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1 Sozialarbeit – Geschichte der Armenpflege und Armenfürsorge / Wohlfahrtspflege
Abbildung 2: Geschichtliche Wurzeln der Sozialarbeit
1.1 Urkategorie der Armenpflege und Fürsorge: Armut und Hilfe
1. Praxis-Situation: Problem – Hilfe
Frau Stark, 36 Jahre alt, ist alleinerziehende Mutter ihrer beiden Töchter von acht und zehn Jahren. Sie arbeitet als Verkäuferin in einer Bäckerei. Mit ihrem Verdienst kann sie ihre Familie mehr schlecht als recht ernähren. Sie und ihre beiden Töchter müssen auf vieles verzichten. In den Urlaub zu fahren oder ins Kino zu gehen, ist für sie Luxus, den sie sich nicht leisten können. Frau Starks Bekannte raten ihr, sich finanzielle Unterstützung vom Jobcenter zu holen. Das sei ihr gutes Recht. Frau Stark lehnt dies jedoch energisch ab. Sie kommt schon alleine zurecht. Sie braucht das Jobcenter nicht. Die wollen einen ja nur ausfragen, kontrollieren und am Ende hat man das Gefühl, versagt zu haben und deshalb Hilfe zu brauchen. Sie ist stolz, dass sie es mit ihren Kindern so gut alleine schafft. Sie buckelt nicht vor anderen, schon gar nicht vor Leuten vom Jobcenter.
Wie ist Ihre Meinung? Was würden Sie Frau Stark raten?
Zu den Grundkonstanten der Armenpflege und Fürsorge zählen die beiden Begriffe Armut und Hilfe.
Hilfe, eine Urkategorie
„Hilfe ist eine Urkategorie des menschlichen Handelns überhaupt, ein Begriff, der nicht weiter zurückzuführen ist, außer auf den des gesellschaftlichen Handelns überhaupt … Hilfe ist eine gesellschaftliche Kategorie. Ihr Begriff bezeichnet ein Verhalten im menschlichen Zusammenleben.“ (Scherpner 1962, 122)
„Hilfsbedürftig und damit Gegenstand der fürsorgerischen Hilfe sind also diejenigen Gemeinschaftsmitglieder, die aus irgendwelchen Gründen den Anforderungen der Gemeinschaft gegenüber versagen, die nicht imstande sind, den Platz im Gemeinschaftsleben zu behaupten, an den sie gestellt sind, und die daher in der Gefahr sind, aus der Gemeinschaft herauszufallen.“ (Scherpner 1962, 138)
„Mir geht es gut. Ich komme sehr gut alleine klar.“ Wer so argumentiert, dem muss man einerseits Selbstbewusstsein und entsprechende Kompetenz bescheinigen. Andererseits kann man auch Bedenken haben. Kommt man im Leben immer alleine zurecht, muss man nicht mitunter auch Hilfe in Anspruch nehmen? Wie ist Ihre Meinung?
Die Urgeschichte der Menschheit (Phylogenese) zeigt, dass Menschen die Hilfe ihrer Gruppe, Familie, ihres Clans oder Stammes brauchten, um zu überleben. Und die Ontogenese eines Menschen belegt, dass ein Baby, Kleinkind, Kind ohne die Hilfe seiner Eltern bzw. Erwachsener und der sozialen Umwelt nicht existieren kann.
Somit ist (gegenseitige) Hilfe eine natur- und lebensnotwendige Kategorie der Menschheit.
Hilfe als Handlungsform
Führt man diesen Gedanken weiter auf unsere Zeit, so kann man Hilfe verstehen als Handlungsform des Beratens, Bildens und Unterstützens. Hilfe wird dabei vor allem als Kommunikation verstanden, durch die Ressourcen unterschiedlicher Art zur Lebensführung und Lebensbewältigung entdeckt, transferiert oder mobilisiert werden. Hilfe in diesem Sinne ist als Grundprozess der Sozialen Arbeit anzusehen. Dieser Prozess der Hilfe basiert auf zwei Grundpfeilern: Subjekten, die der Hilfe bedürfen und Institutionen, Professionellen, die helfen wollen. Damit schließt Hilfe auch automatisch Kontrolle mit ein, ist doppeltes Mandat (Schefold 2012, 1126). Hilfe und Kontrolle sind zwei Seiten des gleichen Sachverhaltes.
