzten Groschen zusammengesucht“ und dem Judenrat gebracht, sie selbst glaubt sich schon verloren: „Ich stehe am Fenster, sehe hinaus und weine: Der Gedanke, dass ich morgen sterben muss, ist furchtbar. Bis vor kurzem bin ich doch noch in die Schule gegangen, bin durch die Schulflure gelaufen, habe an der Tafel gestanden, und plötzlich heißt es – stirb!“ (Zitiert nach Mascha Rolnikaite, Ich muss erzählen.)


Adjutant Franz Murer ist gnädig: Er gestattet den Mitgliedern des Judenrats das Betreten von 17 „Prinzipalstraßen“ (LCVA, R-643, ap 3, b 300, Bl. 50).

Am Morgen des 7. August, pünktlich um 9 Uhr, stehen Kruk, Zajdsznur und Pietuchowski wieder vor Murer. Er geht mit ihnen in den Keller des Hauses, zählt das mitgebrachte Geld und fragt dann, wo denn der Rest sei. Die drei Männer erklären ihm, dass noch gesammelt werde. Murer schickt daraufhin Abraham Zajdsznur zurück zum Judenrat, die beiden anderen werden festgenommen. Die Order, die Zajdsznur zu überbringen hat: Alle Mitglieder des Judenrats müssten sofort vor Murer erscheinen und den ganzen Betrag mitbringen.

Der Judenrat kommt denn auch vollzählig, allerdings ohne Geld. Dr. Wygodzki wagt sich mit der Bitte vor, die Frist für die Aufbringung des gesamten Betrags auf zehn Tage zu erstrecken. Murers Antwort, so berichtet Grigorij Schur, ist ein Wutschrei: „Verdammter alter Jude!“ – er befiehlt Wygodzki zu schweigen. Einen ähnlichen Fluch bekommt auch die Ärztin Dr. Cholemowa zu hören, als sie für Wygodzki in die Bresche springen will und auf die knappe Frist verweist: „Du Hure, sei still, bevor ich meine Geduld verliere!“ (Zitiert nach Mendel Balberyszski, Stronger than Iron.) Murer, der die ganze Zeit über mit seiner Peitsche herumfuchtelt, lässt zwei Judenrat-Mitglieder festnehmen und erklärt den anderen, dass auch sie dieses Schicksal erleiden würden, sollte der fehlende Betrag nicht endlich aufgebracht werden. Sollte dies aber der Fall sein, würde er sie „wie Hunde“ erschießen lassen (Mendel Balberyszski). Dann nimmt er den Koffer mit dem Geld und den Wertgegenständen und verlässt das Haus.

Wenige Stunden später besucht der mit Jakob Wygodzki befreundete Pharmazeut Mendel Balberyszski den alten Herrn, der sich über die Vorgangsweise Murers nicht beruhigen kann. In seinem Augenzeugenbericht Stronger than Iron erzählt Balberyszski: „‚Du weißt‘, sagte er zu mir, ‚ich bin ein Mann, der nicht leicht einzuschüchtern ist. Ich kenne die Deutschen nicht erst seit heute. Aber was meine Augen bei diesem Treffen gesehen und meine Ohren gehört haben, hätte ich mir nie vorstellen können. Sich einer Dame gegenüber, einer Frau Doktor, so vulgärer Ausdrücke zu bedienen, seine unflätige, arrogante Sprache mir gegenüber und das ständige Herumfuchteln mit der Peitsche vor meinen Augen deuten auf eine tragische Zukunft. Von diesen beiden (= Hingst und Murer, Anm. J. S.) können wir nichts erwarten. Das Geld muss gesammelt werden. Wir können nur hoffen, dass das Geld die Bestie beruhigen wird … zumindest für einige Zeit.‘“ (Übersetzung: J. S.)