Kitabı oku: «Zehn Tage, die die Welt erschütterten», sayfa 2
Parlamentarische Gepflogenheiten
Die Verfahrensregeln bei russischen Versammlungen und Kongressen sind den kontinentalen Gepflogenheiten ähnlicher als den unseren. Die erste Handlung ist im allgemeinen die Wahl eines Präsidiums. Das Präsidium ist ein Komitee, das den Vorsitz über die Versammlung innehat. Ihm gehören Vertreter der an der Versammlung teilnehmenden Gruppen und politischen Parteien im Verhältnis zu ihrer Mitgliederzahl an. Das Präsidium stellt die Geschäftsordnung auf, und jedes seiner Mitglieder kann vom Vorsitzenden aufgefordert werden, zeitweise die Versammlung zu leiten. Jede Frage wird erst allgemein aufgeworfen und dann diskutiert. Zum Abschluss der Debatte bringen die verschiedenen Parteien Resolutionen ein, über die einzeln abgestimmt wird. Es kann geschehen, und geschieht auch meistens, dass die Geschäftsordnung schon in der ersten halben Stunde über den Haufen geworfen wird. Unter Berufung auf besondere »Dringlichkeit«, die von der Versammlung fast immer anerkannt wird, kann jeder aufstehen und sich zu jedem beliebigen Thema äußern. Die Versammlung wird von den Massen der Teilnehmer beherrscht. Dem Versammlungsleiter bleibt weiter nichts zu tun, als mit einer Glocke Ordnung zu schaffen und die Redner anzusagen. Die Hauptarbeit der Tagungen wird in den Fraktionssitzungen der verschiedenen Gruppen und Parteien geleistet, die fast immer geschlossen abstimmen und von Fraktionsführern vertreten werden. Das führt jedoch dazu, dass bei jeder neuen wichtigen Frage, bei jeder Abstimmung, die Tagung unterbrochen werden muss, damit sich die verschiedenen Gruppen und Parteien zu einer Fraktionsbesprechung zusammenfinden können. Die Versammlungsteilnehmer sind sehr laut, bekunden den Rednern ihren Beifall oder ihr Missfallen und machen jede vom Präsidium festgelegte Ordnung zunichte. Zu den üblichen Zurufen gehören »Prossim!« (Bitte! Weitermachen!),»Prawilno!« »Eto werno!« (Sehr richtig! Sehr wahr!), »Dowolno!« (Genug!), »Doloi!« (Abtreten!), »Posor!« (Schande!) und »Ticho!« (Ruhe!).
Massenorganisationen
1. Sowjets. Das Wort Sowjet bedeutet »Rat«. Unter dem Zaren wurde der Reichsrat »Gossudarstwenny Sowjet« genannt. Seit der Revolution versteht man aber unter Sowjet immer mehr ein von den Mitgliedern der wirtschaftlichen Organisationen der Werktätigen gewähltes Parlament den Sowjet der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten. Ich habe also nur diese spezifischen Organisationen mit dem Wort Sowjet bezeichnet und an allen anderen Stellen das Wort mit »Rat« übersetzt. Neben den örtlichen Sowjets, die in jeder Stadt und jedem Dorf Russlands gewählt werden – in den Großstädten außerdem Sowjets der Stadtbezirke (Rayons) –, gibt es auch Bezirks- und Gouvernements-Sowjets (oblastnyje oder gubernskije) und das Zentralexekutivkomitee der Gesamtrussischen Sowjets in der Hauptstadt, nach den Anfangsbuchstaben ZEK genannt (siehe auch weiter unten »Zentralkomitees«). Fast überall vereinten sich nach der Märzrevolution die Sowjets der Arbeiterdeputierten und die der Soldatendeputierten. In besonderen Fragen, die sich auf ihre spezifischen Interessen bezogen, traten die Sektionen der Arbeiter und Soldaten auch weiterhin gesondert zusammen. Die Sowjets der Bauerndeputierten schlossen sich den anderen erst nach der Machtergreifung durch die Bolschewiki an. Auch sie waren wie die Arbeiter und Soldaten organisiert, mit einem Gesamtrussischen Exekutivkomitee der Bauernsowjets in der Hauptstadt.
