Kitabı oku: «John Henry Mackay: Die Anarchie - Band 157 in der gelben Buchreihe bei Jürgen Ruszkowski», sayfa 2
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Auban durchschritt den Tunnel, dessen Steinboden von Schmutz übersät war und aus dessen Ecken eine verpestete Luft aufstieg. Er war fast leer; nur hin und wieder schlich eine unerkennbare Gestalt an den Wänden hin und an ihm vor. Aber Auban wusste, dass an nasskalten Tagen und Nächten hier, so gut wie an Hunderten anderer Durchgänge, ganze Reihen von Unglücklichen lagen, dicht aneinander und gegen die kalten Wände gepresst, und immer gewärtig, im nächsten Augenblick von dem „Arm des Gesetzes“ auseinander getrieben zu werden: Haufen von Kot und Lumpen, verkommen in Hunger und Schmutz, die „Parias der Gesellschaft“, die in Wahrheit Willenlosen... Und während er die Stufen am Ende des düsteren Ganges emporstieg, stand vor ihm plötzlich wieder jene Szene, welche er vor nun etwa einem Jahre an diesem selben Orte erlebt hatte, mit einer so erschreckenden Deutlichkeit, dass er unwillkürlich stehen blieb und sich umsah, als müsse sie sich leibhaftig vor seinen Augen wiederholen – :
Es war an einem feuchtkalten Abend, gegen Mitternacht, die Stadt in Nebel und Rauch wie in einen undurchsichtigen Schleier gehüllt. Er war hierhergegangen, um Einzelnen der Obdachlosen die wenigen Kupferstücke zu geben, welche sie brauchten, um die Nacht in einem der Lodging-Häuser, statt in der eisigen Kälte der Nacht, zu verbringen. Als er diese Stufen niedergeschritten war – der Tunnel war füllt mit Menschen, die, nachdem sie alle Stadien des Elends durchgemacht hatten, am letzten angelangt waren – sah er vor sich ein Gesicht auftauchen, welches er nie wieder vergessen hatte: die von Aussatz und blutigen Geschwüren entsetzlich entstellten Züge eines Weibes, welches – an der Brust einen Säugling – ein etwa vierzehnjähriges Mädchen an der Hand nach sich mehr schleppte als zog, während ein drittes Kind, ein Junge, sich an ihren Rock anklammerte.
– Zwei Schilling nur, Gentleman – zwei Schilling nur. Er war stehen geblieben, um sie zu fragen.
– Zwei Schilling nur – sie ist noch so jung, aber sie wird alles tun, was Sie wollen... und dabei zog sie das Mädchen näher, welches sich zitternd und weinend abwendete.
Ein Schauder lief ihn. Aber die flehende und wimmernde Stimme des Weibes ertönte weiter.
– Bitte, nehmen Sie sie doch mit. Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir draußen schlafen – nur zwei Schilling, Gentleman, nur zwei Schilling, sehen Sie nur, sie ist so hübsch ... Und wieder riss sie das Kind an sich.
Auban fühlte, wie das Entsetzen ihn schlich. Er wandte sich, unbewusst und unfähig, ein Wort hervorzubringen, zum Gehen.
Aber er hatte noch keinen Schritt getan, als sich das Weib plötzlich schreiend vor ihn auf den Boden hinwarf, das Mädchen losriss und sich an ihn anklammerte.
– Gehen Sie nicht fort! Gehen Sie nicht fort! schrie sie in entsetzlicher Verzweiflung. – Wenn Sie es nicht tun, so müssen wir verhungern – nehmen Sie sie mit – hierher kommt sonst niemand mehr, und auf den Strand dürfen wir nicht – tun Sie es doch – tun Sie es doch!
Aber, als er sich, ohne es zu wollen, umsah, sprang die vor ihm Liegende plötzlich auf.
– Rufen Sie keinen Policeman! Nein, rufen Sie keinen Policeman! rief sie ängstlich-schnell. Da, als sie aufstand, gewann Auban seine Ruhe wieder. Er griff wortlos in die Tasche und reichte ihr hin, was er an Geld erfasste.
Das Weib stieß einen Freudenschrei aus. Wieder nahm sie das Mädchen am Arm und stellte es vor ihn hin.
