Kitabı oku: «Ein Blick in die Schule und zwei dahinter», sayfa 2
2 Wie Karl zum Lesen kommt
Ich bin halt kein guter Leser. Mein Vater liest auch keine Bücher und der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, sagt der immer.»
Karl steht mit Jan vor dem grossen Plakat an der Wand, auf dem die Schülerinnen und Schüler der 3b die Bücher, die sie gelesen haben, eintragen: Für jedes dürfen sie ein kleines Buch aus Papier auf das Plakat kleben.
Auch Jan sieht, dass sein Lesepartner, mit dem er sich über die gelesenen Bücher austauschen soll, eigentlich nicht sehr viele Bücher aufgeklebt hat. Zwei sind es, um genau zu sein, während Jan schon sechs hat und Cord-Hendrik, der Klassenbeste, über zehn.
«Ich glaube, wenn du viel liest, dann wird das immer leichter», sagt Jan. «Bei mir war das so beim Fussball. Erst ging das gar nicht, mit dem Dribbeln, ich hab immer den Ball verloren, alle anderen waren immer besser. Aber ich hab trotzdem einfach weitergeübt, und je öfter ich es gemacht habe, umso leichter wurde es. Mein Trainer sagt immer: Wenn man sich anstrengt, wird man besser, egal worin.»
«Lesen und Fussball ist ja wohl auch ganz was anderes», sagt Karl mit hängenden Schultern.
Es klingelt und alle Kinder stürzen aus dem Raum, draussen scheint die Sonne und keiner will der Letzte sein, der nach dem langen Schultag ins Freie kommt. Frau Gomez, die Klassenlehrerin, sagt:
«Karl, wartest du kurz noch?»
«Ich hab doch gar nichts gemacht!»
Gomez lacht: «Ich weiss. Ich wollte dich nur kurz was fragen … Unsere Schule macht ja dieses Projekt mit dem Hort, da brauche ich noch wen …»
«Das mit den kleinen Kindern? Fussballspielen, immer dienstags? Klar, bin ich dabei.»
«Schon mit kleinen Kindern … aber ich meinte eher das Vorleseprojekt …»
«Lesen? Ich soll vorlesen? Nie und nimmer», ruft Karl und rennt aus dem Raum.
Doch am nächsten Freitag ist Karl im Hort: «Ich soll hier was vorlesen», sagt er zu Frau Weick, der Erzieherin. «Das ist toll, dass du hier bist, wir haben jede Woche mehr Kinder, die jemanden suchen, der ihnen vorliest.»
Vor Karl steht eine Gruppe von Erstklässlern, die alle ein Buch in der Hand halten. Schnell finden sich einige Pärchen von der letzten Woche zusammen. Die Hort-Kinder wissen genau, bis zu welcher Seite sie das letzte Mal gekommen sind, und schnell sind die Pärchen über den Raum verteilt und lesen in ihren Büchern. Karl steht noch da und sieht ratlos zu Frau Weick.
«Komm, Karl, guck mal, da ist Lukas, der hat noch keinen festen Partner.» Sie wendet sich um: «Lukas, komm mal her, hier ist Karl, der kann dir vorlesen.»
«Ich wollte doch erst mal nur gucken, ich kann doch gar nicht so gut lesen …», will Karl sagen, aber da steht Lukas vor ihm. Das Buch an seine Brust gepresst, die Arme verschränkt, guckt er ihn von unten an: «Das Buch geht um eine kleine Ente ...» Er schlägt das Buch auf und zeigt ein Bild von einer Ente. «Ich will, dass du mir vorliest, ich will gern wissen, wie das weitergeht.»
