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II. Taulers Nachwirken

Taulers Predigten begründeten sein späteres Nachwirken bis ins 19. Jahrhundert hinein. Doch es fanden sich nicht nur Freunde, sondern auch Gegner. So ordnete beispielsweise der Ordensgeneral der Jesuiten, Mercurian, 1578/79 an, die Werke von Tauler dürften nicht ohne Erlaubnis gelesen werden, da sie dem Geist des Ordens nicht entsprächen.72 Der Grund hierfür liegt gewiss auch darin, dass Tauler in die Auseinandersetzung zwischen Protestantismus und Katholizismus geraten war. Da Tauler von Martin Luther (1483 – 1546) hoch geschätzt wurde, gewann er auch im Protestantismus an Bedeutung.73 Über seinen Ordensbruder Johannes Lang lernte Luther Taulers Predigten vermutlich 1515 kennen.

„Besonders in den entscheidenden Jahren der Neuorientierung seiner Theologie beschäftigte sich Luther mit den Predigten Taulers. Luther erwähnt Tauler seit 1515/16 bis in die dreißiger Jahre, besonders häufig und stets ohne Kritik zwischen 1516 und 152274

Der Ingolstädter Theologe Johannes Eck (1486 – 1543), der zunächst mit Luther brieflich befreundet war, dann zu seinem Gegner wurde75, ging 1518 in seiner Kritik an Luther auch auf Tauler ein. So wundert er sich, dass Luther einen in der Kirche unbekannten Prediger Gelehrten wie Thomas, Bonaventura und Alexander Halensis vorziehe.76 Tauler sei, wie Eck noch in einer Schrift von 1523 bemerkt, ein Träumer, der die von Luther aufgegriffenen Häresien verteidige.77 Martin Luther antwortete Eck in einem Brief vom 7. Januar 1519. Darin fordert er von Eck:

„Ich bitte Dich aber, bevor du ihn als [Träumer] bezeichnest, ihn selbst zu lesen. …Siehst du denn nicht, wie Du Dir Dinge, über die Du nicht nachgedacht hast, anzumaßen und sie zu verurteilen pflegst? … Bedenke, wie mir nicht unbekannt war, dass jener in Deiner Kirche unbekannt ist, als ich sagte, er werde in den öffentlichen Schulen nicht behandelt und sei nicht in lateinischer Sprache abgefasst; aus welchem Grund ich ihn dann den Scholastikern vorgezogen habe, weil ich nämlich bei ihm mehr gelernt habe als bei allen anderen. … Lies zuerst, damit man in Dir nicht einen inkonsequenten Richter sieht, der verdammt, was er nicht kennt. Und um nichts zu fordern, was über Deine Kräfte hinausgeht, mache ich mir keine Hoffnung, dass Du beim Zusammenkehren aller Deiner Scholastiker im Einzelnen auch nur einen Sermon zustandebringst, der diesem einen ähnlich ist. Ich fordere es nicht, weil ich dessen gewiss bin, dass Dir das unmöglich ist. Mit dem einen aber möchte ich Dich herausfordern: Strenge alle Deine Geisteskräfte an zusammen mit Deinem Vorrat an scholastischer Gelehrsamkeit, und zwar ganz, ob Du auch nur einen oder einen anderen Sermon dieses Mannes angemessen verstehen kannst. Danach werden wir überzeugt sein, dass jener für Dich zwar kein [Träumer] ist, Du aber ein Nachtwächter bist oder besser einer, der mit offenen Augen schläft.“78

Gegen Eck nahm auch der Benediktinerabt Ludovicus Blosius (+1566)79 Johannes Tauler in Schutz und verteidigte ihn 1551 in seiner „Apologia pro Ioanne Thaulero“, die der Neuauflage der lateinischen Surius-Taulerausgabe (Erstdruck 1548) sodann vorangestellt worden war.80 Die Apologie konzentriert sich auf drei Punkte:

„Auf die geistliche Ekstase und den dadurch gefährdeten kirchlichen Gehorsam, … die verbotene Lehre der Begarden [gemeint sind die „Brüder und Schwestern vom freien Geist“] und … die klösterliche Observanz.“81

Luthers Wertschätzung für Tauler ist nicht bloß für Luthers Theologie von Bedeutung geworden, sondern auch für die Spiritualität innerhalb der Reformation, insbesondere für den linken Flügel:

„Spiritualisten wie Karlstadt, Hans Denck und Thomas Müntzer haben Taulers Botschaft von der Einigung der Seele mit Gott und der Nachfolge ins bittere Leiden Christi begierig aufgenommen; und bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gehörten Taulers Predigten zur beliebtesten Andachtslektüre sowohl im Luthertum wie im Katholizismus. … Dieses außerordentliche Faktum der Spiritualitätsgeschichte hat seinen Ursprung in der Beschäftigung Luthers mit Tauler.“82