– Sie wird mit Ihnen gehen, Gentleman, – sie wird alles tun, was Sie wollen... fügte sie flüsternd hinzu. Auban wandte sich ab und ging so schnell wie möglich durch die Reihen der Schlafenden und Betrunkenen dem Ausgange zu; keiner hatte der Scene geachtet.
Als er am Strand war, fühlte er, wie sein Herz jagte und seine Hände zitterten.
Acht Tage nach diesem suchte er Abend für Abend in dem Tunnel von Charing Cross und seiner Umgebung nach dem Weibe und den Kindern, ohne sie wieder finden zu können. Es hatte etwas in den Augen des Mädchens gelegen, das ihn beunruhigte. Aber der Augenblick war zu kurz gewesen, als dass er hätte erkennen können, was dieser Abgrund von Furcht und Elend verbarg...
Dann vergaß er dem ungeheuren Jammer, welcher sich ihm täglich zeigte, diese eine Szene, und täglich sah er wieder auf den Straßen die Kinder der Armut – Kinder von dreizehn und vierzehn Jahren – sich darbieten – und war unfähig, zu helfen!
Wer war bemitleidenswerter, die Mutter oder die Kinder? Wie groß musste das Elend sein, wie entsetzlich die Verzweiflung, wie wahnsinnig der Hunger der beiden? Aber mit Abscheu spricht die Frau der Bourgeoisie von dem „Scheusal von Mutter“ und von dem „verkommenen Kinde“ – die Pharisäerin, welche unter der Hand desselben Elends genau denselben Weg gehen würde. – –
Mitleid! Jämmerlichste unserer Lügen! Unsere Zeit kennt nur Ungerechtigkeit. Es ist heute das größte Verbrechen, arm zu sein. Gut so. Umso schneller muss die Erkenntnis kommen, dass die einzige Rettung darin besteht, dieses Verbrechen zu unterlassen.
Die Wahnsinnigen, murmelte Auban vor sich hin, – die Wahnsinnigen – sie sehen alle nicht, wohin Mitleid und Liebe uns gebracht haben –. Seine Augen waren umschattet, wie von der Erinnerung an die Kämpfe, welche diese Erkenntnis ihm auferlegt hatte.
Wie deutlich er heute Abend beim Durchschreiten des Tunnels wieder die wimmernde, verzweifelte Stimme des Weibes und ihr drängendes: „Do it! do it!“ zu hören glaubte! Und aus dem trüben Dunkel tauchten wieder die scheuen, krankhaften Augen des Kindes auf.
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Er kehrte um und durchschritt abermals den Tunnel. Bevor er sich jedoch dem Strand zuwandte, bog er in eine der Seitenstraßen ein, welche sich nach der Themse hinunterziehen. Er kannte sie alle – diese Gassen, diese Winkel, diese Ein- und Durchgänge: Hier war der nüchtern-graue Hinterbau des Theaters, dessen Frontseite den Strand mit Licht schwemmte; und jenes schmale, dreistöckige Haus mit den blinden Fenstern war eines jener berüchtigten Absteigequartiere, hinter deren Mauern sich allmählich Szenen der Verworfenheit abspielen, welche sich auch die sinnlich entartetste Phantasie nicht auszumalen wagt. Hier wohnte noch das Elend, und in jener nächsten, stillen Straße schon der Wohlstand – und so wirrten sich beide durcheinander bis zu der kleinen Kirche von Savoy inmitten ihrer kahlen Bäume und bis zu den vornehmen, verschlossenen Bauten des Temple mit seinen herrlichen Gärten...
Auban kannte Alles: sogar den ewig-leeren, breiten, gewölbten Gang, der unter den Straßen durch nach den Embankments führt und von dessen verlassener, geheimnisvoller Stille aus das Leben des Strand sich anhört wie das ferne Rauschen einer immer letzten und immer ersten Welle auf ödem Sand-Ufer...
Die Kälte wurde mit der vorgerückten Stunde empfindlicher und sickerte in der nebeligen Feuchtigkeit Londons nieder. Auban begann müde zu werden und wollte nach Hause. Er bog zum Strand ab.