2. Gewerkschaften. Obwohl meist in Form von Industriegewerkschaften organisiert, nannten sich die russischen Gewerkschaften noch immer Fachverbände. Zur Zeit der bolschewistischen Revolution hatten sie vier Millionen Mitglieder. Auch die Gewerkschaften waren in einem gesamtrussischen Verband zusammengeschlossen, einer Art Russischer Arbeiterföderation, mit einem Zentralexekutivkomitee in der Hauptstadt.
3. Fabrikkomitees. Diese waren spontan entstandene Organisationen, von den Arbeitern in den Fabriken gebildet, um die Kontrolle über die Industrie auszuüben. Sie nutzten das administrative Chaos, das die Revolution mit sich gebracht hatte, um sich eine feste Position zu schaffen. Ihre Funktion bestand darin, durch revolutionäre Aktionen die Fabriken in die eigenen Hände zu nehmen und zu leiten. Die Fabrikkomitees hatten auch ihre gesamtrussische Organisation mit einem Zentralkomitee in Petrograd, das mit den Gewerkschaften zusammenarbeitete.
4. Dumas. Das Wort Duma bedeutet mehr oder weniger »beratende Körperschaft«. Die alte zaristische Duma, die in etwas demokratisierter Form noch sechs Monate nach der Revolution bestand, starb im September 1917 eines natürlichen Todes. Die Stadtduma, die in diesem Buch eine Rolle spielt, war der reorganisierte Stadtrat, häufig auch »städtische Selbstverwaltung« genannt. Sie wurde in direkter und geheimer Wahl gewählt, und wenn sie während der bolschewistischen Revolution die Unterstützung der Massen verlor, dann liegt das hauptsächlich daran, dass mit der aufsteigenden Macht der Organisationen, die sich auf ökonomische Gruppen stützten, alle rein politischen Vertretungen an Einfluss verloren.
5. Semstwos. Dieser Name lässt sich mehr oder weniger mit »Landräte« übersetzen. Unter dem Zaren waren die Semstwos halb politische, halb soziale Körperschaften, mit verschwindend kleinen administrativen Funktionen. Sie wurden zum größten Teil von intellektuellen Liberalen aus der Grundbesitzerklasse beherrscht. Ihre wichtigste Funktion war die Schaffung von Schulen und sozialen Einrichtungen für Bauern. Während des Krieges nahmen die Semstwos allmählich die gesamte Versorgung der Armee mit Lebensmitteln und Kleidung sowie die Käufe aus dem Ausland in die Hand. Sie leisteten unter den Soldaten eine Arbeit, die mehr oder weniger der Tätigkeit des Christlichen Vereins junger Männer an der Front entspricht. Nach der Märzrevolution wurden die Semstwos demokratisiert, weil man beabsichtigte, ihnen die örtlichen Regierungsorgane in den ländlichen Gebieten zu übertragen. Sie konnten aber ebenso wenig wie die Stadtdumas gegen die Sowjets aufkommen.
6. Genossenschaften. Darunter sind die Konsumgenossenschaften der Arbeiter und Bauern zu verstehen, die vor der Revolution in Russland mehrere Millionen Mitglieder hatten. Von Liberalen und »gemäßigten« Sozialisten gegründet, wurden die Genossenschaften nicht von den revolutionären sozialistischen Gruppen unterstützt, da sie eine Ersatzlösung gegen über der völligen Übernahme und der Verteilung in die Hände der Werktätigen darstellten. Nach der Märzrevolution vergrößerten sich die Genossenschaften rasch. Sie wurden von den Volkssozialisten, Menschewiki und Sozialrevolutionären beherrscht und spielten bis zur bolschewistischen Revolution die Rolle einer konservativen politischen Kraft. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass die Genossenschaften Russland mit Lebensmitteln versorgten, als der alte Handels- und Verkehrsapparat zusammengebrochen war.
7. Armeekomitees. Die Armeekomitees wurden von den Soldaten an der Front gebildet, um den reaktionären Einfluss der Offiziere des alten Regimes zu bekämpfen. Jede Kompanie, jedes Regiment, Jede Brigade und Division, jedes Korps hatte ein eigenes Komitee. Als Dachorganisation wurde ein Armeekomitee gewählt. Das Zentrale Armeekomitee arbeitete mit dem Generalstab zusammen. Der durch die Revolution verursachte administrative Zusammenbruch in der Armee lud fast die gesamte Arbeit der Quartiermeister und in einigen Fällen sogar den Befehl der Truppen auf die Schultern des Armeekomitees.
