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Rogacki – Fisch und mehr
7 Rogacki Feinkost (Charlottenburg)
Von außen unscheinbar: Rogacki Feinkost
Schon Großvater Paul, ein passionierter Angler, verkaufte Fisch. Seit dem Jahr 1928 bepackte er seinen Bollerwagen und zog vom Weddinger Hafen los ins vornehme Charlottenburg, um die Köchinnen der Großbürger mit Flossentieren zu versorgen, an den Freitagen vor allem. Die Nachfrage wuchs, der Bollerwagen wurde immer schwerer und der Weg zunehmend mühsamer. So entschloss sich Paul Rogacki, den Bollerwagen einzumotten und stattdessen in die Nähe seiner Kundschaft zu ziehen. 1932 war es so weit. Die »Erste Charlottenburger Aal- und Fischräucherei« öffnete ihre Pforte. Auch wer nicht mehr gut sah, konnte die Fischhalle nicht verfehlen. Immer nur der Nase nach, die köstlichen Düfte von Rogacki zogen verheißungsvoll durch die Wilmersdorfer Straße. Wer wollte, konnte seinen aus der Spree gefischten Aal zu Rogacki tragen, um ihn dort räuchern zu lassen. Kaum zu glauben: Die gusseisernen Räucheröfen sind immer noch in Funktion. Auf diese Weise, mit echtem Buchenholz, räuchert heute keiner mehr. Für Rogackis Räucherfisch kommen selbst Berliner nach Charlottenburg, die ihren Kiez nicht einmal für die eigene Beerdigung verlassen würden. Aber auch Freunde des frischen Fischs zieht es in das Traditionsgeschäft. Gleich neben dem Räucherofen befinden sich die Fischbecken, in denen Lachsforellen und Saiblinge lustig ihre finalen Runden ziehen. Wer will, kann seinem Mittagessen persönlich in die Augen schauen und mit dem Finger drauf deuten, dann saust der Käscher des Fischmeisters fröhlich hinterher und schon zappelt der Fang im Netz. Ein beherzter Hieb mit dem Schlagstock gegen den Schädel, und der Forelle wird schwarz vor Augen. So bekommt sie nicht mehr mit, wie ihr die Kehle durchtrennt wird, ein schneller, ein gnädiger Tod. Zwischen 70 Fischsorten hat man die Qual der Wahl. Viele Stammkunden kommen wegen einer anderen Meeresfrucht: Gemütlich steht man an den Rundtischen zusammen, lässt eine Zitrone spritzen und schlürft bei einem Fläschchen Weißen genüsslich eine Auster nach der anderen.
Doch nicht nur Freunde von Meeresfrüchten kommen bei Rogacki auf ihre Kosten. In dem weiträumigen Laden, dessen wahre Größe man von der Straße aus nicht vermutet, gibt es neben einem Käsestand auch eine Wursttheke. Ein echtes Kunstwerk ist das Hackepeter-Schwein. Nachdem man ein Schwein geschlachtet und zerlegt hat, wird es durch den Wolf gedreht und aus dem Gehackten sodann formvollendet ein neues Schwein modelliert. Ehrlicher geht’s nicht. Und nicht fröhlicher, blinzelt einem das Hackepeter-Schweinchen mit seinen Olivenaugen doch lustig zu. Auch das Ringelschwänzchen darf nicht fehlen, es ist sogar für Vegetarier geeignet, ist es doch liebevoll aus Paprika gedrechselt.
Wunderbar nostalgisch ist die Inneneinrichtung, schönstes, altes Westberlin. Und so herrlich grün! Es grünt so grün, wenn Rogackis Fliesen blühn. Grüner ist kein Berliner Laden. 1972, zum 50. Firmenjubiläum, hat man die Wände neu gekachelt und damit den Charakter einer Markthalle unterstrichen. Unbestritten ist Rogacki Kult. Gestritten wird nur darüber, wie man den Namen eigentlich ausspricht. Rogakki? Oder polnisch Rogatz-ki? Egal, Hauptsache, es schmetz-kt!