1565 erschien schließlich die erste Taulerausgabe, die nur für protestantische Leser bestimmt war.83 Diese und die folgenden Ausgaben (1588 und 1593 in den Niederlanden) wurden jedoch erheblich verändert, wie Hoenen nachweisen kann:

„So zeigt sich klar, dass genau die Punkte, die der katholischen Kirche zum Vorwurf gemacht wurden, wie die Lehre der Sakramente, vor allem der Messe und der Beichte, das Klosterleben und die Rolle der Theologie, aus den Predigten getilgt worden sind.“84

Im Gegenzug brachte der Karmeliter Carolus a St. Anastasio 1660 eine Edition für katholische Gläubige heraus, in welcher er Tauler einen „katholischen Lehrer“ nennt.85 Die Bedeutung, die Tauler für Luther und für weite Kreise des Protestantismus einnahm, war vermutlich auch einer der Gründe, warum Taulers Predigten und die ihm zugesprochenen Schriften schließlich ab 1590 durch einen Entscheid Papst Sixtus´ V. auf dem Römischen Index standen.86 Das alles tat der Popularität Taulers jedoch keinen Abbruch, wie die Geschichte der Forschung, der Überlieferung und Drucktradierung der Predigten zeigt.87

1 Zu Leben und Lebenswelt Johannes Taulers Siehe vor allem McGinn 2008, 41 – 502; Gnädinger 1993, 9 – 103; Ruh 1996, 476 – 485; Scheeben 1961, 19 – 74.

2 Vgl. Gnädinger 1993, 9 – 12.

3 Vgl. Gnädinger 1993, 22; Filthaut 1961, 97ff.

4 Vgl. Gnädinger 1993, 18 – 22.

5 Vgl. Eisermann 1992 (BBKL Bd. III), Sp. 574f.

6 Zahlreiche exegetische Werke sind verloren. Erhalten ist ein Commentarius in IV libros sententiarum sowie Quaestiones quodlibetales. Herausgegeben ist nur ein Abschnitt aus dem Sentenzenkommentar: Die Lehre des Johannes Theutonikus O.Pr. über den Unterschied von Wesenheit und Dasein (Cod Vatic. Lat. 1092), hg. von Martin Grabmann, in: Jb. f. Philosophie und spekulative Theologie 17, 1903,43 – 51; Quaestio ‚Utrum anima intellectiva sit forma corporis’, hg, von Artur Landgraf, in: DTh 4, 1926, 473 – 480; eine weitere Quaestio wurde von Martin Grabmann herausgegeben: MGLI, 395f. Vgl. Eisermann 1992 (BBKLBd. III), Sp. 575.

7 Siehe hierzu zweiter Teil.

8 Vgl. Gnädinger 1993, 20; RUH 1996, 478; Filthaut 1961, 94ff., 111 – 116.

9 Vgl. Hillenbrand 1997, 151 – 173; Langer 1997, 180f.

10 V 15, 69,36 (H 15a).

11 Vgl. Gnädinger 1993, 21; Ruh 1996, 479.

12 Vgl. Gnädinger 1993, 21f.

13 Vgl. Gnädinger 1993, 27, 65.

14 Vgl. Zekorn 1993, 28.

15 Vgl. Gnädinger 1993, 29f.

16 Siehe hierzu erster Teil, sechstes Kapitel.

17 Vgl. Gnädinger 1993, 67.

18 Siehe hierzu u.a. erster Teil, viertes Kapitel; zweiter Teil, viertes Kapitel.

19 Vgl. Gnädinger 1993, 65. Sehr deutlich wird das in der Verurteilung des freigeistigen Gedankenguts in der Konsititution „Ad nostrom qui“ des Konzils von Vienne 1312, in der Beginen und Freigeistige gleichgesetzt werden: DH Nr. 891 – 899, 388f.

20 Vgl. Gnädinger 1993, 66.

21 Vgl. V 44, 193, 16 – 19 (H 49).

22 V 60b, 287, 25 – 29 (H 18); vgl. V 36, 138, 1 – 10.

23 Vgl. Ruh 1996, 479; Prieur 1983, 421f.

24 Vgl. Strauch 1966, Brief LI, 263, 83.

25 Strauch 1966, 1 – 166.

26 Vgl. Gnädinger 1993, 96 – 103; RAPP 1994, 55 – 62. Zu Tauler und den Gottesfreunden Siehe u.a. dritter Teil, achtes Kapitel.