Der „Strand!“ West-End und City verbindend lag er vor ihm da, erhellt von den ungezählten Lichtern seiner Läden, durchrauscht von einer nie stockenden und nie endenden Menschenflut; zwei geteilte Ströme, der eine hinauf nach St. Pauls, der andere hinunter wogend nach Charing Cross. Zwischen beiden der betäubende Wirrwarr eines ununterbrochenen Verkehrs von Wagen: ein Bus, schwerfällig, besät mit bunten Reklamen, beladen mit Menschen, hinter dem anderen; ein Hansom, leicht, behänd auf seinen Zweirädern dahinhuschend, hinter dem anderen; dröhnende Lastwagen; tote, geschlossene Postwagen der Royal Mail; starke, breite Forewheelers; und dazwischen sich durchwindend, in der dunklen Masse kaum erkennbar, dahinsausende Bycicles...
Das East-End ist die Arbeit und die Armut, aneinander gekettet durch den Fluch unserer Zeit: die Knechtschaft; die City ist der Wucherer, der die Arbeit verkauft und den Gewinn einzieht; das West End ist der vornehme Nichtstuer, der sie verbraucht. Der Strand ist eine der schwellendsten Adern, durch welche das geldgewordene Blut rinnt; er ist der Rivale von Oxford Street, und sträubt sich dagegen, von ihr besiegt zu werden. Er ist das Herz von London. Er trägt einen Namen, den die Welt kennt. Er ist eine der wenigen Straßen, in welchen Du Menschen aus allen Stadtteilen siehst: Der Arme trägt seine Lumpen und der Reiche seine Seide hierher. Wenn du dein Ohr öffnest, kannst du die Sprachen der ganzen Welt hören: Die Restaurants haben italienische Eigentümer, deren Kellner französisch mit dir sprechen; unter den Prostituierten sind mehr als die Hälfte Deutsche, die entweder hier untergehen oder sich so viel erwerben, dass sie in ihr Vaterland zurückkehren und dort ‚anständig’ werden können.
Am Strand liegen die mächtigen Gerichtshöfe, und man weiß nicht, ob man Schauspieler oder Verrückte vor sich hat, wenn man die Richter in ihren langen Mänteln und ihren weißgepuderten Perücken mit den zierlich-albernen Zöpfen – alles äußerliche Würdeabzeichen einer würdelosen Komödie, die jeder vernünftige Mensch innerlich verlacht und verachtet, und die Jeder mitspielt, wird er geladen, – wenn man sie in seine hohen Torbögen hineineilen sieht; der Strand vereinigt eine verwirrende Anzahl von Behörden, von deren Existenz du nie in deinem Leben gehört hast, wenn sie dir genannt werden, in seinem kalten Somerset-Haus; und der Strand hat seine Theater, mehr Theater, als irgend eine Straße der Welt.
So ist er der erste Gang des Fremden, der am Bahnhof von Charing Cross anlangt, und den seine meist engen und aufeinander gepressten Häuser enttäuschen; so wird er dessen letzter sein, wenn er London verlässt, der, dem er seine letzte Stunde schenkt.
Auban tauchte unter in das Menschengewoge. Jetzt, wo er an Adelphi vorbeiging und das elektrische Licht die Straße – die Gasflammen weit strahlend – mit seinem hellweißen Licht schimmerte, konnte man sehen, dass er leicht hinkte. Es war fast unbemerkbar, wenn er schnell ging, aber wenn er langsam dahinschlenderte, zog er den linken Fuß nach und stützte sich fester auf seinen Stock.
Am Bahnhof von Charing Cross hatte sich das Leben gestaut. Auban stand einige Augenblicke an einer der Einfahrten. Der Eingang zu Villiers Street, welche er wenige Minuten vorher unterhalb gekreuzt hatte, war belagert von Blumenverkäuferinnen, welche teils hinter ihren halbgeleerten Körben fröstelnd und müde kauerten, teils die Vorgehenden mit ihrem unaufhörlichen „Penny a bunch!“ zum Kauf ihrer kümmerlichen Blumenbündel zu verlocken suchten. Ein Policeman trieb eine von ihnen roh zurück; sie hatte sich mit einem Schritte auf das Pflaster gewagt, und sie durften keine Linie die Grenze der Seitenstraße hinaus. Das gellende Durcheinanderschreien der Zeitungsjungen, die ihre letzten Spezial-Editions los sein wollten, um noch in „Gattis Hungerford Palace“ Charlie Coborn – den ‚inimitable’ – in seinen „Two lovely black eyes“ bejubeln zu können, wäre unerträglich gewesen, wenn es nicht von dem Wagengerassel auf den Steinen des Vorhofes von Charing Cross, welches der mit Asphalt und Holzpflaster verwöhnte West Ender fast nicht mehr kennt, und dem heiseren Rufen der Omnibus-Kondukteure tönt worden wäre.