8. Flottenkomitees. Die entsprechende Organisation in der Flotte.
Zentralkomitees
Im Frühjahr und Sommer 1917 wurden in Petrograd gesamtrussische Kongresse der verschiedenartigsten Organisationen abgehalten. Es gab Nationalkongresse der Arbeiter-, der Soldaten- und der Bauernsowjets, der Gewerkschaften, der Fabrikkomitees, der Armee- und Flottenkomitees – außerdem Kongresse jedes Zweiges innerhalb der Armee und Flotte, Kongresse der Genossenschaften, der Nationalitäten usw. Jeder dieser Kongresse wählte ein Zentralkomitee oder ein Zentralexekutivkomitee, um die besonderen Interessen seiner Organisationen am Sitz der Regierung zu wahren. Als dann die Provisorische Regierung von Tag zu Tag schwächer wurde, mussten die Zentralkomitees eine immer größere administrative Macht in ihre eigenen Hände nehmen.
Die wichtigsten in diesem Buch erwähnten Zentralkomitees sind:
Der Verband der Verbände. Während der Revolution von 1905 bildeten Professor Miljukow und andere Liberale Verbände freiberuflicher Intellektueller – Ärzte, Juristen usw. Diese vereinigten sich zu einer zentralen Organisation, dem Verband der Verbände. 1905 kämpfte der Verband der Verbände auf der Seite der revolutionären Demokratie; 1917 dagegen wandte er sich gegen den bolschewistischen Aufstand und stellte sich an die Spitze der Regierungsangestellten, die gegen die Autorität der Sowjets streikten.
Zentralexekutivkomitee. Gesamtrussisches Zentralexekutivkomitee der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten.
Zentroflot. »Zentralflotte« – das zentrale Flottenkomitee.
Wikshel. Gesamtrussisches Exekutivkomitee des Eisenbahnerverbandes. Genannt nach seinen Anfangsbuchstaben.
Andere Organisationen
Rote Garden. Die bewaffneten Fabrikarbeiter Russlands. Die Roten Garden entstanden zum ersten Mal in der Revolution von 1905 und erschienen erneut in den Märztagen 1917 auf dem Schauplatz, als eine Kraft gebraucht wurde, um Ruhe und Ordnung in den Städten zu wahren. Sie waren bewaffnet, und jeder Versuch der Provisorischen Regierung, sie zu entwaffnen, blieb mehr oder weniger erfolglos. In jeder großen Krise der Revolution erschienen die Roten Garden auf der Straße, ungeschult und undiszipliniert, aber von revolutionärem Elan erfüllt.
Weiße Garden. Freiwillige aus den Kreisen der Bourgeoisie, die in den letzten Etappen der Revolution in Erscheinung traten, um das Privateigentum, das die Bolschewiki abschaffen wollten, zu verteidigen. Sehr viele von ihnen waren Studenten.
Jekinzy. Die sogenannte Wilde Division in der Armee Sie bestand aus Angehörigen mohammedanischer Stämme aus Mittelasien, die Kornilow persönlich zugetan waren. Sie waren wegen ihres blinden Gehorsams und ihrer grausamen Kriegsführung bekannt.
»Todesbataillone« oder »Stoßbataillone«. Im allgemeinen ist das Frauenbataillon in der Welt als Todesbataillon bekannt, aber es gab auch Männerbataillone dieser Art. Sie wurden im Sommer 1917 von Kerenski gebildet, um durch Beispiele von Heldentum die Disziplin und Kampfkraft in der Armee zu erhöhen. Die Todesbataillone wurden zumeist aus fanatisch patriotischen jungen Menschen gebildet. Zum größten Teil waren es Söhne aus den besitzenden Klassen.
Offiziersverband. Eine Organisation der reaktionären Offiziere in der Armee, dazu bestimmt, die wachsende Macht der Armeekomitees politisch zu bekämpfen.
Ritter des heiligen Georg. Das Georgskreuz wurde für hervorragende Verdienste in der Schlacht verliehen. Die Träger dieses Ordens waren automatisch Georgsritter. Diese Organisation spielte hauptsächlich als Vorkämpfer militärischer Ideale eine Rolle.