27 Als Schriften Merswins gelten: Sieben bisher unveröffentlichte Traktate und Lektionen, hrsg. Strauch 1927; Rulman Merswins Buch von den vier Jahren seines anfangenden Lebens, Des Gottesfreundes Fünfmannenbuch, hrsg. Strauch 1927, 1 – 27, 28 – 82; Merswins Neun-Felsen-Buch. Das sogenannte Autograph, hrsg. Strauch 1929.

28 Vgl. Gnädinger 1993, 87f.

29 Benedikt XII. (1334 – 1342), Clemens VI. (1342 – 1352).

30 Vgl. Hillenbrand 1997, 163 – 166; Gnädinger 1993, 30 – 33.

31 Dabei handelt es sich um die Hs. 277 der Stiftsbibliothek Einsiedeln, Bl. 221, a - b (vgl. Stammler 1961, 75f.).

32 Stammler 1961, 75.

33 Zu Tauler und Ruusbroec vgl. u.a. Ruh 1999, 20ff.; Ders. 1996, 481; Hoenen 1994, 398ff.

34 Vgl. Gnädinger 1993, 71 – 77.

35 Vgl. Gnädinger 2000, 81 – 84; Dies. 1993, 79 – 86.

36 Vgl. auch Hillenbrand 1997, 151 – 173; Gnädinger 1993, 22 – 27; Scheeben 1961, 37 – 74.

37 St. Markus, St. Agnes, St. Elisabeth, St. Johann, St. Katharina, St. Margareta und St. Nikolaus.

38 Vgl. Scheeben 1961, 37ff.

39 Vgl. Gnädinger 1993, 23.

40 Vgl. Scheeben 1961, 56f.

41 Vgl. Scheeben 1961, 42 – 50. 60 – 69.

42 Vgl. Monumenta Ordinis Praedicatorum Historica IV, 1899, 130 I. 23-28: „Wir verordnen, dass die Provinzialprioren in den Fällen, wo sie bei Visitationen Konvente feststellen, die Mangel an Lebensmitteln leiden, sich bemühen, aus dem Überfluss reicher Brüder im Wege des Darlehens oder Geschenkes Geld flüssig machen, um diesem Mangel abzuhelfen.“ Vgl. Gnädinger 1993, 23; Scheeben 1961, 66.

43 Vgl. Gnädinger 1993, 23f.; Scheeben 1961, 66f.

44 Meyer, Johannes: Chronica brevis Ordinis Preadicatorum (Zit. n. Scheeben 1961, 72); Vgl. Scheeben 1961, 72ff; Gnädinger 1993, 24.

45 In den Straßburger Urkunden findet sich der Familienname Taulers in verschiedener Schreibweise: Tauller, Taweler, Tauweler, Thauler, Thaler (vgl. Gnädinger 1993, 10).

46 Vgl. Gnädinger 1993, 25. 55136.

47 V 56, 261,27ff. (H 70). Vgl. V 56, 261,18 – 26 (H 70).

48 Vgl. Gnädinger 1993, 26; Trusen 1988, 62ff.; Scheeben 1961, 69.

49 Vgl. Gnädinger 1993, 26.

50 Siehe hierzu: Borst 2007, 528 – 563.

51 Fritsche Closener, Straßburgische Chronik, Hrsg. von A.W. Strobel, Stuttgart 1842, 113 (Bibliothek des Litterarischen Vereins in Stuttgart, I). Vgl. Gnädinger 1993, 44.