Und ehe Karl es sich versieht, sitzt er mit Lukas auf einem Sofa zwischen den anderen Lesepaaren und hat das Buch in der Hand. Ihm ist heiss, sein Mund ist trocken, er weiss nicht, was er tun soll. Aber Lukas drückt ihm das Buch in die Hand und schlägt es auf der ersten Seite auf: «Guck mal, hier ist die Entenmutter, die sitzt da auf den Eiern, hier sind die kleinen Enten schon da und hier, auf der nächsten Seite, da gehen alle zum Wasser.» Jetzt drückt er das Buch Karl in den Schoss und wieder macht er diese grossen Augen. Karl hält das Buch in der Hand, er schwitzt, hat Angst, die Seiten zu durchfeuchten. Immerhin, die Buchstaben sind gross, es ist viel Abstand zwischen den Zeilen und er erinnert sich, dass er das Buch auch zu Hause hat. Ein Glücksfall, ein Zufall, es könnte also vielleicht tatsächlich klappen. «Er fängt an: Die … die Ente … die Ente lapft, nee, die Ent läuft …» Schweiss rinnt ihm den Rücken runter und er schielt zu Lukas, ganz in der Erwartung, dass er anfängt zu lachen oder einfach aufsteht und geht. Aber nein, Lukas schaut in das Buch und ist er nicht sogar etwas näher gerutscht? «… zum Teich mit … seiner … mit seiner Mama.» Lukas blättert um, strahlt und sagt: «Weiter.» Und Karl liest weiter. Auch das Klingeln unterbricht die beiden nicht, so versunken sind sie in das Buch über die kleine Ente.
Die Woche danach ist Karl wieder da und er liest Lukas vor, ebenso wie die Woche danach, die beiden finden sich und ohne viele Worte sitzen sie in der Ecke und lesen. Karl hat sich für heute extra ein Buch von seinem älteren Freund geliehen, das deutlich mehr Text als Bilder hat. Einige Zeit später spricht Frau Gomez Karl nach dem Unterricht an: «Sag mal, ich hab gehört, dass du dem Lukas jetzt immer vorliest.»
«Ja», ist alles, was Karl sagt.
«Und, wie läuft das?», will sie weiter wissen.
«Ach, gut.»
«Und was lest ihr so?»
«Zuerst haben wir was über eine Ente gelesen oder was Lukas so wollte, aber jetzt lesen wir ein Buch über sechs Kinder, die immer so Abenteuer erleben. Das heisst ‹Die Kinder aus Kullerküh› oder so ähnlich. Das ist ganz spannend.»
Frau Gomez staunt nicht schlecht. Ein Buch mit wenig Bildern, vielen Seiten, das hätte sie nicht gedacht: «Das ist ja toll. Aber ist das nicht ziemlich lang?»
«Ach, wir machen das einfach Stück für Stück und wir gucken uns ja auch die Bilder an, wenn wir eine Pause brauchen. Aber ich hab das Gefühl, es geht jedes Mal irgendwie leichter, je öfter wir das machen», sagt er und lächelt.
«Wenn du willst, kannst du die Bücher auf das Plakat eintragen.»
Karl hält einen Moment inne: «Och nö, die lese ich ja im Hort. Das zählt ja nicht.» Er zögert einen Moment. «Aber ich lese da gerade zu Hause so ein Buch von Harry Potter, wenn wir das vielleicht dahinschreiben können? Das ist auch so richtig dick.»
Was dahintersteckt
Cord-Hendrik, der Klassenbeste aus der 3b, hat schon über zehn Bücher für die Leserallye gelesen. Jan hat sechs. Karl nur zwei. «Ich bin kein guter Leser», meint er. Jan dagegen ist überzeugt, dass man das selbst in der Hand hat: «Wenn man sich anstrengt, wird man besser, egal worin.» Karl widerspricht: «Lesen ist nichts für mich und da ändert sich auch nichts dran.»
Nach Karls «Ich-bin-so»-Überzeugung stammt Erfolg von Dingen, die er – Pech gehabt – leider nicht mitbekommen hat. Karl hat kein Talent fürs Lesen. Sein Vater hat ja auch keines. Nach Jans «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung ist Erfolg dagegen eine Frage der Anstrengung.
Es geht hier gar nicht darum, wer von beiden zu welchem Teil recht hat. Es geht um etwas Spannenderes. Darum, was passiert, wenn man das eine oder das andere glaubt. Wissenschaftler um Carol Dweck von der Stanford Universität untersuchten die Wirkung dieser Überzeugungen. Was passiert, wenn jemand glaubt, dass Erfolg mit Anstrengung zu tun habe? Und was passiert, wenn jemand das nicht glaubt?