Rogacki
Wilmersdorfer Straße 145/46
10585 Berlin
Des Nachts in Charlottenburg
8 Otto-Suhr-Allee (Charlottenburg)
Um ein Haar hätten wir sie überfahren. Es war schon nach Mitternacht, wir fuhren mit unseren Rädern die Otto-Suhr-Allee entlang, in nicht geringem Tempo, uns fror, wir wollten nach Hause, als wir den Schatten wahrnahmen, gerade noch rechtzeitig. Sie lag mitten auf dem Radweg. Regungslos. Eine Dame mit blondierten Haaren. Wir stiegen ab, berührten sie an der Schulter, sprachen sie an. Mühsam öffnete sie ihre Augen, erwiderte unseren Blick, nicht verwirrt, nicht verwundert, nur müde, sehr müde. Sie hatte getrunken, mehr als sie vertrug, das roch man. Musste auf dem Heimweg von irgendeiner Kneipe zusammengeklappt sein. Nun lag sie hier und machte keine Anstalten, aufzustehen. Was sollten wir tun? Die Sanitäter rufen? »Nein, nein«, sagte sie leise, »ich hab’s doch nicht weit, lasst mich liegen. Geht schon wieder.« Wir fragten nach, so erfuhren wir ihre Adresse, eine Querstraße, keine dreihundert Meter entfernt. »Wir bringen Sie heim.« So halfen wir ihr auf, hakten sie rechts und links unter, geleiteten sie über das Trottoir. Zum Glück schien sie sich nicht verletzt zu haben, ihr Gang aber war mehr als unsicher. Sie sah nicht aus wie jemand, der in U-Bahnhöfen schläft, im Gegenteil, sie machte einen gepflegten Eindruck. Die Kleidung geschmackvoll, Lippen und Lider dezent geschminkt, eine schimmernde Perlenkette, die Fingernägel sorgfältig lackiert. Dann begann sie zu reden. Es sei ihr Hochzeitstag, sie habe ihren Hochzeitstag gefeiert. Alleine. Ohne ihren Mann. Sie habe keinen Mann mehr, er hätte sie sitzengelassen. Es sei nicht seine Schuld, aber auch nicht die ihre. Man solle nicht immer nach der Schuld fragen, das sei ein Fehler.
Des Nachts auf der Otto-Suhr-Allee
Wir hatten die Seitenstraße erreicht. Ihre Wohnung befand sich zum Glück im Erdgeschoss. Wir halfen ihr noch, die Tür aufzusperren. Als wir uns verabschiedeten, drehte sie sich nochmal um. Manchmal würden sich die Dinge so ergeben, das sei eben so. Aber dennoch, wenn man Hochzeitstag habe, müsse man doch feiern, nicht wahr?
Otto-Suhr-Allee nahe Ernst-Reuter-Platz
10585 Berlin
Joseph von Eichendorff – Politik statt Poesie
9 Eichendorff-Denkmal vor der Eichendorff-Schule (Charlottenburg)
Frühjahr 1842. Eichendorff verzieht das Gesicht. Er hatte den Vorsitz des zu gründenden Berliner Vereins zur Förderung des Dombauwerks zu Köln zu übernehmen und nun sollte er auch noch eine Chronik schreiben! Preußischer Beamter im Kultusministerium, ein elender Beruf. Wo bleibt der Freiraum für die Poesie? Ärgerlich schiebt er die Korrekturfahnen seines Taugenichts zusammen. Also dann, eine Chronik des Dombaus! Es wird Abend, bis er endlich die müden Glieder strecken kann. Erschöpft liest er sich das Ergebnis seiner Arbeit nochmals durch:
»Kurze historische Übersicht des Kölner Dombaues von der ersten Grundsteinlegung bis jetzt (1842)
Der erste Grundstein zu dem gegenwärtigen Kölner Dome wurde im Jahre 1248 am fünfzehnten August von dem Erzbischof Konrad Graf von Hochstaden gelegt. Nach dem ursprünglichen noch vorhandenen Entwurfe des Meisters Gerhard, der die französischen Dome genau studiert hatte […]«
Joseph-von-Eichendorff-Denkmal vor der Eichendorff-Schule in der Goethestraße 19–24
Eichendorff stutzt kurz und streicht den Meister Gerhard wieder. Hinweise auf den französischen Ursprung der Baupläne passen wohl nicht so gut in die politische Landschaft.