Armut
Armut begleitet die Menschheit von Beginn an und begegnet uns in unterschiedlichen Formen. Weitgehend wurde Armut jedoch innerfamiliär versucht aufzufangen, d. h. die Großfamilie, das „ganze Haus“, die Verwandtschaft, die Zunft etc. war verantwortlich, wenn jemand in Not geriet. Armut wurde als Problem der sozialen (Klein-)Gruppe verstanden und es wurde darauf entsprechend reagiert. Die Hilfe und Unterstützung durch die sozialen Primärverbände (Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft) sind typische Hilfeformen einer agrarischen Gesellschaft. In den bäuerlichen Großfamilien und überschaubaren Dorfgemeinschaften half man sich gegenseitig.
öffentliche Armenfürsorge
Erst seit dem Zeitpunkt, als die sozialen Primärverbände die Armut aufgrund von Kriegen, Krankheit etc. nicht mehr intern beheben konnten und die Armut „öffentlich“, bzw. zur sozialen Problemlage wurde, gab es Armenpflegemaßnahmen durch die sich entwickelnden Städte und Kommunen als eigenständige Hilfsangebote, d. h. die Familien- und Nachbarschaftshilfe wurde zunehmend durch ein öffentlich-hoheitliches Leistungs- aber auch Kontrollsystem abgelöst.
Diese neu entstandene öffentliche Armenpflege, die nach und nach zur öffentlichen „Fürsorge“, dann Wohlfahrtspflege wurde, lässt sich nach Inhalt und Zielgruppe unterscheiden:
■ Erwachsenen-Fürsorge: Bei „Unangepasstheit“ an die materiellen Lebensbedingungen, wirtschaftlichem Versagen, materieller Not wurde Hilfe angeboten.
■ Kinder-Fürsorge: Bei Unzulänglichkeiten gegenüber der moralischen Ordnung, Verwahrlosung wurde Hilfe angeboten und man begann ab dem Ende des 19. Jahrhunderts von Jugendfürsorge zu sprechen.
Unter Verwahrlosung verstand der Frankfurter Fürsorgetheoretiker und Hochschullehrer Hans Scherpner (1898–1959) „jedes individuelle Versagen gegenüber den moralischen Anforderungen, das aus einem Mangel an Erziehung und Bewahrung, aus dem ‚Wahr-los-Sein‘ hervorgeht.“ (Scherpner 1962, 138)
Grundtypen der Hilfsbedürftigkeit
Die beiden Grundtypen der Hilfsbedürftigkeit stehen zwar in Wechselbeziehung, dennoch kann man sie deutlich voneinander unterscheiden: Unter Armut wurde in ihrer typischen Ausprägung ein Notstand des Erwachsenen, unter Verwahrlosung dagegen eine typische Erscheinung jugendlicher Hilfsbedürftigkeit verstanden.
Diese Unterscheidung von Scherpner in „Armut“ und „Verwahrlosung“ begründet die Aufteilung in Erwachsenen-Fürsorge und Kinder- (bzw. Jugend-)Fürsorge. In dieser unterschiedlichen Form der Armut bzw. Hilfe liegt nun auch die Entstehungsgeschichte von Sozialarbeit und Sozialpädagogik. Erwachsenen-Fürsorge ist das, was wir z. T. mit Sozialarbeit und Kinder-(Jugend-) Fürsorge das, was wir z. T. mit Sozialpädagogik bezeichnen würden (Abbildung 3).
Abbildung 3: Entstehungsgeschichte
Hilfe als Urkategorie menschlichen Handelns hat viele Facetten und nicht jede Hilfe ist Fürsorge. Scherpner bezeichnet im Unterschied zu anderen Hilfeformen die „fürsorgerische Hilfe“ als eine Form, aus der im Verlauf der Zeit die Hilfseinrichtungen planmäßiger Art hervorgegangen sind, die wir herkömmlich als „Fürsorge“ bezeichnen.