Trafalgar Square
Mit jener Sicherheit, die nur ein langes Vertrautsein mit dem Straßenleben der Großstadt verleiht, benutzte Auban die erste Sekunde, in welcher die Wagenreihen einen Durchgang zeigten, um die Straße zu schreiten, und während sich hinter ihm in der nächsten die Fluten schlossen, ging er an der Kirche von St. Martin vorbei, warf einen Blick auf den totenstill daliegenden Trafalgar Square, durchschritt die enge und dunkle Green Street, ohne sich im Geringsten um den Cabby zu kümmern, der ihm von seinem Bock aus mit unterdrückter Stimme zurief, er habe ihm „Etwas zu sagen“ – Etwas von einer „jungen Dame“ – und befand sich nach drei Minuten an den erleuchteten Eingängen der „Alhambra“, von welchen verspätete Besucher sich nicht abweisen lassen wollten, da sie noch einen Stehplatz in dem füllten Hause zu erlangen hofften.

Alhambra
Auban ging gleichgültig vor, ohne einen Blick auf die schillernden Photographien der üppigen Balletteusen – Reklameproben aus dem neuen Monstreballett „Algeria“, dem halb London zuströmte – zu werfen.
Der Garten in der Mitte von Leicester Square lag in Dunkel gehüllt. Die Statue Shakespeares war nicht mehr erkennbar von den Gittern aus. „There is no darkness but ignorance“ – stand dort. Wer las es? ...
An der Nordseite des Square herrschte lautes Leben. Auban musste sich durch Scharen französischer Prostituierten, deren lautes Lachen, Schreien, Schelten alles tönte, durchdrängen. Ihre überladenen und geschmacklosen Toiletten, ihre schamlosen Anerbietungen, ihre unaufhörlichen Bitten: – „ Chéri, chéri –“, mit denen sie sich an jeden Voreilenden drängten und ihn verfolgten, erinnerten an die Mitternachtsstunden der Außen-Boulevards von Paris.
Überall schien ihm seine Zeit die entstellteste Seite ihres Gesichtes zu zeigen.
Vor ihm gingen zwei junge Engländerinnen. Sie waren kaum älter als sechszehn Jahre. Ihre aufgelösten und von der Nässe feuchten blonden Haare hingen lang den Nacken hinab. Als sie sich umwandten, zeigte ihm ein Blick in ihre müden, blassen Züge, dass sie schon lange so gewandert waren – immer dieselbe kurze Strecke, Abend für Abend –; an einer Straßenecke erzählte eine Deutsche im Kölner Dialekt einer anderen mit weitschallender Stimme – alle Deutschen schreien in London – sie habe seit drei Tagen nichts Warmes und seit einem überhaupt nichts gegessen: Die Geschäfte würden immer schlechter; und an der nächsten entstand ein Zusammenlauf von Menschen, in welchen Auban hineingestoßen wurde, so dass er die Szene mit ansehen musste, die sich nun abspielte: Eine Alte, welche Streichholzschachteln verkaufte, war mit einem der Frauenzimmer in Streit geraten. Sie schrien einander an. „Da“ – brüllte die Alte und spie in das Gesicht der vor ihr Stehenden, aber in derselben Sekunde hatte sie die Beschimpfung zurück empfangen. Einen Augenblick standen beide sprachlos vor Wut. Die Alte steckte zitternd ihre Schachteln in die Tasche. Dann schlugen sie sich gegenseitig unter dem Beifallsgebrüll der Umstehenden die Nägel in die Augen und wälzten sich schimpfend auf dem Boden umher, bis einer der Zuschauer sie auseinander riss, worauf sie ihre Sachen – die eine ihren zerbrochenen Schirm, und die andere ihren Fetzen von Hut – auflasen und der Haufe sich lachend nach allen Seiten zerstreute.
Auban ging weiter, dem Piccadilly Circus zu. Diese Szene – eine unter unzähligen – was war sie weiter, als ein neuer Beweis dafür, dass die Methode, das Volk in Rohheit zu erhalten, um dann von dem ‚Mob’ und seiner Verkommenheit zu sprechen, noch immer vortrefflich anschlug?