Bauernverband. 1905 war der Bauernverband eine revolutionäre Bauernorganisation.. 1917 war er jedoch zum politischen Interessenvertreter der wohlhabenden Bauern geworden und bekämpfte die wachsende Macht und die revolutionären Ziele der Sowjets der Bauerndeputierten.
Zeitrechnung und Schreibweise
Ich habe in diesem Buch überall unseren Kalender benutzt und nicht den russischen, der dreizehn Tage zurückliegt. In der Schreibweise der russischen Wörter und Namen habe ich nicht versucht, mich an wissenschaftliche Transkriptionsregeln zu halten, sondern habe eine Schreibweise gewählt, die dem englischen Leser die Aussprache am leichtesten klarmachen kann.
Quellen
Das Material in diesem Buch stammt zu einem großen Teil aus meinen eigenen Notizen. Darüber hinaus habe ich mich aber auch auf ein wahllos zusammengetragenes Archiv mehrerer Hundert russischer Zeitungen gestützt, die über fast jeden Tag der geschilderten Zeitspanne Meldungen enthalten. Außerdem benutzte ich eine Sammlung der englischen Zeitung »Russian Daily News« und der beiden französischen Zeitungen »Journal de Russie« und »Entente«. Viel wertvoller als diese Zeitungen ist allerdings das »Bulletin de la Presse«, täglich vom französischen Informationsbüro in Petrograd herausgegeben, das über alle wichtigen Ereignisse, Reden und Kommentare der russischen Presse berichtet. Von diesem Bulletin habe ich eine nahezu vollständige Sammlung vom Frühjahr 1917 bis Ende Januar 1918. Daneben habe ich fast jede Proklamation, jedes Dekret und jede Ankündigung, die von Mitte September 1917 bis Januar 1918 in den Straßen Petrograds angeschlagen wurden, gesammelt; ebenso die offiziellen Veröffentlichungen aller Dekrete und Befehle der Regierung, sowie die offizielle Veröffentlichung der Geheimabkommen und anderer Dokumente, die im Außenministerium gefunden wurden, als es die Bolschewiki übernahmen.
I. Hintergrund
Gegen Ende September 1917 besuchte mich ein ausländischer Professor der Soziologie in Petrograd. Ihm war von Männern der Wirtschaft und von Intellektuellen erzählt worden, dass die Revolution im Abebben sei. Der Herr Professor schrieb darüber einen Artikel und durchreiste dann das Land; er besuchte Fabrikstädte und Dorfgemeinden, wo zu seinem großen Erstaunen die Revolution ihren Schritt eher zu beschleunigen schien. Unter den Lohnarbeitern und der werktätigen Landbevölkerung ertönte immer öfter der Ruf: »Alles Land den Bauern!« »Alle Fabriken den Arbeitern!« Wenn der Herr Professor die Front besucht hätte, so hätte erhören können, wie in der ganzen Armee von nichts als dem Frieden die Rede war ... Der Herr Professor war verwirrt; ohne Grund; beide Beobachtungen waren richtig. Die besitzenden Klassen wurden konservativer, die Volksmassen radikaler.
In den Reihen der Geschäftswelt und in der Intelligenz herrschte allgemein das Gefühl, dass die Revolution weit genug gegangen sei und schon zu lange währe; dass es an der Zeit sei, Ruhe zu schaffen. Dieser Auffassung waren auch die herrschenden »gemäßigten« sozialistischen Gruppen, die Menschewiki-»Oboronzy« und Sozialrevolutionäre, die die Provisorische Kerenski-Regierung unterstützten. Am 14. Oktober erklärte das offizielle Organ der »gemäßigten« Sozialisten:
»Das Drama der Revolution hat zwei Akte: Die Zerstörung der alten Ordnung und die Schaffung der neuen. Der erste Akt hat lange genug gedauert. Jetzt ist es an der Zeit, den zweiten zu beginnen und ihn so schnell als möglich zu Ende zu führen. Von einem großen Revolutionär stammt das Wort: »Eilen wir uns Freunde, die Revolution zu beenden. Wer sie zu lange währen lässt, läuft Gefahr, um ihre Früchte zu kommen ...«