Als Ergebnis dieser Differenzierung gelangt Scherpner zu folgender Umschreibung von Fürsorge:
Fürsorge
„Unter Fürsorge verstehen wir organisierte Hilfeleistungen der Gesellschaft an einzelne ihrer Glieder, die in der Gefahr stehen, sich aus dem Gemeinschafts- und Gesellschaftsgefüge, aus ihrer Ordnung und ihrem Leben herauszulösen und ihr zu entgleiten. Konkreter gesagt: die Fürsorge versucht Menschen, die den Anforderungen des Gemeinschafts- und Gesellschaftslebens – sei es in wirtschaftlicher, sei es in moralischer Hinsicht – nicht genügen können, zu stützen und zu halten, oder, wenn es sein muss, sie an anderer geeigneter Stelle einzugliedern, damit sie aus eigener Kraft am Leben des Ganzen wieder sinnvoll teilnehmen können.“ (Scherpner 1966, 10)
öffentliche Hilfeorganisation
Aus den beiden Grundkategorien Hilfe und Armut folgt logischerweise die Herausbildung von sozialen Organisationen. Dies bedeutete, in dem Maße, wie gegenseitige Hilfe die Kapazitäten der sozialen Primärverbände überstieg, wurden öffentliche Hilfeorganisationen notwendig und es entstand die öffentliche Armenpflege bzw. -Fürsorge (Abbildung 4).
Abbildung 4: Grundmodell
Im Laufe der Berufsgeschichte gab es nun im Hinblick auf gesellschaftliche Transformationsprozesse unterschiedliche theoretische Erklärungsmodelle. Im Folgenden soll die Berufsgeschichte der Sozialarbeit/Sozial- pädagogik anhand theoretischer Modelle zu den Kategorien Armut – Hilfe – Öffentliche Fürsorge und ihrem Verhältnis zueinander näher skizziert werden.
Entstehung und Ausgangspunkt von Sozialarbeit/Sozialpädagogik/Sozialer Arbeit ist die Tatsache, dass die (Groß-)Familie, das ‚ganze Haus‘, die Verwandtschaft, die Zunft, das Dorf etc. nicht mehr eigenständig Arme versorgen und Armut verhindern konnten und deshalb öffentliche Armenpflege bzw. -Fürsorge notwendig wurde.
Die Entwicklung der (Erwachsenen-)Armenpflege ist überwiegend die Geschichte der Sozialarbeit und die Geschichte der Kinder- (bzw. Jugend-)Fürsorge überwiegend die Geschichte der Sozialpädagogik. Sie hatte die Aufgabe, Kinder durch Erziehung vor Verwahrlosung zu schützen. Findel- und Waisenhäuser übernahmen die Versorgung derjenigen Kinder, für die keine Familie aufkam. Beide haben aber dieselben Wurzeln in den gesellschaftlichen Wandlungsprozessen und Armenpflegestrukturen des frühen 16. Jahrhunderts.
1.2 Armenfürsorge für Erwachsene im Mittelalter (um 12.–13. Jh.) und zu Beginn der Neuzeit (14.–16. Jh.)
1.2.1 Thomas von Aquin (1224–1274)
„Es ist leichter, dass ein Kamel durch ein Nadelöhr geht als ein Reicher in das Himmelreich.“ (Neues Testament Mt. 19, 24) Die Reichen im Mittelalter hatten offensichtlich ein Problem. Was würden Sie den Reichen raten, zu tun?
erste Theorie über Armut
Im hohen Mittelalter gehörte die Kölner Universität zu den führenden Universitäten Europas. Hier lehrten bedeutende Theologen und Philosophen wie z. B. Albertus Magnus und Thomas von Aquin. Thomas von Aquin wäre, versuchte man ihn in unsere Zeit zu versetzen, ein klassischer Angehöriger der sog. „Apo“ (Außerparlamentarische Oppositionsbewegung der gesellschaftskritischen 1968er Studentengeneration), ein Aussteiger, und trotz übler Verleumdungen und Drohungen seitens der damaligen katholischen Kirche (Engelke et al. 2014, 43) nimmt seine Theorie (die thomistische Almosenlehre) innerhalb der christlichen Lehre eine herausragende Stellung ein. Sie beeinflusste in außerordentlicher Weise das abendländische theologische und soziale Denken. Die Almosenlehre des Thomas von Aquin kann man als erste Theorie über Armut verstehen. In ihr behandelt er Themen der Sozialen Arbeit, wie z. B. Armut, Almosen, Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Nächstenliebe, Arbeitspflicht, Lebensunterhalt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Gesellschaftsordnung.