52 Fritsche Closener, Straßburgische Chronik, Hrsg. von Strobel, Stuttgart 1842, 113.

53 Vgl. Fritsche Closener, Straßburgische Chronik, Hrsg. von Strobel, Stuttgart 1842, 113.

54 Vgl. Fritsche Closener, Straßburgische Chronik, Hrsg. von Strobel, Stuttgart 1842, 76ff.; Gnädinger 1993, 49.

55 Die eigentlichen Pestjahre waren Gnädinger 1993, 49 zufolge 1348, 1358, 1363 und 1381.

56 Vgl. Gnädinger 1993, 45.

57 Vgl. Gnädinger 1993, 49.

58 Offenbarung 16, 1.

59 Vgl. Gnädinger 1993, 47.

60 V 68, 374,20 – 24 (H 67).

61 Vgl. Fritsche Closener, Straßburgische Chronik, Hrsg. von Strobel, Stuttgart 1842, 83ff.; Gnädinger 1993, 47.

62 Vgl. Gnädinger 1993, 48.

63 Vgl. Gnädinger 1993, 52127.

64 Vgl. Gnädinger 1993, 52128.

65 Vgl. Gnädinger 1993, 55132.

66 Vgl. Gnädinger 1993, 55133ff..

67 Vgl. Seite 8f.

68 Vgl. Gnädinger 1993, 56 – 60.

69 V 9, 41,6 – 11.

70 Vgl. Gnädinger 1993, 60

71 Vgl. Ruh 1996, 479.

72 Vgl. Hoenen 1994, 408; Weilner 1961, 30f.

73 Vgl. Luthers Randbemerkungen zu Taulers Predigten in: Martin Luther, Werke, Bd. 9, Weimar 1893, 95 – 104; Bd. 45, Weimar 1911, 384: „Thaulerus hat ein sere gut wort von wenigen verstandn“. Vgl. Hoenen 1994, 409. Zu Luther und Tauler: Siehe Haas 1989(a), 264 – 294; Ficker 1936.

74 Gnädinger 1993, 413f.

75 Vgl. Bautz 1990 (BBKL Bd. I), Sp. 1452 – 1454.

76 Eck bezieht sich auf Luther, Resolutiones (WA 1, 557,25-32): „Ich weiß zwar, dass dieser Lehrer in den Schulen der Theologen unbekannt und deshalb vielleicht verächtlich ist; aber ich habe darin, obgleich das Buch in deutscher Sprache geschrieben ist, mehr von gründlicher und lauterer Theologie gefunden, als man bei allen scholastischen Gelehrten aller Universitäten gefunden hat oder in ihren Sentenzen finden könnte.“

77 Johannes Eck, De purgatorio contra Lutherum, Parisiis 1548, foll. 107 und 125 – 128. Vgl. Gnädinger 1993, 420; Haas 1971, 85.

78 Luther, WA Br. 1, 295/297, Nr. 132: „Verum rogo, antequam eum somniatorem definias, digneris perlegere. … Vides neque soleas inconsiderate praesumere et iudicare … Cogita, quam non ignorarim eum esse ignotum ecclesiae tuae, quando dixi eum in scolis publicis non haberi nec in lingua latina scriptum, dein qua ratione eum praetulerum scolasticis, quod plura in hoc uno didici quam in caeteris omnibus. … Sed age, ut non nescias quem, legas prius, ne insulsus iudex inveniaris, damnans, quod ignoras. Et ne exigam, quae ultra tuas vires sint, non opto, ut tu conflatis omnibus et singulis tuis scolasticis unum componas sermonem similem uni illius; non hoc exigo, certus, quod impossibilia tibi sunt. Sed hoc solum insulto: adhibe omnes nervos ingenii tui cum omni copia eruditionis tuae scolasticae, et totam. … si unum aut alterum sermonem eius intelligere digne possis. Postea credemus tibi illum esse somniatorem, te vero unum vigilatorem aut certe apertis oculis dormitantem.“

79 Zu Blosius: Siehe Hoenen 1994, 409ff.

80 Ludovici Blosii, Opera, Antwerpen 1632, 348: „Haec et his similia scribens Thaulerus, non demolitur, sed plurimum adiuuat stabilitque regularem Religionis obseruantiam.“ Vgl. Thery 1927, 44f.; Gnädinger 1993, 420.

81 Hoenen 1994, 412. Zu Blosius Argumenten im Einzelnen: Siehe Hoenen 1994, 409 – 414.

82 Haas 1989 (a), 270f.

83 Vgl. Gnädinger 1993, 420.

84 Hoenen 1994, 424; insgesamt Vgl. 414 – 424. Hoenen bietet darüber hinaus im Anhang eine Synopse des mittelhochdeutschen Textes, der protestantischen Ausgabe von 1565 und der niederländischen protestantischen Ausgabe von 1588 (427 – 444). Vgl. Mösch 2004, 4; Otto 2003, 183 – 214.

85 Vgl. Gnädinger 1993, 420.

86 Vgl. Gnädinger 1993, 418; Weilner 1961, 30; Reusch 1880, 24. Der erste Römische Index entstand 1559; seit 1571 gab es eine ständige Indexkongregation; 1966 wurde der Index außer Kraft gesetzt.