»[…] sollte dieser ganz aus Quadern auszuführende Bau 500 Fuß lang, im Schiff und Chor 180 Fuß, im Kreuz 290 Fuß breit werden, bis zum Dachfirst über 200 Fuß Höhe, und neben seinem Hauptportale zwei Türme von mehr als 500 Fuß erhalten.
Schon die gleich folgenden Zeiten waren wegen innerer Zerwürfnisse aller Art dem Bau nicht günstig, doch konnte im Jahre 1322, also vierundsiebzig Jahre nachdem der erste Grundstein gelegt worden, am siebenundzwanzigsten September der hohe Chor eingeweiht werden.
Die Säulen des Kreuzes wurden dann bis zu den Kapitellen der Seitenschiffe ausgeführt, die Tür zu dem nördlichen Kreuzflügel wurde angelegt, und am Schiffe und an den Türmen, besonders an dem südlichen, gearbeitet, der im Jahre 1437 bis zum dritten Geschoss fertig war, so dass die neuen Glocken in denselben versetzt werden konnten […]«
Eichendorff betrachtet eine Radierung, auf der die Bauruine zu sehen ist. Sieht schon traurig aus, der Bau! Der nördliche Turm ist nur ein Stumpen, wirkt, als wenn er in sich zusammengeschrumpft wäre.
»[…] es ist derselbe, welcher den Kran, seit Jahrhunderten ein Wahrzeichen Kölns, trägt. Im Jahre 1735 wurden zwei von den drei über der Orgel befindlichen Giebelfenstern vermauert; von 1739 bis 1742 wurden mehrere den Dächern und Gewölben gefahrdrohende Turmpyramiden ausgebessert oder auch ganz abgetragen und mit ähnlichen Ausbesserungen wurde in den Jahren 1748–1751 und 1788–1790 fortgefahren.«
So, denkt sich Eichendorff, jetzt wird es Zeit, politischer zu werden und die nationale Bedeutung des Bauwerkes herauszustellen.
»Am schlimmsten wirkte sich in diesem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bei dem Kölner, wie bei fast allen altdeutschen Domen, der damalige sogenannte feinere italienische Baustil aus, der die wenigen verwendbaren Summen für ganz unpassende Verzierungen benutzte. Dann kam mit den französischen Kriegszügen eine schwere Zeit, in welcher während der Jahre 1769–1797 der Dom als Heumagazin diente. In der ganzen Epoche der nun folgenden französischen Herrschaft wurde nur ein Kostenanschlag über die notwendigsten Dachausbesserungen aufgestellt.«
Jawohl, erst bekommen die Italiener, dann die Franzosen ihr Fett ab. Das wird den König freuen! Der Dom, eine französische Scheune!
»So stand es um dieses kunstreiche, ehrwürdige deutsche Bauwerk, als das Rheinland von den Preußen besetzt wurde.«
Moment, stopp, so kann er das unmöglich lassen, »von den Preußen besetzt«, nein, das klang nicht gut. Wer lässt sich schon gerne besetzen? Eine angenehmere Formulierung muss gefunden werden. Hm, wie wär’s damit?
»So stand es um dieses kunstreiche, ehrwürdige deutsche Bauwerk, als das Rheinland mit der preußischen Monarchie verbunden wurde.«
Seltsam, zwar freuten sich die Rheinländer über den Abzug der Franzosen, aber mit den neuen preußischen Herren fremdelten sie noch. Das braucht seine Zeit, denkt sich Eichendorff. Auch in seiner Heimat, dem katholischen Schlesien, hat es eine Weile gebraucht, bis man sich an die Preußen gewöhnt hatte. Jetzt noch ein Hinweis auf den großen preußischen Architekten, der halb Berlin gebaut hatte.