Almosenlehre
Die Almosenlehre des Thomas von Aquin umfasst folgende Vorstellungen:
1. Gesellschaftsordnung: Das Gemeinwohl steht vor dem Wohl des Individuums, der Einzelne hat sich der Gemeinschaft unterzuordnen. Dies entspricht der göttlichen Ordnung. Sie spiegelt sich in der Ständeordnung des Mittelalters wider:
■ geistlicher Stand (oberster Stand)
■ weltlicher Stand (Herrschaft)
■ bürgerlicher Stand
■ armer Stand (Besitzlose)
■ bedürftiger Stand (Witwen, Waisen, Krüppel, Kranke)
Außerhalb dieser Ordnung stehen die Ehrlosen (öffentliche Sünder wie Diebe, Ehebrecher, Mörder). Diese natürliche und soziale Ordnung ist ursprünglich von Gott gewollt. Armut war hiernach Ausdruck einer ewigen Ordnung, ein notwendiger Stand.
2. Arbeit: Der Mensch definiert sich durch seine Hinordnung auf das Jenseits; das eigentliche Leben beginnt nach dem Tod. Deshalb geht es im Leben des Menschen auch primär um die Verherrlichung Gottes und um das Seelenheil. Die Arbeit ist in diesem Zusammenhang sekundär, sie dient dem Erwerb des Lebensunterhalts. Allerdings entspricht es einem natürlichen Gesetz, dass der Mensch für seinen Lebensunterhalt sorgen muss, es ist zugleich ein göttliches Gebot. Aus dieser Überlegung heraus begründet Thomas von Aquin eine Verpflichtung zur Arbeit für diejenigen, die nicht eigenen Besitz haben und davon leben können.
3. Armut und Betteln: Für den Aquinaten erhält Armut und Betteln vom Evangelium her seine Bedeutung.
Almosen
Die Notleidenden haben in der mittelalterlichen Gesellschaftsordnung einen unentbehrlichen Platz. Sie sind für die reichen „Sünder“ wichtig. Arme bieten den Reichen Gelegenheit zu verdienstlichem Tun, zum Almosengeben. Das Almosen war neben Beten und Fasten eine Möglichkeit der ‚satisfactio‘, der Genugtuung für begangene Sünden, zudem war es unbedingte religiöse Pflicht eines jeden Christen (Marburger 1979, 48). Das Almosen ist verankert im Bußsakrament. Durch Beten, Fasten und Bußetun konnte der Sünder/die Sünderin Genugtuung erreichen. Durch das Bußsakrament wurde der Sünder/die Sünderin auf die Notwendigkeit des Almosengebens verwiesen. Hierin lag die Ausdehnung der Liebestätigkeit jener Zeit. Im Mittelpunkt steht allerdings nicht der/die EmpfängerIn der Gaben, sondern der/die GeberIn. Not und Elend werden religiös-ethisch gesehen und nicht ökonomisch-gesellschaftlich. Deshalb gab es auch keinen Grund zur Änderung der Gesellschaftsordnung oder zur Abschaffung der Armut. Der Umfang der zu gebenden Almosen richtete sich nicht nach der Notlage des Armen, sondern nach der Lebenssituation des Spenders. Es geht nicht um die Beseitigung der Armut, sondern um die Erhaltung des Armen in seinem Stand der Reichen wegen.
Geiler von Kaysersberg (1445–1510)
In Straßburg entwickelte der Münsterprediger Geiler von Kaysersberg (1445–1510) die Almosenlehre des Thomas von Aquin dahingehend weiter, dass die weltliche Obrigkeit, vor allem die Städte, das Recht und die Pflicht zur Versorgung und Kontrolle der Armen hätten. Kaysersberg ist damit einer der Begründer der neueren Fürsorge, die im Spätmittelalter ihren Ausgangspunkt hat. Zur neuen Sichtweise auf Armut und Betteln haben wirtschaftliche, religiöse und gesellschaftliche Entwicklungen beigetragen. Durch sie trat eine Veränderung der Wahrnehmung und auch Bewertung des Bettelns ein. Betteln wurde verboten.
Nach christlicher Auffassung, entscheidend geprägt von Thomas von Aquin, galten die Armen als ein eigener gesellschaftlicher Stand. Er wurde um der Reichen willen erhalten, damit diese sich durch Almosengeben den „Himmel verdienen“ konnten. An eine Abschaffung des Standes der Armen war nicht gedacht. Eine Änderung dieser Sichtweise nahm erstmals Geiler von Kaysersberg vor.
1.2.2 Martin Luther (1483–1546)
Martin Luther widerspricht der Lehre, man könne sich den Himmel verdienen. Wie ist Ihre Meinung?