Amerikanische Schüler wurden nach solchen Überzeugungen gefragt. Manche meinten, dass man ein bestimmtes Mass an Intelligenz habe und nichts tun könne, um das zu ändern. Das waren die Karls. Andere meinten, jeder Mensch könne im Laufe seines Lebens schlauer werden. Das waren die Jans. Die Schüler wurden weiter befragt. Dachten sie, je mehr man sich anstrenge, desto besser werde man auch? Oder eher, wenn du in irgendetwas nicht gut bist, hilft es auch nichts, sich anzustrengen? Wie reagierten sie auf schulische Misserfolge? Dachten sie, «ich bin eben nicht gut», und nahmen sie sich vor, beim nächsten Mal einfach zu schummeln? Oder glaubten sie, dass sie sich mehr anstrengen und beim nächsten Mal besser vorbereiten müssten?
Die Studie begleitete die Schüler durch das siebte und achte Schuljahr und sammelte ihre Mathenoten. Die Jans in dieser Studie, d. h. diejenigen mit der «Ich-hab’s-in-der-Hand-Überzeugung», konnten ihre Mathenote stetig verbessern. Die Karls jedoch nicht. Wieso? Die «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung ging mit dem Glauben einher, dass sich Anstrengung lohne. Deshalb führte Misserfolg nicht zu Hilflosigkeit («Ich bin halt nicht gut.»). Er führte sogar zu positiven Strategien («Beim nächsten Mal bereite ich mich besser vor.»). Mit diesen Strategien stiegen auch die Leistungen in Mathematik über die Monate hinweg. Bei den Jans. Aber nicht bei den Karls in dieser Studie.
In einer zweiten Studie nahmen sich die Forscher die schlechten Matheschüler vor. Der Hälfte von ihnen erzählten sie, dass man immer schlauer werden könne. Sie versuchten den Schülern eine «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung zu vermitteln. Die andere Hälfte – die Kontrollgruppe – bekam in derselben Zeit ein Gedächtnistraining. Was passierte? Die Kontrollgruppe veränderte ihre Überzeugungen nicht. Warum auch? Aber die Versuchsgruppe veränderte sich hin zu «Ich hab’s in der Hand». Und mit dieser Änderung verbesserten sich auch die Mathenoten im nächsten Schulhalbjahr. Eine Schülerin, die immer zu den schlechteren zählte, nutzte unaufgefordert die Mittagspausen für Matheübungen. Die nächste Mathearbeit bestand sie mit Bravour statt wie sonst mit ungenügend. Sie merkte, dass sie es tatsächlich in der Hand hatte, wie gut sie in Mathe wurde.
Wie gelang es, Schüler vom «Ich-hab’s-in-der-Hand» zu überzeugen? Zum einen half ein Text über das Gehirn, das mit einem Muskel verglichen wurde, der sich durch Übung entwickelt. Zum anderen half ein Blick in die eigene Biografie. Die Schüler erinnerten sich an Situationen, in denen sie etwas schliesslich richtig gut konnten, weil sie viel geübt hatten. Sie dachten daran zurück, wie sie immer besser wurden und dass Fehler zum Besserwerden dazugehören. Damit wurde ihnen klar: Man hat es in der eigenen Hand, ob man etwas kann oder nicht. Das Programm umfasste insgesamt acht 25-minütige Unterrichtseinheiten. Nur vier davon unterschieden sich in der Versuchs- und der Kontrollgruppe. Erstaunlich, wie schnell den Schülern eine «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung vermittelt wurde. Doch das geht sogar noch schneller. Zum Beispiel durch Lob.