87 Zur Überlieferung und Drucktradierung Siehe Einleitung, viertes Kapitel.

Zweites Kapitel
Forschungsstand

Die Forschung über Johannes Tauler setzte schon sehr früh ein, vor allem auf protestantischer Seite.88 Bereits 1584 erschien in Wittenberg von Michael Neanders die kleine Schrift „Theologia Bernhardi et Tauleri“89, deren Taulerteil einige Auszüge aus den Tauler zugeschriebenen Schriften enthält.90

Die erste Arbeit über Johannes Tauler schrieb um 1583 der Protestant Peter Glaser. Sie trägt den Titel: „Tauleri Christliche Lehre von dem fürnemsten heuptstücken der heiligen Schrifft (und sonderlich wie er seine Zuhörer auff Christum gewiessen) und dargegen die Bäptische irthume gestraffet habe.“91 Glaser beschreibt Taulers Leben, stellt in einigen Punkten dessen Lehre vor und zitiiert aus den Predigten.92

Der Wittenberger G. F. Heupelius brachte 1688 ein Buch über Tauler heraus: „Memoria Joh. Tauleri instaurata.“93 Heupelius gelangt aufgrund der in seinem Buch zitierten Aussprüche Taulers zu der Überzeugung, man solle Tauler nur mit grosser Vorsicht lesen.94

Die erste Dissertation über Tauler wurde von protestantischer Seite 1786 in Straßburg von J.J. Beck, hinter der wahrscheinlich der elsässische Pastor und Sozialreformer Johann Friedrich Oberlin (1740 – 1826) stand, unter dem Titel „De Tauleri dictione vernacula et mystica“ herausgegeben.95 Der bleibende Wert dieser Arbeit besteht darin, dass über den Inhalt der im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 verbrannten Taulerhandschrift Cod. A,91 ausführlich berichtet wird.96

Im 18. Jahrhundert ging das Interesse an mystischer Literatur stark zurück, da die Aufklärung mit dem Anliegen der Mystik nichts anzufangen vermochte.97 Das änderte sich wieder in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. 1841 brachte der Protestant Carl Schmidt eine Monographie über Tauler heraus.98 Schmidt versucht Taulers Denken systematisch darzustellen. Dabei nennt er Tauler einen Pantheisten wider Willen.99 In seinen Ausführungen orientiert sich Schmidt vor allem am sog. „Meisterbuch“ bzw. an der „Nachfolgung des armen Lebens Jesu“. Für ihn ist die „Nachfolgung“ das Hauptwerk Taulers.100 Erst einige Jahrzehnte später konnte Heinrich S. Denifle nachweisen, dass sowohl das „Meisterbuch“ als auch die „Nachfolgung“ nicht von Tauler stammen.101 Schmidts Verdienst um die Taulerforschung besteht darin, dass er den Inhalt der im Krieg von 1870/71 vernichteten Handschriften durch seine Abschriften bewahrt hat.102 Vom selben fehlerhaften Taulerbild wie Schmidt ist auch die erste umfassende Geschichte der Mystik in Deutschland von Wilhelm Preger geprägt (1874 – 93).103 Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts erschienen noch einige kleinere Abhandlungen über Tauler, auf die Helander in seiner Arbeit eigens hinweist.104

Zur Wende in der Taulerforschung kam es durch den Dominikaner Heinrich Seuse Denifle (1844 – 1905)105, der nachweisen konnte, welche Schriften Taulers echt bzw. unecht sind. Auf diese Weise war es ihm möglich, annähernd das heutige Textkorpus zu rekonstruieren.106 Denifle bricht

„mit den seit 400 Jahren tradierten und nur vereinzelt angezweifelten Vorstellungen vom Lebenslauf und Werk Taulers. Denifle zeigt gleichfalls, dass der immer wieder geäußerte Pantheismusverdacht bei Tauler keine Grundlage hat. Es ist nicht übertrieben, wenn man feststellt, dass die Taulerforschung damit an ihrem ‚Punkt Null‘ angekommen ist.“107

Zekorn beschreibt in seiner Arbeit ausführlich den Stand der Forschung bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein.108 Darüber hinaus geht Ruh auf den Forschungsstand bis 1996 ein.109 Alle Beiträge über Tauler, deren Qualität sehr unterschiedlich ist, zu besprechen, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Wir wollen deshalb nur auf die Veröffentlichungen und Arbeiten näher eingehen, die für diese Arbeit wichtig bzw. die neueren Datums sind.

Im folgenden sei ein kurzer Überblick über diese Arbeiten gegeben: 1961 erschien eine Gedenkschrift zum 600. Todestag Taulers110, in der in einzelnen Beiträgen Fragen zum Leben und Wirken, zur Gedankenwelt und Einflusssphäre Taulers behandelt werden und die viele Aspekte der vorangegangen Forschung enthält. Die Fülle der Themen, die von verschiedenen Autoren behandelt werden, bietet eine gute Übersicht in Taulers Welt und Denken.111