Gottes Gnade
Der Theologe Martin Luther stellte sich gegen die Auffassung des ehemaligen Bischofs von Karthago und Kirchenlehrers Caecilius Cyprianus (200–258), der bereits im 2. Jahrhundert die Meinung vertreten hatte, man könne sich den Himmel durch Almosengeben und Kauf von Ablässen „verdienen“ und dadurch seine Sünden tilgen. Luther beruft sich vor allem auf die Bibelstelle im dritten Kapitel des Paulusbriefes an die Römer: „Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das der Werke? Nein, durch das Gesetz des Glaubens, denn wir sind überzeugt, daß der Mensch durch den Glauben gerechtfertigt wird, unabhängig von Gesetzeswerken.“ (Röm 3, 27 f.). Nicht durch Werke, also auch nicht durch Werke des Almosengebens, können die Wohlhabenden nach Luthers Auffassung durch das Nadelöhr ins Himmelreich gelangen. Sondern er lehrte, dass man sich den Himmel nicht verdienen, sondern nur durch den Glauben und die Gnade Gottes gerettet werden könne.
1.2.3 John Calvin (1509–1564)
gottgefälliges Arbeiten
Die calvinistische Arbeitsmoral veränderte ebenfalls die Beurteilung des Bettlertums. Statt der thomistischen Almosenlehre galt jetzt der Satz des Apostel Paulus: „Wer nicht arbeiten will, soll auch nicht essen“. Nach der Auffassung des Anhängers von Luthers Lehre John Calvin ist nicht jeder Mensch von Gott erwählt. Er nahm an, dass Erfolg im irdischen Leben ein Zeichen der besonderen Erwähltheit sei und somit bereits das Unterpfand ewiger Bestimmung darstelle (Buchkremer 1982, 34). Die Arbeit sei somit Gott wohlgefällig, betteln aber eine Verletzung der Nächstenliebe. Armut wurde als selbstverschuldet angesehen und geächtet. Man trachtete danach, durch harten Zwang die sündigen Müßiggänger zu bessern, bis „ihre Hände so viel zu tun und ihre Körper so viel zu ertragen gelernt haben, daß ihnen Arbeit und Lernen leichter erscheinen als Müßiggang.“ (Scherpner 1966, 43) Denn „Müßiggang ist aller Laster Anfang“.
1.2.4 Humanismus
Der Humanismus (vetreten v. a. durch Erasmus von Rotterdam 1466–1536, Thomas Morus 1477–1535 und Juan Luis Vives 1492–1540) war in erster Linie eine religiöse und bildungsmäßige Reformbewegung, eine „katholische Reformation“ vor der eigentlichen Reformation Luthers. Der Humanismus hielt an wesentlichen Aussagen der katholischen Kirchenlehre fest, wollte die Kirche jedoch von dem „wirren Geschnörkel scholastischer Spitzfindigkeiten“ des Mittelalters befreien und sie mit Bezug auf die alten Texte der antiken Philosophen in ihrer praktischen Einfachheit wieder allen zugänglich machen. Bezüglich der Soziallehre des Humanismus verlangte z. B. Thomas Morus in seiner „Utopia“ die Arbeitspflicht für alle Arbeitsfähigen.
Bettel- bzw. Armenverordnung
Als Beleg für die praktische Umsetzung dieser neuen Sichtweise können die Bettel- bzw. Armenverordnungen genannt werden. In den ersten städtischen Armenordnungen der Stadt Nürnberg (1370/1478/1522) geht es um die frühesten Versuche, der Armut vorbeugend zu begegnen. Bettelnden Eltern sollten die Kinder weggenommen und diesen dann durch die Obrigkeit Dienst- und Arbeitsplätze vermittelt werden. Durch vorbeugende Maßnahmen wollte man Kindern beibringen, durch Arbeit ihr Brot zu verdienen. Nach und nach wurden alle BettlerInnen in Armenverzeichnissen erfasst. Eigens dafür eingesetzte Armenpfleger sollten den Kindern Arbeit in den handwerklichen Berufen vermitteln. Wer von den Erwachsenen die Erlaubnis zum Betteln erhalten hatte, musste ein sichtbares Armenabzeichen tragen. Das Almosengeben sollte mit dem Beginn der frühen Neuzeit und der entstehenden (protestantischen) Arbeitsethik nach und nach nur noch als letzte Möglichkeit angesehen werden, Armen zu helfen.
