Kitabı oku: «Wien für Anfänger»
Jörg Mauthe
Wien für Anfänger
Vorläufige Bruchstücke zum Entwurf einer Skizze über Land und Leute
Mit Zeichnungen von Paul Flora und einem Nachwort von Gerald Schmickl
© 2016
HAYMON Verlag
Innsbruck-Wien
Die gedruckte Originalausgabe erschien 1959 bei Diogenes. Dieses E-Book basiert auf der 2001 um ein Nachwort von Gerald Schmickl ergänzten und 2001 im Löwenzahn Verlag erschienen Ausgabe.
Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
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ISBN 978-3-7099-3758-7
Umschlag- und Buchgestaltung, Satz: hœretzeder grafische gestaltung, Scheffau/Tirol Sämtliche Zeichnungen: Paul Flora
Dieses Buch erhalten Sie auch in gedruckter Form mit hochwertiger Ausstattung in Ihrer Buchhandlung oder direkt unter www.haymonverlag.at.
Jörg Mauthe | Paul Flora
Wien für Anfänger
Inhalt
I.
Lektion
Allgemeines
II.
Lektion
Durch die Seele des Wieners
III.
Lektion
Der Traum von der Kaiserstadt
IV.
Lektion
Das kulinarische Wien
V.
Lektion
Das republikanische Wien
VI.
Lektion
Wiener Feiertage
VII.
Lektion
Wiener Kaffeehäuser
VIII.
Lektion
Makabres Intermezzo
IX.
Lektion
Wien bei Nacht
X.
Lektion
Kultur und Kulturelles
Literaturnachweis
Nachwort


I. LEKTION
Allgemeines
Wien ist eine schöne Stadt – Wien liegt nicht an der Donau, sondern an der Wien – Der Name Wien stammt aus dem Keltischen oder aus dem Germanischen oder aus dem Lateinischen, ist aber vielleicht auch illyrischen Ursprungs – Wien war eine Kaiserstadt und ist jetzt die Hauptstadt und zugleich das neunte Bundesland der Bundesrepublik Österreich – Wien zählt etwas mehr als eine Million sechshunderttausend Einwohner – Nur zwei Fünftel aller Wiener tragen deutsche, die andern drei Fünftel tschechische, ungarische, polnische, kroatische, serbische, slowakische und italienische Namen – Die häufigsten Namen sind Maier, Müller, Huber, Novak, Fischer und Swoboda – Die Schuster und Schneider tragen vorzugsweise böhmische, die Rauchfangkehrer häufig italienische Namen – Die Umgangssprache der Wiener ist das Wienerische, ein ursprünglich bajuwarischer, städtisch verfeinerter und durch zahlreiche Lehnworte aus allen Sprachen der ehemaligen Donaumonarchie angereicherter Dialekt – Als Kind einer alten, vielgeprüften Stadt ist der Wiener zutiefst mißtrauisch – Seine Gefühlsskala ist beschränkt: wenn er glücklich sein könnte, ist er gut aufgelegt, und wenn er unglücklich sein sollte, ist er verdrossen – Der Wiener ist ungemütlich – Weil er mißtrauisch ist, ist er sozial nur schwer ansprechbar und neigt zu einem meist negativ gefärbten Individualismus – Seines vielberufenen Charmes bedient sich der Wiener als einer Waffe im Daseinskampf (siehe Seite 96 unter ‚Schmäh‘) – Aber Wien ist eine schöne Stadt.

Übung
Motto: Aller Anfang ist verhältnismäßig langweilig.
Richtiggelesene Stadtpläne vermögen mehr über den Geist und den Charakter einer Stadt auszusagen als ganze Bibliotheken von Reiseführern. Man nehme also einen Stadtplan von Wien zur Hand und betrachte ihn, ohne auf Einzelheiten einzugehen.