Für ein Experiment sollten Fünftklässler ein relativ leichtes Aufgabenblatt lösen. Dafür wurden sie gelobt. Die einen bekamen ein Lob, das sich auf «Du bist so» bezog: «Du bist ja richtig schlau!» Die anderen wurden für ihre Anstrengung gelobt: «Du hast dich richtig gut angestrengt!» Dieses zweite Lob vermittelte damit: «Du hast es in der Hand». Das nächste Aufgabenblatt war absichtlich schwierig. Erwartungsgemäss taten sich die Schüler schwer damit. Die unterschiedlichen Überzeugungen entfalten vor allem dann ihre Wirkung, wenn es schwer wird oder gar ein Misserfolg verdaut werden muss. Das kann sein, wenn es schlechte Noten hagelt, bei einem neuen Thema, einem anderen Lehrer oder beim Übergang in eine weiterführende Schule. Im Experiment traten die Unterschiede bei den schwierigen Aufgaben zutage: Schüler, die in Richtung «Du hast es in der Hand» gelobt wurden, führten ihr schlechteres Abschneiden auf zu wenig Anstrengung zurück. Ihnen fiel es leichter, an der Aufgabe dranzubleiben, auch wenn es schwierig wurde. Sie freuten sich sogar über schwierige Aufgaben und interessierten sich dafür, wie sie noch besser werden könnten. Zum Abschluss des Experiments bekamen die Schüler wieder ein leichtes Aufgabenblatt. Und wieder zeigten sich Unterschiede: Wer ein «Du-hast-es-in-der-Hand»-Lob bekommen hatte, verbesserte sich gegenüber der ersten Aufgabenserie. Wer für unveränderliche und unbeeinflussbare Eigenschaften («Du bist so»/»Du bist ja richtig schlau!») gelobt worden war, war nicht mehr so gut wie anfangs. Möglicherweise behinderten ihn Selbstzweifel: «Vielleicht gehöre ich ja doch nicht zu den Schlauen?» (vgl. Kap. 1).
Was bedeutet das für Lehrkräfte? Zum einen, dass Frau Gomez die richtige Idee hatte, die Karl dazu brachte sich anzustrengen. Zum anderen zeigt diese Studie, wie leicht mit Feedback Anstrengung untergraben werden kann.
Wer eine Arbeit mit den Worten wiedergibt: «Der Test ist durchschnittlich ausgefallen, ausser bei denjenigen, die immer danebenhauen, und denen, die’s sowieso können», zementiert den Status quo und untergräbt zukünftige Anstrengung. Wenn ein Schüler hört: «Sowas Dummes wie du!», wird er sich kaum anstrengen. Es ist ja ohnehin sinnlos. Auch wenn ein Schüler hört: «Cord-Hendrik, der kann’s einfach!», heisst das für alle: «Können gibt es ohne Anstrengung.»
Dabei müssen sich selbst Genies anstrengen, um gut zu sein und besser zu werden. Schüler, die von den Anstrengungen berühmter Wissenschaftler lesen, verbessern ihre Leistungen in den Naturwissenschaften eher, als wenn sie nur von deren herausragenden Leistungen wissen. Wer glaubt, dass es für Naturwissenschaften ein aussergewöhnliches Talent braucht, wirft auf Durststrecken die Flinte ins Korn. Wer weiss, dass es auch Genies schwer haben, sieht Schwierigkeiten und Anstrengung als normal an und nicht als Zeichen mangelnden Talents.
Die «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung (oder auf Englisch: growth mindset) hat nach Carol Dweck drei Vorteile:
Schüler verwenden weniger Aufwand auf das Erscheinungsbild. Wer glaubt, besser werden zu können, versucht, besser zu werden.
Schüler glauben, dass sich Anstrengung lohnt. Anders diejenigen mit der «Ich-bin-so»-Überzeugung (fixed mindset): Sie meinen, wer sich anstrengen muss, habe kein Talent. Oder umgekehrt: Wer Talent hat, brauche sich nicht anzustrengen.
Schüler verstehen, dass Fehler zum Lernen dazugehören. Sie werden als Lerngelegenheiten angesehen und nicht als Zeichen mangelnder Fähigkeiten.
Schüler mit der «Ich-bin-so»-Überzeugung tendieren bei Misserfolg zu Hilflosigkeit oder zum Vertuschen. Sie vermeiden Situationen, in denen ihre Leistung auf dem Prüfstand steht. Karl hat sich nicht um das Vorleseprojekt gerissen. Schüler mit dieser Einstellung sind auch nicht sonderlich motiviert. Motiviert sind vor allem die, die meinen, dass sie besser werden, wenn sie sich anstrengen. Diese «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Überzeugung ist eine wichtige Voraussetzung, um aus Lerngelegenheiten tatsächlich zu lernen. Beim Lesen. In Mathe. Oder im Fussball. Karl hat das für sich zum Glück noch entdeckt.
Zum Nach- und Weiterlesen
Die Beschreibung des Experiments zum Lob: Unterschiedliches Lob führte zu unterschiedlicher Anstrengung und Leistung. Der Artikel enthält noch weitere Variationen der Experimente zum Thema.