1.2.5 Juan Luis Vives (1492–1540)
Aus welchem Jahrhundert könnten folgende Überlegungen stammen? „Jeder Mensch soll arbeiten. Wer keine Arbeit hat, soll einen Arbeitsplatz vermittelt bekommen (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme). Es soll sich dabei um einen Beruf handeln, den man früher gelernt oder an dem man Freude hat.
Jeder Betrieb soll Arbeitslose aufnehmen. Bei öffentlicher Vergabe von Aufträgen soll die Stadt diejenigen Betriebe berücksichtigen, die Arbeitslose eingestellt haben. Wer sich von den Arbeitslosen selbständig macht, soll durch Aufträge der öffentlichen Haushalte unterstützt werden.”
Diese Überlegungen klingen sehr modern und zeitgemäß. Sie wurden jedoch bereits im 16. Jahrhundert von dem Humanisten Juan Luis Vives entwickelt, um damit der Armut seiner Zeit zu begegnen.
Unterstützung der Armen
Vives (geboren in Spanien, Studium in Valencia und Paris, Lehre in Löwen und Oxford) war der in Deutschland in Vergessenheit geratene, dritte große Humanist neben Erasmus und Morus. Der Gelehrte Vives hat sich besonders auf den Gebieten der Philosophie, Philologie und Pädagogik hervorgetan. Für die Geschichte der Sozialen Arbeit ist er von größter historischer Bedeutung, weil er 1526 mit seiner „de subventione pauperum“ (Die Unterstützung der Armen) die erste neuzeitliche Armenpflegetheorie vorgelegt hat. In ihr hat sich die gesamte Opposition der beginnenden Neuzeit gegen die armenpflegerischen und pädagogischen Missbräuche des späten Mittelalters gebündelt (Engelke et al. 2014, 65 f.; Zeller 2006). Sein Humanismus, der auch von Einflüssen der jüdisch-biblischen Sozialethik durchzogen ist, hat für die Entwicklung der Armenpflege in der Neuzeit ganz entscheidende Impulse gegeben und ist in vielen Punkten immer noch hochaktuell. Vives hat ein System der Armenfürsorge entwickelt, in dem alle Bereiche der Armenpflege von der materiellen Unterstützung bis zur bildungsmäßigen Förderung von Kindern/Jugendlichen in einem einheitlichen Sinnzusammenhang stehen. Die Not in seiner Zeit bewegte ihn, sich mit dieser auseinanderzusetzen. Er analysierte die Lage der städtischen Armen und entwarf eine Theorie, wie man ihnen helfen könnte.Vives geht in seinem Theoriekonzept von vier Grundsätzen aus:
Arbeit, ein Wert an sich
1. Arbeitspflicht für Arme: Vives war der Überzeugung, dass der Mensch eine natürliche Veranlagung zur körperlichen und geistigen Aktivität hat. Arbeit war mit der „protestantischen Arbeitsethik“ ein Wert an sich geworden. Deshalb forderte er eine Hingabe an die Arbeit um der Arbeit willen. Nicht mehr, weil sie als göttliches Gebot verordnet, nicht mehr, weil sie als Mittel zur Erfüllung wertvoller Zwecke notwendig sei, sondern weil sie dem Menschen seiner Anlage entsprechend an und für sich ein erstrebenswertes Gut vermittelt, kann man vom Menschen erwarten und verlangen, dass er seinen Kräften entsprechend arbeitet (Scherpner 1962, 91). Daher lehnte Vives auch das Betteln als Broterwerb ab. Betteln sollte möglichst ganz abgeschafft werden. Der Humanist Vives lehnte die mittelalterliche Glorifizierung der Armen und Armut ab und wandte sich ersten säkularen Prinzipien eines neuen Armenpflegewesens und frühneuzeitlicher Sozialpolitik zu (Zeller 2006, 156–212).
2. Versorgung der Armen mit Arbeit: Die Arbeitsvermittlung wird bei Vives zum wichtigsten Mittel der Unterstützung der Armen. Der erste Schritt der Vermittlung ist die Prüfung der Arbeitsfähigkeit. Die begutachtende Instanz soll ein Arzt sein. Da es bei der Vermittlung arbeitsfähiger Armer um eine möglichst dauerhafte Aufhebung der Armut geht, sollten die Betroffenen in einen Beruf vermittelt werden, den sie früher erlernt hatten. Falls Handwerksmeister die Vermittlung von Armen ablehnen sollten, schlug Vives vor, dass durch Anordnung der städtischen Verwaltungen den einzelnen Handwerksmeistern eine bestimmte Anzahl von Armen zugewiesen werden soll, die selber keine Arbeitsstelle finden konnten. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten einer solchen Zwangslösung will Vives dadurch beseitigen, dass der Rat der Stadt alle öffentlichen Aufträge außer an die zur Selbständigkeit gelangten Armen auch an die Handwerksmeister vergeben soll, die Arme und Lehrlinge aufgenommen hatten (Scherpner 1962, 96). Wer trotz aller Anreize als arbeitsfähiger Armer nicht arbeiten will, für den sieht Vives strenge arbeitserzieherische Maßnahmen vor, wobei er aber ungeachtet dessen die Würde des Armen nicht verletzt sehen wollte.