Man wird alsbald das Bild einer quer durchschnittenen Zwiebel erkennen – sagen wir besser einer Blumenzwiebel, weil das poetischer klingt. Das Herz oder den Keim dieser Blumenzwiebel bildet der erste Bezirk; er ist es denn im geschichtlichen, wirtschaftlichen und verwaltungstechnischen Sinne tat-sächlich. Dieser erste Bezirk – er heißt jetzt ‚Innere Stadt‘ – war bis ins späte neunzehnte Jahrhundert hinein identisch mit Wien und ist es bis zu einem gewissen Grade heute noch. Solange Wien besteht, wird der Wiener den ersten Bezirk schlicht und einfach ‚die Stadt‘ nennen und ihn für den Inbegriff alles Teuren, Mondänen, Luxuriösen und Repräsentativen halten.
Rings um diese Innere Stadt zieht sich ein breiter Straßenzug: die Ringstraße. Ihre Ecken deuten an, daß sie immer noch dem Zuge der alten, längst geschleiften Festungsmauer folgt. Einige große Gartenanlagen lassen erkennen, daß zwischen der Innenstadt und dem Kranz der Bezirke einst das Glacis lag – ein freies, von Straßen durchquertes Schußfeld, dessen unsinnige Verbauung jedem modernen Städtebauer komplizierte Probleme aufgibt.
Mit dem nächsten konzentrischen Straßenzug – ‚Lastenstraße‘ genannt, obwohl er eigentlich ganz anders heißt – beginnt die zweite Fruchtschicht der Zwiebel, die Reihe der sogenannten gutbürgerlichen Bezirke: Alsergrund, Josefstadt, Neubau, Mariahilf, Wieden und Landstraße.
Jeder dieser Bezirke hat sein eigenes Gesicht und sein eigenes Zentrum. Im Alsergrund beispielsweise hat sich zwischen der Universität und den großen Spitälern eine Medizinerstadt herausgebildet, deren Häuserblocks ausschließlich von Ärzten bewohnt zu werden scheinen. In den Auslagen herrschen aparte Dekorationen von chirurgischen Instrumenten und foltergerätähnlichen Heilbehelfen vor, die Buchhandlungen stapeln Schmerzensliteratur, und einige Tausend nahöstlicher Medizinstudenten verleihen dem ‚anatomischen‘ Viertel hinter der Votivkirche ein etwas seltsames Gepräge, das insbesondere dann, wenn im Nahen Osten wieder einmal ein Regimewechsel stattfindet, augen- und ohrenfällig wird.
Ein Teil des Neubaus – so heißt der siebente Bezirk – scheint wiederum nur aus Möbelgeschäften und Tischlerwerkstätten zu bestehen; im übrigen ist er immer noch ein Bezirk des Handwerks und Kleingewerbes, in dem man aussterbende Handwerkszweige von oft recht erstaunlicher Art findet: Elfenbeinschnitzer, Posamentristen, Galvaniseure undsoweiter. Merkwürdigerweise hat sich auch die Filmindustrie in diesem Stadtviertel niedergelassen.
Die Josefstadt hingegen ist ein altmodisch-ruhiger Wohnbezirk geblieben; ihr Zentrum wird von dem barocken Schul- und Kirchenkomplex des Piaristenordens und dem rühmlich bekannten Theater in der Josefstadt bestimmt. Kein Wunder, daß die Josefstädter als Kulturmenschen auf die Bewohner anderer Bezirke herabschauen.

In der Hauptstraße des sechsten Bezirkes, der endlos langen Mariahilferstraße, dem Broadway Wiens, gibt es nur Geschäfte – noch in den Stockwerken oben, noch in den Kellern unten, Geschäfte bis in den vierten oder fünften Hinterhof hinein. Fremde seien gewarnt, diese Straße in den Tagen der Saisonschlußverkäufe oder gar an den Einkaufssonntagen vor Weihnachten zu betreten, denn gegen eine halbe Million einkaufslustiger Wiener sind Springfluten, Lawinen und Vulkanausbrüche idyllische Scherze der Natur.