Musikhallen und Boxereien – sie füllen die paar freien Stunden der ärmeren Klassen Englands aus, an den Sonntagen Gebete und Predigten –: vortreffliche Mittel gegen das „gefährlichste Übel der Zeit“ – das Erwachen des Volkes zu geistiger Selbsttätigkeit.
Auban stieß unwillkürlich heftig mit dem Stock, dessen Griff er fest umspannt hielt, auf den Boden.
Der Square, den er eben verlassen, Piccadilly und Regents Street – sie sind allabendlich und allnächtlich die belebtesten und frequentiertesten Märkte lebendigen Fleisches für London. Hierhin wirft die Not der Weltstadt, unterstützt von den „zivilisierten“ Staaten des Festlandes, ein Angebot, das sogar eine unersättliche Nachfrage steigt. Von dem Anbruch der Dämmerung bis hinunter zum Aufflimmern des neuen Tages beherrscht die Prostitution das Leben dieser Zentralpunkte des Verkehrs und scheint die Achse zu sein, um welche es sich ausschließlich dreht.
Wie wundervoll bequem – dachte Auban – machen es sich doch die Herren Leiter unseres öffentlichen Lebens! Wo ihre Vernunft vor dem Scheunentor steht und sie nicht weiter können, gleich heißt es: ein notwendiges Übel. Die Armut – ein notwendiges Übel; die Prostitution – ein notwendiges Übel. Und doch gibt es kein weniger notwendiges und kein größeres Übel, als sie selbst! Sie sind es, die alles ordnen wollen und alles in Unordnung bringen; alles leiten wollen und alles von den natürlichen Wegen ablenken; alles fördern wollen, und alle Entwicklung hemmen... Sie lassen dicke Bücher schreiben, das sei immer so gewesen und müsse immer so sein, und um doch etwas zu tun, wenigstens scheinbar, begeben sie sich an die „Reformarbeit“. Und je mehr sie reformieren, desto schlimmer wird es ringsumher. Sie sehen es, aber sie wollen es nicht sehen; sie wissen es, aber sie dürfen es nicht wissen! Weshalb? Sie würden sonst unnütz – und heutzutage muss sich doch jedermann nützlich machen. Mit dem „materiellen Dahinleben“ ist es nicht mehr getan. „Betrogene Betrüger! vom Ersten bis zum Letzten“, sagte Auban lachend vor sich hm; und es lag fast keine Bitterkeit mehr in seinem Lachen.
Aber dieser Mann, welcher wusste, dass es nie und nirgendwo Gerechtigkeit auf der Erde gab, und der den Glauben an eine himmlische Gerechtigkeit als die bewusste Lüge erkaufter Priester verachtete, oder als die bewusst- und gedankenlose Hingabe an diese Lüge fürchtete, ahnte, so oft er die Hand an die eiternde Wunde der Prostitution legte, mit Schaudern, dass hier ein Weg war, auf welchem langsam, unendlich langsam, eine träge Gerechtigkeit von den Leidenden zu den Lebenden hinaufkroch.
Was ist dem Besitzenden das Volk – das Volk, welches „nicht zu gut behandelt werden darf“, damit es nicht übermütig wird? Gleichberechtigte Menschen mit den gleichen Wünschen an das Leben, wie sie selbst? Törichte Schwärmereien! Eine Arbeitsmaschine, die besorgt werden muss, damit sie ihren Dienst tun kann. Und es fiel Auban die Strophe aus einem englischen Liede ein: „Unsere Söhne dienen ihnen bei Tage, unsere Töchter dienen ihnen bei Nacht – –.
Ihre Söhne – gut genug zur Arbeit. Aber in der Entfernung – in der Entfernung. Ein Druck der Hand, die für sie arbeitet? Arbeit ist ihre Pflicht. Und diese Hände sind so schmutzig – von der Arbeit eines ewig währenden Tages.
Ihre Töchter – gut genug als Abzugskanal für den trüben Strom ihrer Lüste zu dienen, der sich sonst die unbefleckten und reinerhaltenen Seelen der eigenen Mütter und Töchter ergießen würde. Ihre Töchter bei Nacht! Was kauft das Geld vom Hunger und der Verzweiflung nicht?!
Aber hier – hier allein! – zieht die so Geopferte ihre Mörder hinein in den Strudel ihres Verderbens.