Die Arbeiten von Ignaz Weilner112 (1961) und Bernd Ulrich Rehe113 (1989) beleuchten Taulers Predigten auch aus dem Blickwinkel der Psychologie. Weilner möchte in seiner moral-theologischen Studie zeigen, dass es bei Tauler so etwas wie eine „Psychologie der Tiefe“ gibt.114 Laut Weilner hat Tauler „nicht irgendeine mystische Theorie entwickelt oder ein … überkommenes Schema“115 wiedergegeben. Tauler beschreibt vielmehr unermüdlich „einen bedeutsamen Erlebnisvorgang unter wechselnden Gesichtspunkten“116. Diesen Erlebnisvorgang, der in Taulers eigenem Leben seine Grundlage hat117, stellt Weilner wie folgt dar:

„Der Mensch, auch der gutwillig Fromme, droht sich mit den Jahren immer mehr an die Mannigfaltigkeit der Weltdinge zu verlieren, ohne dass er es merkt; ja er glaubt sogar, sich selber darin um so intensiver zu besitzen.118

Soll sich der Mensch jedoch in all den Dingen nicht verlieren, muss er durch die tiefe Krise der „Zweiten Bekehrung“119 wieder mit dem „Grund und Ursprung alles Lebens … sich in Gott zurückgewinnen“.120 Diese Bekehrung, so Weilner, verbindet Tauler mit dem vierzigsten Lebensjahr. Darin sehe Tauler ein „Entwicklungsgesetz des geistlichen Lebens“121:

„Zwischen dem vierzigsten und fünfzigsten Lebensjahr vollzieht sich nach seinen [Taulers] Beobachtungen im seelischen Bereich des Menschen ein Strukturwandel, in dem nicht nur die ganze bisherige Lebensleistung in Frage gestellt wird und auf ihren Echtheitsgehalt geprüft wird, sondern zugleich die große Chance zur wesentlichen Verinnerlichung, im Einzelfall sogar zu mystischer Begnadung bietet.“122

Vom Begriff der Bekehrung aus deutet Weilner die Einkehr des Menschen in den Seelengrund als einen Reifeprozess, als einen Weg inneren Wachstums. Was die Seele in diesem Prozess erlebt, beschreibt Weilner im ersten Teil seiner Arbeit aus der Sicht Taulers.123 Im zweiten Teil weist Weilner Parallelen zwischen der Tiefenpsychologie C. G. Jungs und Tauler auf.124 Rehe folgt Weilners Ansatz und ergänzt dessen Untersuchung mit Erkenntnissen aus der Entwicklungspsychologie, indem er sich am lebensgeschichtlichen Ansatz von August Vetter orientiert.125 Beide Arbeiten möchten durch ihren Ansatz den Dialog zwischen Theologie und Psychologie fördern.126 Es soll deutlich gemacht werden, wie bleibend aktuell Taulers Denken immer noch sein kann. Dietmar Mieth127 (1969) stellt in seiner Arbeit die Stellung Eckharts und Taulers zur „vita activa“ und „vita contemplativa“ vor. Nach Mieth ist bei Eckhart und Tauler die Trennung zwischen einem aktiven und kontemplativen Leben überwunden. Der Mensch kann in jeder Lebensform Innerlichkeit und Wirksamkeit verbinden, um zur Einheit mit Gott zu gelangen.128 Mieths Arbeit bietet darüber hinaus erste wertvolle Hilfen zur Klärung von Taulers theologischen und philosophischen Grundlagen bei Meister Eckhart.

Alois M. Haas129 (1971) untersucht Taulers Lehre von der Selbsterkenntnis des Menschen. Dabei stellt er, wie Mieth, Verbindungen zu Meister Eckhart her. Außerdem geht er auf die Bedeutung der Selbsterkenntnis im Werk Heinrich Seuses ein. Die Selbsterkenntnis, so Haas, wird von Tauler als Instrument moralischer Selbstanalyse mit stark aszetischer Zielsetzung definiert.130 Um eins mit Gott zu werden, muss der Mensch das eigene Ich als ein „Nichts“ begreifen. So sind für Haas die Selbstbeobachtung, die Einsicht in die eigene Sünde und in die eigenen Gebrechen, die Verurteilung des eigenen Selbst, die Nächstenliebe sowie das Wahrnehmen des Seelengrundes, ja sogar die Versuchungen und bösen Neigungen, die Bausteine der Aszetik Taulers.131

Der Schwerpunkt bei Stefan Zekorn132 (1993) liegt auf der Behandlung des Gebets und der konkreten Gebetsanweisungen, die sich aus Taulers Predigten ergeben. Zekorn begreift Tauler als Lehrer geistlichen Lebens, und er versucht von dorther die Lehre des Dominikaners zu erschließen.133 Außerdem zeigt er, dass Tauler die Beziehung von Gott und Mensch von einer Weghaftigkeit bestimmt sieht.134 Auch wenn in Zekorns Arbeit die Schwerpunktsetzung, wie der Autor selbst feststellt135, zu einer gewissen Überbetonung der Gebetspraxis führt, bietet sie eine gute Zusammenfassung zentraler Gedanken Taulers sowie einen ersten Blick auf dessen Beziehungen zum religiösen Leben seiner Zeit.