Die Arbeiter-, Soldaten- und Bauernmassen waren dagegen der festen Überzeugung, dass der »erste Akt« noch lange nicht zu Ende gespielt war. An der Front stießen überall Armeekomitees mit den Offizieren zusammen, die sich noch immer nicht gewöhnen konnten, die Soldaten als Menschen zu behandeln; im Hinterland wurden die von den Bauern gewählten Bodenkomitees eingesperrt, wo sie sich unterfingen, die von der Regierung angeordneten Bestimmungen über den Grund und Boden durchzuführen; und die Arbeiter in der Fabriken mussten einen schweren Kampf gegen schwarze Listen und Aussperrungen führen. Die zurückkehrenden politischen Verbannten wurden als »unerwünschte Bürger« nicht ins Land hineingelassen, und in manchen Fällen wurden Menschen, die aus dem Auslande in ihre Dörfer zurückkehrten, wegen der im Jahre 1905 begangenen politischen Handlungen verfolgt und eingekerkert. Auf die mannigfaltige Unzufriedenheit des Volkes hatten die »gemäßigten« Sozialisten nur eine Antwort: Die Konstituierende Versammlung abzuwarten, die im Dezember zusammentreten sollte. Aber die Massen waren damit nicht zufrieden. Die Konstituierende Versammlung war gut und schön, doch es gab gewisse klar umrissene Dinge, um derentwillen die Russische Revolution gemacht worden war, für die die revolutionären Märtyrer, die in den Massengräbern des Marsfeldes lagen, ihr Blut vergossen hatten; diese galt es zu verwirklichen, mit oder ohne Konstituierende Versammlung: Frieden, Land, Kontrolle der Arbeiter über die Industrie. Die Konstituierende Versammlung war bisher immer wieder vertagt worden – und würde wahrscheinlich noch einmal vertagt werden, so lange vielleicht, bis das Volk ruhig genug geworden war, um auf einen Teil seiner Forderungen zu verzichten.
Acht Monate Revolution waren bereits ins Land gegangen, und wenig genug zu sehen ... Inzwischen begannen die Soldaten, die Friedensfrage auf eigene Faust zu lösen, indem sie einfach desertierten; die Bauern brannten die Gutshäuser nieder und setzten sich in den Besitz der großen Güter; die Arbeiter streikten ... Die Fabrikanten, Gutsbesitzer und Offiziere der Armee setzten ihren ganzen Einfluss ein, um jedes demokratische Zugeständnis zu verhindern ... Die Politik der Provisorischen Regierung schwankte zwischen wertlosen Reformen und brutaler Unterdrückung. Ein Befehl des sozialistischen Arbeitsministers ordnete an, dass die Arbeiterkomitees fortan nur nach Feierabend zusammentreten dürften. Bei den Truppen an der Front wurden die »Agitatoren« der oppositionellen politischen Parteien verhaftet, die radikalen Zeitungen verboten und die Todesstrafe gegen revolutionäre Propagandisten angewandt. Versuche wurden unternommen, die Roten Garden zu entwaffnen. Kosaken wurden in die Provinzen geschickt, damit sie dort die Ordnung wiederherstellten ...
Diese Maßnahmen wurden von den »gemäßigten« Sozialisten und ihren Führern im Ministerium, die die Zusammenarbeit mit den besitzenden Klassen für notwendig hielten, gutgeheißen. Die Volksmassen wandten sich in schnellem Tempo von ihnen ab und gingen zu den Bolschewiki über, die für Frieden, Land für die Kontrolle der Arbeiter über die Industrie und für eine Regierung der Arbeiterklasse waren. Im September 1917 spitzten sich die Dinge zur Krise zu. Gegen den überwältigenden Willen des Landes gelang es Kernski und den »gemäßigten« Sozialisten, eine Koalitionsregierung mit den besitzenden Klassen zu errichten; das Resultat war, dass die Menschewiki und Sozialrevolutionäre das Vertrauen des Volkes endgültig verloren. Ein Artikel im »Rabotschi Put« (Der Arbeiterweg) um die Mitte des Oktobers unter dem Titel »Die sozialistischen Minister« brachte die Meinung der Volksmassen wie folgt zum Ausdruck:
»Hier eine Liste ihrer Leistungen:
Zereteli: entwaffnete die Arbeiter mit Hilfe des Generals Polowzew, brachte den revolutionären Soldaten eine Niederlage bei und stimmte der Todesstrafe in der Armee zu.
Skobelew: begann mit dem Versprechen, eine hundertprozentige Steuer auf die Profite der Kapitalisten zu legen, und endete – und endete mit dem Versuch, die Arbeiterkomitees in den Werkstätten und Fabriken aufzulösen.