Mueller, C. M. & Dweck, C. S. (1998). Praise for intelligence can undermine children’s motivation and performance. Journal of Personality and Social Psychology, 75(1), 33–52.
Die Längsschnittstudie, die die Überzeugungen von Siebtklässlern erfasste und die Entwicklung ihrer Mathenoten in Abhängigkeit davon dokumentierte. Ein zweiter Teil beschreibt die Effekte der «Ich-hab’s-in-der-Hand»-Intervention bei schwachen Schülern. Mit der Überzeugung stiegen auch ihre Noten:
Blackwell, L. S., Trzesniewski, K. H., & Dweck, C. S. (2007). Implicit theories of intelligence predict achievement across an adolescent transition: A longitudinal study and an intervention. Child Development, 78(1), 246–263.
Ein 2014 aufgenommenes Video aus der Serie der TED Talks von Carol Dweck, in dem sie ihre Forschungsergebnisse und Implikationen daraus vorstellt:
https://www.ted.com/talks/carol_dweck_the_power_of_believing_that_you_can_improve
Ein Artikel, den Carol Dweck für Lehrkräfte geschrieben hat. Hier fasst sie ihre Forschungsergebnisse zusammen und beschreibt, was sie für die Praxis bedeuten.
Dweck, C. S. (2007). Boosting achievement with messages that motivate. Education Canada, 47(2), 6–10.
Die Studie, die zeigte, dass Schüler besser in den Naturwissenschaften wurden, wenn sie auch von den Problemen und nicht nur von den Errungenschaften grosser Wissenschaftler lasen.
Lin-Siegler, X., Ahn, J. N., Chen, J., Fang, F.-F. A., & Luna-Lucero, M. (2016). Even Einstein Struggled: Effects of Learning About Great Scientists’ Struggles on High School Students’ Motivation to Learn Science. Journal of Educational Psychology, 108(3), 314–328.
Lehrersprüche mit psychohygienischer Funktion, die allerdings «Ich-bin-so»-Überzeugungen in Schülern zementieren und damit zukünftige Anstrengung torpedieren:
«Sowas Dummes wie euch hatte ich noch nie in meinem Lehrerleben!»
«Wir schreiben einen Test. Wer spickt, kriegt sofort 'ne Sechs. Alle anderen ein bisschen später.»
Schüler: «Ich raff das nicht!» Lehrer: «Ja, du bist ja auch ein Idiot.»
3 Was Walid noch zum Schulerfolg fehlt
Ich mache das nicht. Ich hasse Schule!»
«Was würdest du denn lieber machen, wenn du die Schule so hasst?», fragt Herr Goeke in der Hoffnung, ein bisschen Ursachenforschung betreiben zu können.
«Ich will nach Hause gehen. X-Box spielen. Grand Theft Auto. Das ist ab 18. Und wenn ich damit fertig bin, dann will ich noch etwas Computer spielen.»
Es ist kurz vor 15 Uhr und Goeke sitzt mit drei Schülern aus der 2C vor dem Theaterraum. Ein Fenster im Flur ist offen, es lässt sich nur mit einem speziellen Schlüssel schliessen. Die kalte Winterluft zieht herein und Goeke fragt sich, was er eigentlich hier macht. Zusammen mit ihm sitzen hier Walid, Wojciech und Salim, die eigentlich im Theater-Kurs sein sollten. Aber sie haben absichtlich derart gestört, dass Goeke und seine Kollegin sie aus dem Theaterraum hinausschicken mussten. Denn sie haben den anderen Schülerinnen und Schülern einfach keine Chance gelassen, dem Kurs zu folgen. Alle drei rannten schreiend durch den Raum, liefen immer wieder zu dem grossen Flügel und hauten auf die Tasten oder schubsten ihre Mitschüler, die versuchten dem Unterricht zu folgen. Goeke fragt sich, was diese drei Schüler in ihrem Leben schon erlebt haben, dass sie hier ihre Mitschüler und den Kurs absichtlich stören.
«Meine Eltern hasse ich auch. Und die Schule auch. Ich geh sowieso bald auf eine andere Schule!», schreit Walid. Die anderen beiden johlen vor Begeisterung.