»In welchem Umfang ein Ausbesserungsbau erforderlich sei, ergab sich erst nach wiederholten Untersuchungen, welche von unserem verewigten Schinkel mit ebenso großem Fleiße als eindringender Sachkenntnis vorgenommen wurden. Berechnungen ergaben, dass für die Vollendung des Bauwerks mit Kosten in Höhe von insgesamt fünf Millionen Talern zu rechnen ist. Zur Verwirklichung dieses Planes haben Seine Königliche Majestät schon durch die Allerhöchste Kabinettsorder vom sechsten November 1841 nicht nur für das Jahr 1842 eine außerordentliche Beihilfe von fünfzigtausend Reichstalern bewilligt, sondern auch Allerhöchstige Geneigtheit zu erkennen gegeben, für die folgenden Jahre ebenfalls einen jährlichen Zuschuss von dreißigtausend bis fünfzigtausend Talern zur Verfügung zu stellen, in der Erwartung, dass die von Einzelnen und Vereinen erfolgte Spendenbereitschaft auch weiter anhält.«
Ja, der König! Er hat durchaus etwas übrig für die Kunst, ohne Zweifel! Da fällt Eichendorff ein, er wollte ihm doch noch einen seiner Gedichtbände zuschicken:
Es war, als hätt der Himmel
Die Erde still geküsst,
Dass sie im Blütenschimmer
Von ihm nun träumen müsst.
Die Luft ging durch die Felder,
Die Ähren wogten sacht,
Es rauschten leis die Wälder,
So sternklar war die Nacht.
Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
Das wird dem König gefallen. Noch einige wohlklingende Widmungsworte, dann aber kommt der Taugenichts wieder an die Reihe!
Der Taugenichts erschien 1826 in der Berliner Vereinsbuchhandlung. Eichendorff weilte erstmals im Winter 1809/10 in Berlin. Ab 1831 wohnte er mit seiner Frau und drei Kindern zunächst in der Potsdamer Straße 41 (heute 102), ab 1839 in der Bellevuestraße 7 und in einem Gartenhaus Am Karlsbad 4, nahe der heutigen Staatsbibliothek. 1841 ging es in die Tiergartenstraße 5. Die Häuser sind zerstört und überbaut, das Denkmal vor der Eichendorff-Schule ist frei zugänglich. Ein weiteres Kunstwerk findet sich im Treppenhaus West. Schülerinnen und Schüler haben Joseph Eichendorff viele hundert Mal mit dem Bleistift porträtiert, diese Zeichnungen wurden wie Mosaiksteine zu einem großen Porträt des Dichters zusammengesetzt. Unbedingt sehenswert!
Eichendorff-Denkmal
Goethestraße 19–24
10623 Berlin
Das richtige Mitbringsel
10 Fabrik der Königlichen Porzellanmanufaktur (Charlottenburg, nahe Tiergarten)
Als unsere Eltern Ende der 1960er-Jahre von einem Berlin-Wochenende zurückkamen, brachten sie uns einen gelben Doppeldeckeromnibus mit, der zum Stolz unserer Modelleisenbahnlandschaft avancierte. Über die grüne Rauhaarwiese beförderte er die Passagiere der kleinen Bahnstation zum Berggasthof und brachte echten Großstadtflair in das triste Landleben.
KPM-Porzellanschale
Hat man Kinder zu beschenken, ist der Berliner Omnibus sicherlich immer noch eine gute Idee. Was aber bringt man jungen Leuten mit, die heute doch alles schon haben? Einen Berliner Stoffbären? Das Brandenburger Tor in der Schneekugel? Ein Brösel von der Berliner Mauer, in Gold gefasst?