Awxentjew: warf einige Hundert Bauern ins Gefängnis, die Mitglieder der Bodenkomitees, und unterdrückte Dutzende von Arbeiter- und Soldatenzeitungen.
Tschernow: unterzeichnete das Kaiserliche Manifest, das die Auflösung des finnischen Landtages anordnete.
Sawinkow: schloss ein offenes Bündnis mit dem General Kornilow. Wenn es diesem Retter des Landes nicht gelang, Petrograd zu verraten, so ist das auf Gründe zurückzuführen, die seinem Einfluss nicht unterlagen.
Sarudny: kerkerte mit Zustimmung Alexinskis und Kerenskis Tausende revolutionäre Arbeiter, Soldaten und Matrosen ein.
Nikitin: handelte als ordinärer Polizist gegen die Eisenbahner.
Kerenski: über den sagt man am besten gar nichts. Die Liste seiner Leistungen würde zu lang werden ...«
Ein Delegiertenkongress der Baltischen Flotte in Helsingfors beschloss eine Resolution, die wie folgt begann:
»Wir fordern die sofortige Entfernung des, Sozialisten und politischen Abenteurers Kerenski aus der Provisorischen Regierung, der die große Revolution und mit ihr die revolutionären Massen durch seine schamlosen politischen Erpressungen im Interesse der Bourgeoisie zugrunde richtet ...«
Das unmittelbare Ergebnis alles dessen war der Aufstieg der Bolschewiki ...
Seit dem März 1917, als der Ansturm der Arbeiter und Soldaten auf den Taurischen Palast die widerstrebende Reichsduma zwang, die Macht in Russland zu übernehmen, waren es die Massen des Volkes, die Arbeiter, Soldaten und Bauern, die jeden Wechsel im Fortgang der Revolution erzwangen. Sie stürzten das Ministerium Miljukows; ihr Sowjet war es, der der Welt die russischen Friedensvorschläge verkündete: »Keine Annexionen, keine Entschädigungen, Selbstbestimmungsrecht der Völker!« und wieder, im Juli, war es die spontane Erhebung des unorganisierten Proletariats, das zum zweiten Male den Taurischen Palast stürmte und die Forderung erhob: Übernahme der Regierungsgewalt in Russland durch die Sowjets. Die Bolschewiki, zu der Zeit eine kleine politische Sekte, stellten sich an die Spitze der Bewegung. Das Ergebnis des völligen Misserfolgs der Erhebung war, dass sich die öffentliche Meinung gegen sie kehrte. Ihre führerlosen Massen fluteten in das Wiborgviertel zurück, das Saint Antoine von Petrograd. Dann folgte eine wilde Bolschewistenhetze: Hunderte wurden eingekerkert, darunter Trotzki, Frau Kollontai und Kamenew; Lenin und Sinojew mussten sich verbergen, gehetzt von der Justiz; die bolschewistischen Zeitungen wurden unterdrückt. Provokateure und Reaktionäre wurden nicht müde, die Bolschewiki als deutsche Agenten zu bezeichnen, bis sich in der ganzen Welt Leute fanden, die das glaubten.
Aber die Provisorische Regierung konnte ihre Anklagen nicht beweisen; die Dokumente, die die pro-deutsche Verschwörertätigkeit der Bolschewiki beweisen sollten, wurden als Fälschungen enthüllt. Und die Bolschewiki wurden, einer nach dem anderen, aus den Gefängnissen entlassen, ohne jeden Prozess, gegen nominelle oder ohne jede Bürgschaft, bis nur sechs Verhaftete übrigblieben. Die Machtlosigkeit und Unentschlossenheit der ständig wechselnden Provisorischen Regierung war allein schon ein unwiderlegbares Argument. Die Bolschewiki stellten erneut die den Massen so wertvolle Losung auf: »Alle Macht den Sowjets!«, und sie taten das nicht aus Selbstsucht; zu der Zeit gehörte die Mehrheit in den Sowjets den »gemäßigten« Sozialisten, ihren wütendsten Gegnern. Doch mehr noch; sie übernahmen die elementaren, einfachen wünsche der Arbeiter, Soldaten und Bauern und schufen daraus ihr Aktionsprogramm. Und während die sozialpatriotischen Menschewiki und Sozialrevolutionäre sich in der Politik des Kompromisses mit der Bourgeoisie verwirrten, eroberten die Bolschewiki schnell die russischen Massen.