Die Wieden hat einmal als besonders vornehmes Wohnviertel gegolten, aber die Russen, die hier ihr Wiener Hauptquartier gehabt haben und der Naschmarkt – der zentrale Lebensmittelmarkt Wiens – haben sie leider etwas heruntergebracht. Gewisse Gäßchen und Hotels der Wienflußniederung spielen in der Wiener Kriminalchronik eine recht unrühmliche Rolle.
Zum dritten Bezirk gehören das Barockwunder des Belvedere, das Diplomatenviertel und einige Kasernen. Er ist ein feudaler, etwas militärischer Stadtteil, der an der Landstraße – dem großen Heerweg ins Ungarische – vorstädtische Züge annimmt.
Der zweite Bezirk Leopoldstadt, eine Insel zwischen Donaukanal und Donau, ist immer ein Armeleutebezirk gewesen. Die Schatten des Getto liegen schwer über ihm.
Ein breiter Straßenring, der Gürtel, trennt die Wiener Innen- von den Außenbezirken Simmering, Meidling, Hietzing, Ottakring, Hernals, Währing, Döbling – die Endungen ihrer Namen lassen die Abstammung von dörflichen Siedlungen erkennen. (Irgendwo in Bayern gibt es zwei Dörfer namens Otterkring und Sülfering, die sich einer bis ins elfte Jahrhundert zurückreichenden Kolonialpatenschaft über Ottakring und Sievering rühmen.)
Im Norden und Nordwesten besitzen diese Bezirke jenseits des Gürtels halb weinbäuerlichen, halb bürgerlich-behäbigen Charakter; im Süden und Südosten werden sie zusehends proletarischer, doch auch in den düstersten Vorstädten haben sich vielfach noch die alten bäuerlichen Dorfzentren erhalten. Übrigens führen auch diese Außenbezirke ein zähes Eigenleben: jeder Bezirk hat nicht nur sein Geschäfts- und Vergnügungszentrum, seine Pfarrei und seinen Magistrat, sondern auch sein eigenes Museum, ja sogar seine eigene Zeitung. Der Wiener ist erst in zweiter Linie Wiener, zuerst und vor allem fühlt er sich als Simmeringer, Josefstädter, Favoritner oder Floridsdorfer. Die sogenannten kleinen Leute leben in ihrem Heimatbezirk wie in einem Dorf – ein Gefühl der Fremdheit beschleicht sie, wenn sie ihn verlassen. Man kann ohne weiteres behaupten, daß die weitaus meisten Wiener in dem Bezirk sterben, in dem sie geboren worden sind.
Nicht weniger vielgestaltig als Wien ist seine Umgebung: Berge im Westen, Weinland jenseits der Donau, und im Süden und im Osten die Steppe – am Rennweg beginnt Asien, hat irgendwer gesagt, und die Meteorologen, Geologen und Botaniker können dieses Aperçu mit wissenschaftlichen Argumenten untermauern.
Man lege den Stadtplan aus der Hand und sei sich klar darüber, daß diese hochdifferenzierte, vielgesichtige Stadt niemals ganz zu erforschen und zu erkennen sein wird – selbst dann nicht, wenn man ein ganzes Leben in ihr zubrächte. Und eben dieses ist das Schicksal der meisten Wiener: in Wien leben zu müssen und die eigene Stadt niemals ganz zu begreifen.
VOKABELN
Hieb, der
Wienerisches Dialektsynonym für Bezirk.
Grund, der
Der ursprüngliche, bis heute meist dörfliche Kern vieler Bezirke. „Vom Grund zu kommen“, bedeutet etwa, der Geburtsaristokratie des Bezirkes anzugehören.

II. LEKTION
Durch die Seele des Wieners
Zwei Wiener diskutieren.
Einer entwickelt seine Meinung und begründet sie. Der andere bringt hierauf eine ganz und gar gegensätzliche Meinung vor und stützt sie ebenfalls mit guten Gründen.
Wird daraus ein Streit entstehen? Werden sich die Gesprächspartner veranlaßt fühlen, ihre Meinungen gegeneinander abzuwägen? Werden beide versuchen, in logischer Argumentation die Richtigkeit der eigenen und die Unrichtigkeit der anderen Meinung nachzuweisen?