Wie eine dunkle, drohende Wolke breitet sich unser ganzes geschlechtliches Leben – das hier zügellos rasende, dort in die Unnatur der Ehe gepferchte – ein Heer furchtbarer Krankheiten aus, bei deren Namen jeder erbleicht, der sie hört, da keiner vor ihnen sicher ist. Und wie es einen bereits unübersehbaren Teil der Jugend unserer Tage durchfressen hat, so steht es schon wie die Erfüllung eines unausgesprochenen Fluches einer noch im Schlummer liegenden Generation.
Auban wurde gezwungen aufzusehen.
Aus dem Restaurant des London Pavillion, dessen Gasfackeln ihre Lichtströme Piccadilly Circus hinwarfen, taumelte eine Schar von jungen Männern der jeunesse dorée. Auf ihren geistlosen, brutal-verlebten Gesichtern stand ihre ganze Beschäftigung nur allzu deutlich: Sport, Weiber und Pferde. Sie waren natürlich in full dress: Aber die Zylinderhüte waren eingedrückt und aus den schwarzen Fräcken sahen von Whisky und Zigarrenasche beschmutzte und zerknitterte Hemden hervor. Unter rohem Gelächter und zynischen Ausrufen umstellten die Einen einige der Halbweltlerinnen, während die Anderen nach Hansoms schrien, die eilfertig angefahren kamen; die sich kreischend wehrenden Frauenzimmer wurden hineingeschoben und das Singen der Trunkenen erstarb in dem Fortrollen der Wagen.

Piccadilly Circus
Auban schaute den Platz. Dort vor ihm – Piccadilly hinunter – dehnte sich eine Welt des Reichtums und des Wohllebens aus: die Welt der aristokratischen Paläste und der großen Klubs, der luxuriösen Läden und der fashionablen Kunst – das ganze sättigte und raffinierte Leben der „großen Welt“... das Trugleben des Scheins...
Der Blitz der kommenden Revolution muss hier zuerst einschlagen. Es kann nicht anders mehr sein...
Als Auban die Straße schritt, fiel ihm die zerlumpte Gestalt eines Mannes auf, der unablässig, so oft der Wagenverkehr es zuließ, den Übergang von den Spuren der Wagen und Pferde reinigte, und jedes Mal, wenn sein Besen die Arbeit getan, bescheiden auf die Aufmerksamkeit derer wartete, deren Füße er vor einer Berührung mit dem Schmutze bewahrt hatte: Und es kam Auban die Lust an, zu sehen, wie viele diesen Dienst überhaupt bemerken würden. Er lehnte sich etwa fünf Minuten an den Laternenpfahl vor dem Eingangbogen von Spiers und Ponds Restaurant am Criterion und schaute der unermüdlichen Arbeit des Alten zu. In diesen fünf Minuten schritten etwa dreihundert Personen trockenen Fußes die Straße. Den Alten sah keiner. – Ihr macht keine guten Geschäfte? fragte er ihn, als er ihm näher kam.
Der Alte griff in die Tasche seines zerfetzten Rockes und zeigte ihm vier Kupferstücke.
– Das ist alles in drei Stunden. – Das ist nicht genug für euer Nachtlager, sagte Auban und legte ein Sixpencestück hinzu.
Und der Alte sah ihm nach, wie er langsam mit seinen mühsamen Schritten den Platz ging.
Hinter Auban versanken die Lichter des Platzes, die hellen gleichmäßigen Häuser des Quadrants von Regents Street; und während sich die Weite hinter ihm verengerte und der brausende Lärm sich verlor, schritt er sicher weiter und immer weiter hinein in das dunkle, geheimnisvolle Straßengewirr von Soho... Um dieselbe Stunde – die neunte war nicht mehr fern – kam von Osten aus der Richtung von Drury Lane her auf Wardour Street zu mit der unsicheren Schnelligkeit des Ganges, welche verrät, dass man sich in einer fremden und unbekannten Gegend befindet und doch gerne schnell ein bestimmtes Ziel erreichen möchte, ein Mann von etwa vierzig Jahren in der unauffälligen Kleidung eines Arbeiters, die sich in London nur durch ihre Einfachheit von der des Bürgers unterscheidet. Als er – überzeugt, dass er bei weiterem Forteilen in der eingeschlagenen Richtung schwerlich bald seine Ungeduld befriedigen würde – still stand und vor einem der zahllosen Public-Häuser einen der dort herumstehenden Burschen nach seinem Wege fragte, zeigte dessen vergebliches Bemühen, die erbetene Auskunft möglichst klar und verständlich zu machen, dass der Frager ein Ausländer sein musste.