Im Juli waren sie noch gehetzt und verachtet, im September waren die Arbeiter der Hauptstadt, die Matrosen der Baltischen Flotte und die Soldaten bereits fast ganz auf ihrer Seite. Die Kommunalwahlen, die im September in den großen Städten stattfanden, waren dafür bezeichnend; nur acht Prozent der Gewählten waren Menschewiki und Sozialrevolutionäre gegenüber mehr als siebzig Prozent im Juni ... Es bleibt ein Umstand, der geeignet ist, den nichtrussischen Beobachter zu verwirren: das Zentralexekutivkomitee der Sowjets, die zentralen Armee- und Flottenkomitees und die Zentralkomitees einiger Gewerkschaften, vor allem die der Post – und Telegrafenarbeiter und der Eisenbahner, waren den Bolschewiki entschieden feindlich. Alle diese Zentralkomitees waren in der Mitte des Sommers oder sogar vorher gewählt worden, als die Menschewiki und Sozialrevolutionäre noch eine ungeheure Anhängerschaft hatten; jetzt schoben sie Neuwahlen immer wieder hinaus oder verhinderten sie sogar. So hätte beispielsweise den Bestimmungen der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten gemäß der Gesamtrussische Sowjetkongress zum September einberufen werden müssen; doch das Zentralexekutivkomitee wollte ihn nicht zusammentreten lassen unter dem Vorwand, dass die Konstituierende Versammlung in spätestens zwei Monaten tagen würde, womit, so deuteten sie an, die Aufgabe der Sowjets erledigt wäre und sie abzutreten hätten. Mittlerweile eroberten die Bolschewiki im ganzen Lande einen nach dem anderen die örtlichen Sowjets, die lokalen Gewerkschaftsorganisationen und die unteren Soldaten- und Matrosenmassen.
Die Bauernsowjets blieben noch konservativ, weil in den rückständigen ländlichen Gebieten das politische Bewusstsein sich nur langsam entwickelte; außerdem hatte seit einer ganzen Generation die Agitation in den Händen der Sozialrevolutionäre gelegen ... Doch selbst unter den Bauern begann sich ein revolutionärer Flügel zu bilden. Das zeigte sich klar im Oktober, als sich der linke Flügel der Sozialrevolutionäre abspaltete und eine neue politische Partei bildete, die Partei der linken Sozialrevolutionäre. Gleichzeitig waren allenthalben Anzeichen vorhanden, dass die Reaktion wieder Selbstvertrauen gewann. In der Troizki-Komödie in Petrograd wurde beispielsweise eine Burleske mit dem Titel »Die Sünden des Zaren« von einer Monarchistengruppe gestört, die die Schauspieler zu lynchen drohte, weil sie »den Zaren beleidigt« hatten. Gewisse Zeitungen begannen nach einem »russischen Napoleon« zu rufen. Es war damals bei der bürgerlichen Intelligenz üblich, die Arbeiterdeputierten als »Hundedeputierte« zu bezeichnen. Am 15. Oktober hatte ich eine Unterhaltung mit einem russischen Großkapitalisten, Stepan Georgijewitsch Lianosow, bekannt als der »russische Rockefeller«, seiner politischen Parteizugehörigkeit nach ein Kadett. »Die Revolution«, sagte dieser, »ist eine Krankheit. Früher oder später werden die fremden Mächte eingreifen müssen, gerade so, wie man eingreifen muss, um ein krankes Kind zu heilen oder es laufen zu lehren. Natürlich wird das mehr oder weniger unangenehm sein, aber die Nationen müssen sich klar werden über die Gefahr des Bolschewismus in ihren eigenen Ländern, über die Gefährlichkeit so ansteckender Ideen wie die der proletarischen Diktatur und der sozialen Weltrevolution ... es besteht eine Möglichkeit dass das Eingreifen nicht notwendig ist: das Transportwesen ist zerstört, die Fabriken schließen ihre Tore, die Deutschen sind im Vormarsch. Der Hunger und die Niederlage möchten vielleicht das russische Volk zur Vernunft bringen ...«