3. Individualisierungsprinzip in der Armenpflege: Dieses System der Armenversorgung setzt eine Untersuchung der besonderen Notlage des einzelnen Armen voraus. Alle Armen sind sorgfältig in ein Armenverzeichnis einzutragen. In diesem soll festgehalten werden: die spezielle Notlage der Armen, die Art ihres früheren Lebensunterhalts, der Anlass der Verarmung, ihre Lebensart, ihre Moral. Die Entscheidung über die Arbeitsfähigkeit liegt bei einem Arzt. Vives System will Rücksicht auf den ganzen notleidenden Menschen nehmen, damit ihm eine gerechte Hilfe zuteil wird. Umfang, Art und Dauer der Unterstützung soll ganz individuell ausgerichtet sein. Sie orientiert sich an den geistigen, leiblichen und materiellen Bedürfnissen eines Menschen.
4. Erziehungsprinzip in der Armenpflege: Die Hilfeleistung enthält nach Vives grundsätzlich einen erzieherischen Charakter, der den vornehmsten Aspekt der Unterstützung darstellt. Vives fordert eine allgemeine Institution der Erziehungsaufsicht auch für Erwachsene. Mit der Armenpflege will er nicht mehr bloß die Armen aus ihrer Notlage befreien und damit eine Gefährdung des gesellschaftlichen Lebens beseitigen. Armenfürsorge strebt zugleich auch die moralische Förderung des Einzelnen, seine Erziehung zum guten Bürger an. Die fortschrittlichen Ideen dieses Voraufklärers und Humanisten kann in einem Zehn-Punkte-Sozialprogramm zusammengefasst werden.
Zehn-Punkte-Sozialprogramm aus der frühen Neuzeit von Juan Luis Vives 1526
■ Anlegen von Verzeichnissen zur Erfassung und individualisierenden Bedürftigkeitsprüfung
■ Ausweisung ortsfremder Bettler
■ Erziehung der Arbeitsfähigen zur Arbeit
■ Rückführung und Arbeitsvermittlung in alte Berufszweige
■ Arbeitsvermittlung für Ungelernte und Jugendliche
■ Bevorzugung von Handwerksmeistern, die Arbeitsplätze schaffen, bei öffentlichen Aufträgen
■ Durchsetzung des Arbeitszwangs für Arbeitsverweigerer
■ Versorgung von nicht mehr Arbeitsfähigen
■ Versorgung und Erziehung von Findelkindern
■ Ausarbeitung von Finanzierungsplänen
(aus: Zeller 2006, 187)
Die Almosenlehre von Thomas von Aquin erfährt durch den Humanismus und Calvinismus grundlegende Veränderungen. Arbeit wurde zu einer Gottespflicht und Betteln sollte verboten werden.
Nach Juan Luis Vives sollte den arbeitsfähigen Armen Arbeit vermittelt werden. Jeder Arbeitslose wurde als Einzelfall behandelt, um eine gerechte Hilfe zu gewährleisten. Durch die Hilfeleistung wollte man auch die Armen zu „guten Bürgern“ erziehen. Unter einem „guten Bürger“ verstand der Humanist Vives einen Menschen, der sich auch für die Belange des Gemeinwohls engagiert.
1.2.6 Nürnberger Bettel- und Armenordnungen (1370)
Bettelordnung
Die Maßnahmen gegen das Betteln wurden mit dem ausklingenden Mittelalter immer strenger gehandhabt. Es wurden Bettelzeichen verteilt, die deutlich sichtbar an der Kleidung getragen werden mussten. Außerdem war Betteln zunehmend nur noch an den kirchlichen Feiertagen erlaubt. Wer an anderen Tagen angetroffen wurde, durfte die Stadt einen Monat lang nicht mehr betreten. Die erste städtische „Bettelordnung“ mit Bettelverboten und der Einführung erster Bettelabzeichen für einheimische Bettler wurde 1370 in Nürnberg erlassen.