Einen ausschließlich theologischen Akzent setzt Thomas Gandlau136 (1993). Er untersucht Taulers Trinitäts- und Kreuzestheologie: Tauler greift in seinen Predigten die Hauptthemen der Heilsgeschichte auf und verbindet sie mit der Situation seiner Zuhörer. Hierbei zeigt sich, dass der dreifaltige Gott die Menschen aus ihrer erbsündlichen Verfasstheit in die Fülle des trinitarischen Lebens führen möchte. Geglücktes und geheiltes Menschsein bedeutet für Tauler, als Abbild Gottes in den Dimensionen des dreifaltigen göttlichen Lebens der Liebe zu leben. Dieser trinitarische Ansatz ist für Tauler zutiefst mit dem Erlösungsgeschehen in Jesus Christus, dem Kreuzesmysterium, verbunden, denn allein durch den gekreuzigten und verlassenen Christus eröffnet sich dem an der Erbsünde erkrankten Menschen der Zugang zum dreifaltigen Leben mit Gott. Trinität und Kreuz sind Gandlau zufolge somit die innersten theologischen Schwerpunkte von Taulers Denken. Sie prägen sein Verständnis von der Nachfolge Christi, zu der er seine Zuhörer ermuntern will.137

Die neuplatonische Ausrichtung Taulers im Zusammenhang mit der Lehre vom Seelengrund wird u.a. von Paul Wyser138 (1958), Ignaz Weilner139 (1961), Dietrich Schlüter140 (1961), Werner Beierwaltes141 (1985), Maarten J.F. Hoenen142 (1994) und Loris Sturlese143 (2007) betont. Sturlese bietet zudem eine Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse, und er behandelt den Einfluss der „deutschen Albert-Schule“, deren Vertreter Dietrich von Freiberg, Meister Eckhart und Berthold von Moosburg sind, auf Tauler.144

Die Monographie über Johannes Tauler von Louise Gnädinger145 (1993) bietet eine Fülle an wichtigen Informationen. Im ersten Teil wird das Leben und das Umfeld Taulers ausführlich dargestellt146; im zweiten Teil behandelt Gnädinger die einzelnen mystischen Themen Taulers.147 Teil drei schließt das Buch mit Taulers Nachwirken ab.148

Maarten J.F.M. Hoenen149 (1994) geht in seinem Beitrag auf die Bedeutung Taulers für die philosophische und spirituelle Kultur in den Niederlanden ein:

„Tauler hatte im niederländischen Sprachraum eine sehr große, im Vergleich mit anderen deutschen Denkern beispiellose Wirkung, die vom Ende des 14. Jahrhunderts bis ins 18. Jahrhundert hinein reicht und durch sehr viele Handschriften, Drucke, Kataloge, Verweise und Zitate bezeugt ist.“150

Hoenen stellt zunächst die wichtigsten Momente in der Rezeption Taulers vor, die um 1403 bei dem Mystiker Gerlach Peters beginnt.151 Es folgen die Reaktionen auf Taulers Lehren in den Niederlanden im 16. Jahrhundert. Hoenen unterscheidet dabei zwischen der Kritik an der Mystik im Allgemeinen und der Kritik an Tauler selbst. Zur ersten Gruppe gehören der Jesuiten-Ordensgeneral Mercurian (1578/79), der Provinzial der belgischen Kapuziner Hippolytus von Bergamo (1594) und der Apostolische Vikar der holländischen Mission Sasbout Vosmer (1593), die das Lesen der Schriften von Tauler, Ruusbroec und anderer Autoren verbieten lassen wollen. Diese Verbote, so Hoenen, sollten verhindern, „dass sich auf der Basis der Werke Taulers, Russbroecs und anderer geistliche Spekulationen entwickeln konnten.“152 Die Verbote zeigen aber gerade auch, „dass Autoren wie Tauler einen ernstzunehmenden Einfluss hatten.“153 Die zweite Art der Kritik an Tauler ist Hoenen zufolge interessanter:

„In diesem Zusammenhang ist vor allem die Rolle zu betrachten, die Tauler im Glaubensstreit des 16. Jahrhunderts zufiel, wo er sowohl als Lutheraner ... wie auch als orthodoxer Katholik dargestellt wurde.“154