Da es sich um Wiener handelt, werden sie nichts dergleichen tun. Vielmehr wird der eine, nachdem er die Meinung des anderen zur Kenntnis genommen und kurz bedacht hat, mit höchster Wahrscheinlichkeit nur jene drei einsilbigen Worte äußern, in denen alle Weisheit dieser Stadt beschlossen ist: „Is auch wahr …“ wird er sagen.
Und sodann werden sich die beiden harmlos plaudernd anderen Dingen zuwenden, ohne zu ahnen, daß sie den Kristallpalast abendländischer Logik soeben in einen Haufen von Glasscherben verwandelt haben.
Die angewandte Relativitätsphilosophie des Wieners kennt keine Unvereinbarkeit der Gegensätze, weil sie keine Gegensätze kennt: denn wenn das eine wahr und das andere auch wahr ist, kann es sich nicht um Gegensätze handeln, sondern höchstens um die Vorderseite und den Revers derselben Medaille. Allüberall mag das Gesetz von dem Raum gelten, den zwei Dinge nicht zur selben Zeit einnehmen können – in Wien gilt es nicht. Wien ist groß und klein, alt und jung, Wien stirbt seit Jahrhunderten in Schönheit und gedeiht dabei sehr gut, Wien ist eine Weltstadt und das größte Dorf Europas, eine westliche Stadt am Rande des Ostens, Wien hat alles und ist alles und hat und ist von jedem zugleich auch das Gegenteil – Wien ist die Stadt der wollüstig gelebten Relativitäten.
Aber auch mit der Zeit hat’s in Wien eine eigene Bewandtnis.
Daß die verbindliche Umgangssprache Österreichs, das Wienerische, kein Imperfektum kennt, mag es mit anderen Dialekten und Sprachen gemein haben. Bedeutsamer ist, daß sich der Wiener auch dann der Mitvergangenheit enthält, wenn er sich infolge ungünstiger Bedingungen des Schriftdeutschen oder gar des Hochdeutschen bedienen muß; wohl nirgends in der Welt müssen die Lehrer so viel Mühe aufwenden, wenn sie ihren Schülern die Imperfektformen der Zeitwörter beibringen wollen. Der Wiener ging also nicht durch die Zeiten und überstand dabei nicht alles Ungemach, er ist vielmehr durch die Zeiten gegangen und hat dabei selbst die Heurigenfilme überstanden. Er lag nicht darnieder und raffte sich immer wieder auf, sondern er ist darniedergelegen und hat sich immer wieder aufgerafft. Und es interessiert ihn wenig oder gar nicht, ob sich dieses Darniederliegen und Auferstehen vor kurzer oder vor langer Zeit abgespielt hat, denn was nicht unmittelbare Gegenwart ist, ist in Wien auch schon der Vergangenheit anheimgefallen, wird schon ein wenig ungewiß, ist unbestimmbar geworden, ist endgültig vorbei.
„Es ist ein Unglück passiert …“ sagt der Wiener. Noch liegt das Krachen ineinanderfahrender Autos in der Luft, heulend sausen Rettung, Polizei und Feuerwehr heran, blutüberströmte Verkehrsopfer bedecken die Straße – aber das eigentliche Unglück ist passiert, passe, vorbei, schon in die Vergangenheit gerückt. Was immer in Wien geschieht, ist auch schon geschehen – und darum wehrt sich der Wiener nicht sehr gegen die weitverbreitete Meinung, daß er mehr in der Vergangenheit als in der Gegenwart lebe. Sie ist ja wahr.
Aber weil ihm die Gegenwart so schnell zur Vergangenheit wird, bleibt ihm wiederum die Vergangenheit etwas sehr Gegenwärtiges. In einer Wiener Vorstadtkirche steht auf einer Gedenktafel zu lesen: „Anno 1683 von den Türken zerstört, anno 1688 wieder aufgebaut, anno 1945 bombenbeschädigt, anno 1951 wieder aufgebaut.“ Zweihundertsechsundsiebzig Jahre oder vierzehn Jahre – Vergangenheit ist Vergangenheit, aber deswegen noch lange nichts Totes.