In der zweiten Nürnberger Bettelordnung von 1478 versuchte man die Wurzeln der Armut direkter anzugehen. Dies bedeutete, dass Kinder nicht mehr aufgezogen werden sollten, bis sie selbst ihren Lebensunterhalt erbetteln konnten, sondern das entscheidend Neue war, dass die Kinder der Armen lernen sollten, sich ohne Almosen, nur durch ihre eigene Arbeit zu unterhalten. Von der Obrigkeit wurde den Kindern ein Arbeitsplatz vermittelt. Durch diese vorbeugende Maßnahme wollte man erreichen, dass die Kinder nicht mehr bettelten, sondern ihr Brot durch Arbeit verdienen lernten.
Die ordnungspolitischen strengen Maßnahmen mussten durch die örtliche Polizei oder auch durch die manchmal als „Knechte“ bezeichneten Armenpfleger durchgeführt werden. Bei den städtischen Unterschichten hatte man bereits seit dem Spätmittelalter begonnen, zwischen der „primären Armut“ als unterste Grenze des Existenzminimums und der „sekundären Armut“ als Grenze zu unterscheiden, unterhalb derer eine „standesgemäße“ Lebensführung nicht mehr möglich war. Die Differenzierung zwischen „arm“ und „bedürftig“ war für die städtische Armenpflege wichtig, weil davon die Kategorisierung abhing, ob jemand als „Armer“ zur Arbeit gezwungen werden konnte oder zu den tatsächlich „Bedürftigen“ gerechnet werden musste. Krankheit, Arbeitsunfähigkeit, äußere Faktoren wie z. B. Missernten, Ernährungskrisen, Kriegskatastrophen und Seuchen zogen zwangsläufig Verarmung und Bedürftigkeit nach sich.
3. Nürnberger Armenverordnung
1522 erließ wiederum die Nürnberger Stadtverwaltung einen dritten ordnungspolitischen Maßnahmenkatalog, der jetzt aber nicht mehr „Bettel“- sondern „Armenordnung“ genannt und auch von anderen Städten übernommen wurde. Diese Armenordnung wurde in ganz Europa führend. Danach wurde zunächst das Betteln vor Kirchen verboten. Zwei oder drei Personen hatten für die Bedürftigen auszusagen, dass diese wirklich in Not waren. Und die Bettelzeichen trennten „ortsansässige“ von „nicht ortsansässigen“ Bettlern. Über diese Maßnahmen steckte die Obrigkeit einen engen Handlungsrahmen für die Bettler ab und kontrollierte auch deren moralischen Lebenswandel. Bei Hausbesuchen sollten nun auch genau Alter, Gesundheitszustand, Wohnbedingungen und Familiensituation festgehalten werden, um die Arbeitsfähigkeit zu überprüfen und danach unberechtigte Ansprüche ablehnen oder gewähren zu können. Der folgende Auszug stammt aus der Nürnberger Armenordnung von 1522:
„Vor der Durchführung dieses Almosens werden die Knechte mehr als einmal durch die ganze Stadt (…) gegangen sein und alle Bürger und Bürgerinnen, die des Almosens bedürftig sind, sorgfältig verzeichnet haben; sie verzeichnen auch, wieviel jeder öffentlich auftretende Bettler mit seiner wöchentlichen Bettelei einsammelt, auch wieviel Kinder ein jeder dieser Bettler hat, welches Alter und welche Ausbildung die Eltern und Kinder haben, und ob diese Kinder zum Teil gar in der Lage sind, mit Dienstleistung und ihrer Hände Arbeit ihr Brot zu erwerben und die Unterhaltung ihrer Eltern zu übernehmen; diese werden auch besonders deshalb schriftlich erfaßt, um ihnen durch die Pfleger und ihre Helfer in den Handwerken oder sonstwo Anstellungen zu verschaffen, damit sie mit Arbeit aufwachsen und mit der Zeit ohne Almosen auskommen können. Dazu haben sich die genannten vier Knechte bei den umwohnenden Nachbarn dieser Bettler und Armen zu erkundigen und sorgfältig zu notieren, was für einen guten oder schlechten Leumund diese Armen besaßen und noch besitzen, (…).“ (Sachße/Tennstedt 1980, 68 f.)