KPM-Quartier
Entscheiden Sie sich anders. Fahren Sie zum Charlottenburger Tor an der Straße des 17. Juni, in der Nachbarschaft befindet sich KPM, die Königliche Porzellan-Manufaktur. Edle Sachen gibt es hier zu kaufen, den Schinkelkorb zum Beispiel, farbig dekoriert schon für schlappe 15.000 Euro zu haben. Aber natürlich gibt es auch günstigere Porzellankunst, am witzigsten und originellsten die Currywurstschale. Über dieses Mitbringsel freut sich jeder Liebhaber der gehobenen Straßengastronomie. Gekonnt wurden die gewellten Ränder der Pappschachtel von den KPM-Designern nachgeformt, jede Currywurst wird vor Vergnügen platzen, in eine solch edle Schale gelegt zu werden. Natürlich könnte ein Purist einwenden, eine echte Currywurst gehöre in echte Pappe. Porzellan in Wellen zu legen, sei zudem ein Verstoß gegen jedes Formprinzip, die Wellen gäben nur gepappt einen Sinn, weil ungewellte Pappe nun mal nicht stabil sei, Porzellan hingegen schon. Diesen Einwand finde ich kleinlich, besonders zum Ende der Mahlzeit hin. Schon als Kinder habe ich es geliebt, mit den Fingern über die Wellen zu fahren, um auch noch die letzten Reste der von Hertha Heuwer am Stuttgarter Platz in Charlottenburg erfundenen Soße genießen zu können. Finger aber, die über gewelltes Porzellan streichen, wollen gar nicht mehr damit aufhören. Man schließt unwillkürlich die Augen, ein kontemplatives Lächeln umspielt die Lippen und man fühlt sich in den siebten Currywursthimmel gehoben. Einfach mal ausprobieren!
Wurstbude am Stutti
Erinnerungstafel Hertha Heuwer am Stuttgarter Platz
KPM-Fabrik
Wegelystraße 1
10623 Berlin
Die Stalingradmadonna
11 Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Charlottenburg)
Ostfront. Stalingrad, eisiger Winter, Weihnachten 1942. Die Rote Armee hat die Deutschen eingekesselt, doch noch ergeben sie sich nicht. Im Lazarett steht Dr. Reuber, unaufhörlich werden neue Verletzte in die Zelte getragen, stöhnen und schreien. Dr. Reuber operiert zwölf Stunden am Tag, holt Kugeln und Granatsplitter aus den zerfetzten Körpern, stillt blutende Wunden, amputiert Arme und Beine, versorgt schwere Kopfverletzungen. Vielen ist nicht mehr zu helfen, die Verluste sind ungeheuer.
Stalingradmadonna
Kurt Reuber stammt aus Kassel, wo er am 26. Mai 1906 geboren wurde, als Kind einer pietistischen Familie. Prägend wurde für den Heranwachsenden eine Begegnung mit Albert Schweitzer, der ihm zum Freund, zum Vorbild wurde. Nach dem Abitur entschloss sich Reuber, Theologie zu studieren, 1930 wurde er Vikar in Loshausen, dann in Marburg. Vielseitig interessiert und seit Kindheitstagen gerne zeichnend, besuchte er die nahe Willingshäuser Malerkolonie. Im Jahr 1933 promoviert er an der Marburger Universität zum Doktor der Theologie.
Die Theologie ist ihm nicht genug. Als er im April 1933 Pfarrer in Wichmannshausen bei Eschwege wird, nimmt Kurt Reuber zugleich das Medizinstudium in Göttingen auf. Kein Zufall sicherlich, dass er sich 1938 auch für seine medizinische Promotionsarbeit ein besonderes Thema wählt, Die Ethik des heilenden Standes in den Ordnungen des hessischen Medizinalwesens von 1564 bis 1830.
Dann bricht der Krieg aus. Im November 1942 wird Reuber nach Stalingrad geschickt, wo Ärzte dringend benötigt werden. Kälte und Hunger herrschen bei der Truppe, tief hat man sich in die harte Erde eingegraben, sucht Schutz vor dem ständigen Beschuss, ohne Unterlass steht Kurt Reuber am improvisierten Operationstisch, die Stimmung in der Truppe ist hoffungslos.