Ausgangspunkt ist die in der Auseinandersetzung mit Martin Luther geübte Kritik Johannes Ecks an Tauler (1523).155 Diesen Angriff nahm der Benediktinerabt Ludwig Blosius (+1566), der zu dem damals niederländischen Kloster Liessies im Hennegau gehörte, zum Anlass, eine Verteidigung Taulers zu schreiben.156 Im dritten Teil untersucht Hoenen, auf welche Weise Tauler von protestantischer Seite (ab 1588) rezipiert wurde.157 Er stellt fest, dass der „protestantische Tauler“ großen Veränderungen unterzogen worden ist. Nichts mehr erinnert den protestantischen Leser an die katholische Kirche. Dass der Leser jedoch „einen ganz anderen Tauler als den ursprünglichen zu Gesicht bekam, blieb unerwähnt.“158

Einen wichtigen Beitrag zur Geschichte der Textgrundlage von Taulers Predigten bietet die Arbeit von Johannes Gottfried Mayer159 (1999). Mayer untersucht die handschriftliche Überlieferung der Predigten Taulers des 14. Jahrhunderts bis zu den ersten Taulerdrucken. Laut Mayer lassen sich derzeitig vier Bearbeitungen in der Textgeschichte der Predigten Taulers ausmachen160: die Redaktion n, die sich in einer Nürnberger Handschrift (N1) erstmals 1435 greifen lässt; die Bearbeitung k aus der Mitte des 15. Jahrhunderts (früheste Textform bietet die Handschrift der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Cod. St. Blasien 75 (= Ka 1); sodann eine auf Kontamination zurückgehende Schrift, die man den ´Großen Tauler´ (= grt) nennt (Codex Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. Theol. et phil. fol. 283 (= St 4)); und schließlich eine Redaktion von mittelniederländischen und niederdeutschen Handschriften.161 Mayer stellt fest, dass all die genannten Überlieferungsformen (mit Ausnahme der niederländischen) der Redaktion n verpflichtet sind. Darüber hinaus geht der Text des n-Redaktors auch in die Drucküberlieferung ein. Die Textgestalt und die Auswahl der Predigten wurden also durch die Bearbeitung n bestimmt. Aus diesem Grund

„kann diese Redaktion in Analogie zur Überlieferung der Hl. Schrift mit einigem Recht als ‚Vulgata-Fassung‘ – also als die Textform, in welcher Tauler vornehmlich gelesen wurde – bezeichnet werden.“162

Die Handschriften N 1 (als ältester Textzeuge der Redaktion n) und St 4 gelten als historische Ausgangspunkte umfangreicher Überlieferungszweige, deren Geschichte und Traditionen Mayer bis zu den ersten Taulerdrucken nachzeichnet.163

Wichtig für Taulers Beziehung zu Meister Eckhart sind die Arbeiten von Caroline F. Mösch164 (2006) und Christine Büchner (2007)165. Mösch untersucht in ihrer Arbeit Meister Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt166 sowie Johannes Taulers Predigten zum Weihnachtsfestkreis167. Dabei werden auch die Traditionsbezüge und die Paralellen zu den literarischen Zeugnissen des 13. und 14. Jahrhunderts aufgezeigt. Im dritten Teil der Arbeit werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Predigerbrüder herausgearbeitet, in der Predigtweise168, sodann in der Redeweise von der Gottesgeburt in der Seele169, vom Wirken Gottes im Menschen170, vom Leersein von allen kreatürlichen Eigenschaften und schließlich in der Auffassung der Gnade.171 Mösch untersucht und interpretiert zwar nur einen kleinen Werkausschnitt – Möschs Untersuchungsergebnisse werden in diese Arbeit einfließen –, doch bestätigt sich dabei die von der Forschung propagierte inhaltliche Nähe und Übereinstimmung zu Meister Eckhart:

„Die dargelegten Berührungspunkte mit Eckharts Predigtzyklus Von der êwigen geburt legen eine Kenntnis Taulers dieser Predigten nahe. Obwohl sich in Taulers Predigten zum Weihnachtsfestkreis (wie auch in seinen übrigen Predigten) kein einziges Zitat mit einem Rekurs auf Meister Eckhart findet, zeigen sich auffallend inhaltliche Übereinstimmungen, die vereinzelt sogar in der Terminologie identisch sind oder nur leicht variieren, so dass davon ausgegangen werden kann, dass einzelne Predigten Eckharts – und darunter vor allem die Predigten 101 - 104 – Tauler als Vorlage und Inspiration seiner eigenen Predigten, insbesondere seiner Predigten zum Weihnachtsfestkreis, dienten.“172

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