«Kommt von euren Eltern denn jemand nächste Woche zum Elterncafé?», fragt der Lehrer und versucht, sich von Walids Äusserung nicht zu sehr beeindrucken zu lassen.
«Keiner. Da kommt keiner!», schreit Walid ihm ins Ohr. Gleichzeitig legt er beide Arme um Goekes Hals und will sich ankuscheln. Aber der entwindet sich dieser Umarmung und blickt Wojciech fragend an.
«Guck mal. Pass mal auf», sagt jetzt Wojciech und während er sich auf seinen Stuhl zurückwirft, gelingt ihm ein Rülpser, der gute fünf Sekunden lang ist, was die anderen beiden mit Begeisterung quittieren.
«Wojciech, ganz ehrlich, das geht gar nicht, was du hier machst», antwortet Goeke ihm. Von drinnen hört er das Lachen der anderen Kinder, die gerade im Kurs seiner Kollegin Theaterspiele machen.
Er fragt sich, was er jetzt tun kann. Alle drei haben schon im Kurs alles getan, um negative Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, die sie dann ja auch bekommen haben. Gerade von Wojciech ist er enttäuscht. Er kommt aus Polen, ist noch nicht so lange hier, hat Schwierigkeiten mit der Sprache und dadurch mit seiner Position in der Klasse. Aber gerade in den letzten Stunden hatten sie – zumindest hat er das gedacht – so etwas wie einen Draht zueinander gefunden. Wojciech war begeistert, dass Goeke ein paar Worte seiner Sprache beherrscht. Salim wirkt einfach wie abgeschaltet und findet alles doof, egal was, und verleiht seiner Meinung kräftig Ausdruck. Walid schwankt immer zwischen einem absolut destruktiven Verhalten, das auch die Lehrpersonen zur Verzweiflung treibt, und dem Wunsch zu kuscheln. Dann sagt er Sätze wie: «Ich wünschte, du wärst mein Papa!» Bei allen dreien kann Goeke sich zwar das Verhalten erklären, bloss was macht er damit? Wenn sie einen Schüler aus dem Kurs nehmen, dann doch mit dem Ziel, ihn möglichst bald und möglichst motiviert wieder dorthin zurückzuschicken, damit er weitermachen kann. In der Regel gelingt das auch: In der Zeit, die er mit diesen drei Schülern hier verbrachte, sind vier andere auch aus dem Raum geschickt worden, nach einem kurzen Gespräch aber wieder in den Kurs zurückgekehrt, um weitermitzumachen.
Die drei belauern Goeke, Wojciech hat seine Aktivitäten weitgehend eingestellt, Salim ruft nur, dass alles doof sei, und Walid gelingt es, eine maximale Lautstärke zu erzeugen, indem er mit seinem Stuhl auf den Fliesen herumrutscht. Goeke beobachtet im Gegenzug die drei Schüler. Es ist fast wie beim Mikado: Wer sich zuerst bewegt, hat verloren. Auf der Suche nach neuen Möglichkeiten durchstöbern die drei jetzt ihre Taschen und Wojciech zieht aus seinem Schneeanzug eine kleine Sanduhr, in der gelber Sand läuft. Er hält sie erst sich, dann Goeke direkt ins Gesicht.
«Die hat er heute unserer Lehrerin geklaut», erklärt Salim stolz. Goeke lässt sich nichts anmerken, denn es geht hier nicht um irgendwelche Sanduhren, sondern vielmehr um die Frage: «Was wird mit diesen drei Schülern in ein paar Jahren, wenn sich nicht etwas ganz drastisch in ihrem Leben ändert?» Ihnen ist nicht bewusst, dass sie im Vergleich zu Altersgenossen aus anderen Familien schon jetzt kaum noch eine Chance haben. Ihr Sozialverhalten ist um Jahre zurück, aus welchen Gründen auch immer. Gerade bei Walid beobachtet Goeke immer wieder Verhaltensweisen, die er sonst nur von seiner dreijährigen Tochter und ihren Freunden kennt.