Indessen schien dieser endlich die Erklärungen verstanden zu haben, denn er schlug eine von der vorher genommenen völlig verschiedene Richtung ein. Er wandte sich dem Norden zu. Nachdem er noch zwei oder drei der gleich dunklen, schmutzigen und einander völlig gleichenden Straßen durchgangen hatte, befand er sich plötzlich in dem betäubenden Lärm einer jener Verkaufsstraßen, in denen die Bevölkerung der ärmeren Viertel am Samstagabend mit dem Lohn der vergangenen Woche ihre Bedürfnisse für den folgenden Tag einhandelt. Die Seiten der Straße waren besetzt mit zwei endlosen Reihen von sich dicht hintereinander drängenden Wagentischen und Gestellen, dicht beladen mit jedem von den tausend Erfordernissen des täglichen Lebens, und zwischen ihnen ebenso wie auf den engen Trottoirs an den geöffneten und füllten Läden vorbei, drängte und quetschte sich eine unruhige und feilschende Masse, deren Schreien und Lärmen nur von dem gellenden Durcheinanderrufen der anpreisenden Verkäufer tönt wurde. Die Straße war in ihrer ganzen Länge von dem flackernden Scheine unzähliger Petroleumflammen in eine blendende Helle, eine Helle, wie sie das Licht des Tages nie hierher brachte, getaucht; die feuchte Luft erfüllt mit einem dicken und qualmenden Rauch; der Boden übersät mit zertretenen Abfällen aller Art, welche das Gehen auf dem glitschigen, unregelmäßigen Steinpflaster noch erschwerten.
Der Arbeiter, der nach dem Wege gefragt hatte, war in das Gewühl hineingeraten und drängte sich durch, so schnell es ging. Er hatte kaum einen Blick für die rings aufgespeicherten Schätze: die Bänke mit den großen, rohen, blutigen Fleischstücken; die hochbeladenen Karren mit Grünkraut jeder Sorte; die Tische, voll von altem Eisen und Kleidern; die langen Reihen von aneinander gebundenem Schuhwerk, welche sich über ihm fort und über die Straße spannten; für den ganzen undurchdringlichen Wirrwarr des Kleinhandels, welcher ihn umtoste und umdrückte. Als sich unter dem Schimpfen der Menge ein Karren rücksichtslos durch das Gewühl stieß, nahm er die Gelegenheit wahr, hinter ihm herzugehen, und kam so schneller, als er gehofft hatte, an die Ecke der nächsten Kreuzstraße, wo sich das Leben wieder verteilte und einen Augenblick des Stillstehens ermöglichte.
Da, als er sich umsah, erblickte er auf der anderen Seite der Straße plötzlich Auban. Überrascht, seinen Freund so unverhoffter Weise und in dieser Gegend zu sehen, eilte er nicht sogleich zu ihm; und dann – als er schon die Straße halb schritten hatte – trat er in das Gedränge zurück, von dem Gedanken getrieben: Was tut er hier? – Er blickte in der nächsten Minute aufmerksam zu ihm hin.
Auban stand mitten in einer Reihe von halbbetrunkenen Männern, die den Eingang des Public-Hauses umlagerten, in der Hoffnung, von einem ihrer Bekannten eingeladen zu werden: – „Have a drink!“ Er stand da, etwas nach vorn gebeugt, mit beiden Händen auf seinen zwischen die Knie geklemmten Stock sich stützend und unverwandt in das an ihm vorbeitreibende Gewühl starrend, als warte er darauf, aus ihm ein bekanntes Gesicht auftauchen zu sehen. Seine Züge waren ernst; um den Mund lag eine scharfe Falte und seine tiefliegenden Augen hatten einen starren und trüben Blick. Seine glattrasierten Wangen waren mager und die scharfe Nase gab den Zügen seines schmalen und feinen Gesichtes den Ausdruck starker Willensfähigkeit. Ein dunkler weiter Mantel fiel nachlässig an der ungewöhnlich langen und schmalschulterigen Gestalt nieder, und als ihn der andere von der gegenliegenden Straßenecke so dastehen sah, fiel ihm zum ersten Male auf, dass er ihn seit Jahren nie anders gesehen hatte, als in demselben weiten Anzug von demselben bequemen Schnitt und derselben einfachsten, dunklen Farbe. Genau so schlicht und doch so auffällig war seine äußere Erscheinung gewesen, als er ihn – wie lange war es her: sechs oder sieben Jahre schon? – in Paris kennen gelernt hatte, und genauso unverändert wie damals mit denselben gleichen scharfen und trüben Zügen, die höchstens blasser und grauer geworden waren, stand er heute da drüben, nachlässig und unbekümmert in grübelnden Gedanken inmitten des sich hastenden und freudlosen Treibens des Samstagabends von Soho.