Das Weihnachtsfest ist gekommen. Doch wie soll man Weihnachten feiern, hier im Kessel von Stalingrad? Wo nichts mehr durchkommt von der Heimat, keine Briefe, keine Pakete? Dennoch, Kurt Reuber beschließt, die Heilige Nacht zu feiern. Trotz allem, wegen dem allen. Er betritt den Bunker, einen schmucklosen, betonkalten Raum. Kurt Reuber schüttelt den Kopf. So geht das nicht. Ein religiöses Zentrum muss geschaffen werden, etwas, was die Herzen der Männer erreicht und tröstet. Wenn er wenigsten seine Malsachen hätte! Dann würde er ein Ölbild malen, ein Weihnachtsbild. Aber Ölfarben und Leinwand hier im Kessel von Stalingrad? Unmöglich!
Und selbst wenn er was zum Malen findet, was soll er denn malen, was soll das Bild zeigen? Den Klassiker? Den Stall mit der Krippe, die heilige Familie, Ochs und Esel, die Hirten, die Engel, die Könige? Was ist denn das Eigentliche der Weihnachtsbotschaft, worauf kommt es an? All die Schreie der verletzten Kameraden klingen dem Arzt im Ohr. Wonach rufen sie, was flehen sie herbei, wenn sie im Sterben liegen? Die meisten rufen nur nach einem einzigen Menschen, rufen nach der Mutter, ihrer Mutter. Die Mutter soll da sein, soll sie in den Arm nehmen, soll trösten. So wie damals als Kind, wenn man Kummer hatte und Schmerzen litt, wenn man nicht mehr weiter wusste. Die Mutter soll da sein. Dann wird alles wieder gut, dann wird alles, alles wieder gut.
Kurt Reuber beginnt zu improvisieren. Als Papier nimmt er eine Landkarte von Russland, als Stift ein Stück Kohle. Damit beginnt er zu zeichnen, zeichnet ein unendlich zartes, ein geschlossenes Bild, zeichnet nichts anderes als Maria mit dem Kind. Maria hat sich hingesetzt, hält in ihren Armen ihr neugeborenes Kind, hält es eng, hält es warm. Die Gesichter sind einander zugewandt. Um sich und das Kind hat Maria einen Mantel geschlungen, einen Schutzmantel. Ein Bild des Friedens und der Innigkeit. So dünn der Stoff des Mantels auch sein mag, so schützt er doch, hält alles ab, was droht und ängstigt: die Nacht, den Schrecken, den Hass, den Tod. Innerhalb dieses Mantels gibt es nur drei Dinge: Licht, Leben und Liebe. Das ist Weihnachten, das ist die Weihnachtsbotschaft. Kurt Reuber schreibt die Worte neben die Zeichnung: Licht, Leben, Liebe. Dann stellt er das Bild auf und feiert mit den anderen die Heilige Nacht. Für seine Frau notiert er über dem Bild: »Schau in dem Kind das Erstgeborene einer neuen Menschheit an, das unter Schmerzen geboren, alle Dunkelheit und Traurigkeit überstrahlt.«
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
1943 gerät Kurt Reuber in russische Kriegsgefangenschaft und wird in ein Lager transportiert. Dort arbeitet er weiter als Arzt, versorgt die mitgefangenen Kameraden. Der Hunger schwächt die Gefangenen, die hygienischen Verhältisse sind desolat. Seuchen brechen aus, es fehlt an allem, an Nahrung, an sauberem Wasser, an Medikamenten. Kurt Reuber steckt sich an, wird selbst zum Patienten, bekommt hohes Fieber. Flecktyphus. Es geht über seine Kräfte, am 20. Januar 1943 stirbt Kurt Reuber im Lager.
Und sein Bild? Die Stalingradmadonna? Mit einer letzten Transportmaschine, einer JU 52, wurde es in den Händen eines schwerverwundeten Wehrmachtoffiziers in die Heimat geflogen. Der verletzte Soldat brachte es zu Kurt Reubers Frau.
Viele Jahre später. Bundespräsident Karl Carstens erfährt von dem Bild. Auf seine Anregung wird es am 26. August 1983 der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nahe des Berliner Bahnhofs Zoo übergeben. Betritt man den Neubau der Kirche, diesen in tiefes Blau getauchten Raum, so findet man sie auf der rechten Seite, die Stalingradmadonna.
Innenraum der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche (Nachkriegsbau)
Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche
Breitscheidplatz
10789 Berlin