Herr Lianosow erklärte entschieden, dass sich die Kaufleute und Fabrikanten unter keinen Umständen mit der Existenz der Fabrikkomitees abfinden oder zugeben könnten, dass die Arbeiter irgendeinen Einfluss auf die Leitung der Industrie gewinnen. »Was die Bolschewiki anbelangt, so könnte man mit ihnen auf zweierlei Art fertig werden: die Regierung kann Petrograd räumen, dann den Belagerungszustand erklären, womit der Militärkommandant des Gebietes die Möglichkeit erhalten würde, mit diesen Herrschaften, ungehindert durch gesetzliche Formalitäten, abzurechnen ... Oder aber, falls die Konstituierende Versammlung irgendwelche utopischen Neigungen zeigen sollte, kann sie mit Waffengewalt auseinander getrieben werden ...«
Der Winter rückte heran – der schreckliche russische Winter. Ich hörte Kapitalisten über ihn wie folgt sprechen: »Der Winter war immer Russlands bester Freund. Vielleicht wird er uns jetzt von der Revolution befreien.« An der frierenden Front fuhren die Armeen fort, zu hungern und zu sterben, ohne Begeisterung. Der Eisenbahnverkehr brach zusammen, die Lebensmittel wurden knapp, die Fabriken schlossen die Tore. Die verzweifelten Massen beschuldigten die Bourgeoisie, das Leben des Volkes zu sabotieren und die Niederlage an der Front herbeizuführen. Riga war preisgegeben worden, unmittelbar nachdem der General Kornilow in aller Öffentlichkeit erklärt hatte: »Vielleicht ist Riga der Preis, den wir zahlen müssen, um das Land zum Bewusstsein seiner Pflicht zu bringen.«
Für Amerikaner mag es unglaublich klingen, dass der Klassenkampf sich dermaßen zuspitzen kann. Aber ich habe persönlich an der Nordfront mit Offizieren gesprochen, die offen den militärischen Zusammenbruch der Zusammenarbeit mit den Soldatenkomitees vorzogen. Der Sekretär der Petrograder Organisation der Kadettenpartei erzählte mir, dass der Zusammenbruch des ökonomischen Lebens des Landes ein Teil der Kampagne war, die die Revolution diskreditieren sollte. Ein Entente-Diplomat, dessen Namen ich zu verschweigen versprochen habe, bestätigte mir dies aus eigener Kenntnis. Ich weiß von gewissen Kohlenbergwerken in der Nähe von Charkow, die von ihren Besitzern in Brand gesteckt und unter Wasser gesetzt wurden, von Textilfabriken in Moskau, deren Ingenieure die Maschinen vor ihrer Flucht zerstört hatten, von hohen Eisenbahnbeamten, die von den Arbeitern dabei ertappt wurden, als sie die Lokomotiven zu zerstören im Begriff waren ... Ein großer Teil der besitzenden Klasse zog die Deutschen der Revolution vor – selbst der Provisorischen Regierung – und zögerte nicht, dies auszusprechen. In der russischen Familie, bei der ich wohnte, war der Gegenstand der Unterhaltung bei Tisch fast immer das Kommen der Deutschen, die »Ruhe und Ordnung« bringen würden ... Ich verlebte einmal einen Abend im Hause eines Moskauer Kaufmanns; beim Tee fragten wir die elf Personen am Tisch, wen sie vorzögen, »Wilhelm oder die Bolschewiki«. Zehn stimmten für Wilhelm ... Die Spekulanten nützten die allgemeine Desorganisierung aus, um Reichtümer anzuhäufen, die sie in phantastischen Schwelgereien vergeudeten oder dazu verwendeten, die Staatsbeamten zu bestechen. Lebensmittel und Brennmaterial wurden versteckt oder im Geheimen nach Schweden verkauft. In den ersten vier Monaten der Revolution beispielsweise wurden die Lebensmittelreserven fast in voller Öffentlichkeit aus den großen städtischen Speichern Petrograds geplündert, bis von den Getreidevorräten, die für zwei Jahre bestimmt waren, kaum genug übrig war, um die Stadt einen Monat lang zu versorgen ... Nach dem offiziellen Bericht des letzten Ernährungsministers in der Provisorischen Regierung wurde der Kaffee in Wladiwostok im Großeinkauf für zwei Rubel das Pfund gekauft, während die Konsumenten in Petrograd dreizehn Rubel zahlen mussten. In den Geschäften der großen Städte waren große Mengen an Lebensmitteln und Kleidung; aber nur die Reichen konnten sie kaufen.