«Guck mal. Sanduhr!» Wie ein Magier in einem Hollywoodfilm dreht Wojciech diese gelbe Sanduhr immer wieder direkt vor Goekes Gesicht. Der Sand kann so nicht von einer Kammer in die andere laufen, er läuft immer nur ein bisschen, dann dreht sich die Sanduhr und er rieselt wieder ein bisschen zurück. Sanduhr und sein Gesicht trennen maximal zwei Zentimeter. Und so wie der Sand kommen ihm auch die drei Jungen vor, sie sind erst acht Jahre alt und stecken schon so fest, dass man kaum noch sagen kann, in welche Richtung vorwärts oder rückwärts wäre.
«Ich wette», flüstert Goeke auf einmal, «dass ihr es nicht schafft, so lange ganz still zu sein, bis der Sand einmal ganz durchgelaufen ist.» Seine Tochter und ihre Freunde fallen auf diesen Trick herein – einen Versuch ist es also allemal wert. Und gerade das Flüstern scheint dazu zu führen, dass sie auf einmal zuhören. Durch Handzeichen und Blicke verständigen sie sich blitzartig und auf einmal sitzen sie kerzengerade auf ihrem Stuhl, pressen die Hände vor den Mund und nur Wojciech hält die Sanduhr weiter in Goekes Gesicht – jetzt aber nicht mehr so nah, dass es unangenehm ist, sondern so, dass er sie gut sehen kann. Der gelbe Sand rieselt und das Einzige, was man jetzt hört, sind die Geräusche aus dem Theaterraum hinter ihnen. Ansonsten herrscht auf einmal Mucksmäuschenstille. Es ist so still, dass man den Winterwind durch das Fenster pfeifen hört. Goekes linke, dem Fenster zugewandte Seite ist schon viel zu kalt, aber auch er bewegt sich nicht, wagt kaum zu atmen. Und es ist unglaublich, der Sand rieselt durch, sie schaffen es und, was ihn am meisten überrascht, die Stille bleibt. Drei Augenpaare schauen ihn an, gespannt, was jetzt passiert.
«Ich gratuliere euch! Ehrlich, ich hätte nicht gedacht, dass ihr das wirklich schafft.» Goeke schüttelt allen dreien die Hand und freut sich mit ihnen über ihren so grossen Erfolg. Aber jetzt darf keine Lücke entstehen, sonst ist es mit dem Wunder schnell wieder vorbei. Er beugt sich vor und auch die drei strecken ihre Köpfe vor, sodass sie einander ganz nah sind. «Das war wirklich grossartig, ich danke euch, ihr habt mich wirklich beeindruckt. Lasst uns noch eine Sache ausprobieren.» Still schauen sie ihn an. «Lasst uns zusammen bis 12 zählen. Wir sagen abwechselnd immer die nächste Zahl, und wenn zwei gleichzeitig sprechen, fangen wir von vorne an.» Was so einfach klingt, erfordert grosse Konzentration, und es ist wichtig, aufeinander zu achten, sodass immer nur einer spricht. Schon ganz andere Gruppen sind an dieser Übung gescheitert. Aber die Magie hält weiter an und die drei sind für weitere fünf Minuten höchst konzentriert dabei, die Übung zu machen – und sie schaffen es. «Ihr habt das wunderbar gemacht. Wirklich grossartig. Könnt ihr mir sagen, worauf es bei dieser Übung ankommt?» «Man muss aufeinander hören», sagt Walid. «Man muss aufpassen, dass man nichts sagt, wenn schon ein anderer was sagt», ergänzt Wojciech. Und Salim bringt es auf den Punkt: «Man muss auf die anderen achten, muss Rücksicht nehmen, wir können das nur zusammen schaffen.»
Im Anschluss gelingt es ihnen noch, in nur zehn Minuten eine Choreografie auf die Beine zu stellen, in der sie in den drei Muttersprachen Polnisch, Arabisch und Urdu mit dem Satz «Heute ist ein schöner Tag» arbeiten. Dazu bewegen sie sich rhythmisch und zusammen. Sie leisten heute Unglaubliches. Es gelingt ihnen sogar, diese Choreografie später vor der gesamten Gruppe vorzuführen – und sie ernten Applaus. Positive Anerkennung, das erste Mal seit langer Zeit.
Zurück bleibt Goeke mit der Frage: Wenn dieser kleine Moment der Achtsamkeit, der Aufmerksamkeit der Kinder für sich selbst so viel bewegen kann – was wäre, wenn es ihm öfter gelänge, dieses Gefühl der Achtsamkeit bei den Kindern herzustellen?
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