Da kam er auf ihn zu: starr geradeaus blickend. Aber er sah ihn nicht und wollte an ihm vorgehen.
– Auban! rief der andere.
Der Gerufene fuhr nicht zusammen, aber er wandte sich langsam zur Seite und sah mit einem leeren und abwesenden Blick in das Gesicht des ihn Rufenden, bis der ihn am Arm packte:
– Auban!
– Otto?! fragte der Angerufene da, aber ohne Erstaunen. Und dann, fast flüsternd, und in dem belegten, halb noch im Grauen belegten Tone des Erwachenden, der von seinem schweren Traume erzählt, leise, um ihn nicht zur Wirklichkeit zu wecken: „Ich dachte an etwas anderes: – an das Elend, wie groß es ist, wie ungeheuer, und wie langsam das Licht kommt, wie langsam ...“
Der andere sah ihn erstaunt an. Aber schon lachte Auban jäh erwacht auf, und in seinem gewohnten beherrschten Tone fragte er dann:
– Aber in aller Welt, wie kommst du aus deinem East End nach Soho?
– Ich habe mich verlaufen. Wo ist denn eigentlich Oxford Street? Dort, nicht wahr?
Aber Auban nahm ihn lächelnd an der Schulter und drehte ihn um.
– Nein, dort. – Pass auf: Vor uns liegt der Norden der Stadt, die ganze Länge von Oxford Street; hinter uns der Strand, den du wohl kennst; dort, wo du herkommst – du kommst doch von Osten? – ist Drury Lane, und das frühere Seven Dials, von dem du gewiss schon gehört hast. Seven Dials, die frühere Hölle der Armut; jetzt „zivilisiert“. Hast du noch nicht die berühmte Vogelhändlerstraße gesehen? – Sieh, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten, und machte mit seiner Hand eine Bewegung nach Osten hin: In diesen Straßen bis Lincolns Inn Fields drängt sich ein großer Teil des Elends von West End. Was glaubst du wohl, was man nicht geben würde, könnte man es ausmisten und nach dem Osten drängen? – Was nützt es, dass sie weite Straßen durchschlagen, genauso wie Haußmann, der Seinepräfekt, es in Paris getan hat, um den Revolutionen so leichter begegnen zu können, was nützt es? Es drängt sich nur dichter aufeinander. Es vergeht kein Samstagabend, an dem ich dieses Viertel zwischen Strand und Regents Street und Lincolns Inn, zwischen Strand und Oxford Street nicht schreite – es ist ein Reich für sich und ich habe hier reichlich so viel gesehen wie im East End. – Bist Du zum ersten Male hier?
– Doch, wenn ich nicht irre. War denn nicht früher der Klub hier?
– Ja. Aber näher an Oxford Street. – Übrigens wohnen hier eine Menge Deutsche – nach Regents Street zu in den besseren Straßen.
– Wo ist denn das Elend am schlimmsten?
– Am schlimmsten? – Auban dachte einen Augenblick nach.
– Wenn du in Drury Lane einbiegst – die Courts der Wild Street; dann das schreckliche Gewirr von fast zusammenbrechenden Häusern in der Nähe des Old Curiosity Shop, den Dickens beschrieben hat, mit den schmutzbedeckten Durchgängen; überhaupt die Nebenstraßen von Drury Lane, besonders im Norden, an den Queen Streets; und weiter hierher vor allem die früheren Dials, die Hölle der Höllen –.
– Kennst Du alle Straßen hier?
– Alle –.
– Aber du kannst nicht viel auf ihnen sehen. Die Tragödien der Armut spielen sich hinter den Mauern ab.
– Aber doch der letzte Akt – wie oft! – auf der Straße. Sie waren langsam weiter gegangen. Auban hatte seinen Arm in den des anderen gelegt und stützte sich müde auf ihn. Trotzdem hinkte er stärker als vorher.