Das ist auch wahr.
Während ich das schreibe, kommt mein Achtjähriger zur Tür herein und fragt: „Papa! Wer war denn eigentlich der Heilhitler?“ In Wien gibt’s eben keine Mitvergangenheit.
In einer Stadt, die sich so souverän über normale Raum- und Zeitbegriffe hinwegsetzt, in der das Absolute so wenig und das Relative so viel zählt und die Beziehungen zwischen den Dingen wichtiger als die Dinge selbst sind, in einer solchen Stadt gewinnt selbst der Alltag bisweilen artistischen, spielerischen, jedenfalls aber einen recht ungewissen Charakter. Selbst auf den geborenen und gelernten Wiener wirkt Wien zu gewissen Zeiten wie ein leichtes Rauschgift, das ganz unzuverlässigerweise manchmal Euphorien, manchmal Melancholien hervorruft. Was immer man in Wien betrachtet, gleicht einem Bild im Kinderkaleidoskop – es sieht ordentlich und solid aus, aber ein Wimperzucken genügt und schon ist es passiert: das Bild ist zwar unwiederbringlich dahin, aber schon erstrahlt an seiner Stelle ein anderes.
Ist es ein Zufall, daß in der Wiener Literatur der Traum eine so häufige und wichtige Rolle spielt? Immer wieder taucht dieses Motiv auf: einer, der mit dem Leben unzufrieden ist, träumt von einem anderen Dasein – aber auch im Traum passiert ihm nichts anderes als das, was ihm schon im Leben widerfahren ist oder noch widerfahren wird. Denn zwischen Traum und Leben ist kein Unterschied, beide sind ein und dasselbe. Sigmund Freud hat es sogar wissenschaftlich bewiesen, was einem Wiener nach all dem ja auch wohl ansteht.
Denn Wien ist die Stadt der Träume.

Übung
Diese Übung ist vorzugsweise für Nichtwiener bestimmt, die ihren ersten Tag in Wien verbringen. Doch wird sich ihrer auch der Einheimische mit Vorteil unterziehen können. In jedem Falle wähle man einen möglichst sonnigen Vormittag und nehme ein ausführliches Frühstück zu sich. Anfänger aus dem Auslande, die sich noch ein wenig fremd fühlen, mögen sich aus Gründen der Assimilationserleichterung ins Operncafé oder eines der anderen großen Ringstraßenkaffeehäuser begeben, in denen man Frühstück nach englischer, amerikanischer, Kaffee nach französischer, ja sogar – horribile dictu! – niederländischer oder selbst deutscher Art bekommt. Der Wiener wird das sogenannte ‚Wiener Frühstück‘ (siehe Seite 45) bei weitem vorziehen.
Man gehe von der Oper aus langsam in nördlicher Richtung auf den Stephansplatz zu. Die Straße, die dorthin führt, heißt Kärntnerstraße und ist für Wien das, was der Jungfernstieg für Hamburg, die Bond-street für London und die Avenue de l’Opéra für Paris bedeuten: die elegante und teure Geschäftsstraße schlechthin. Experten behaupten, daß man hier die geschmackvollsten Auslagen der Welt findet. Ob’s wahr ist, bleibe dahingestellt, doch empfiehlt es sich, den Auslagen von Stone & Blyth, den Österreichischen Werkstätten und der Konditorei Heiner ein kunstkritisches Augenmerk zu schenken: hier sind Auslagenarrangeure am Werk, die an Form- und Farbgefühl hinter einem Gris oder Miró nicht zurückstehen.
Man genieße ferner die spezifische atmosphärische Stimmung dieser Straße, die insbesondere an sonnigen Vormittagen wirklich einzigartig ist: die Luft wirkt dank eines eigentümlich schrägen Lichteinfall-Winkels wie vergoldet, während die Auslagen in sanften, kühlen Halbschatten liegen.
Übrigens soll man sich nicht zu streng an die Straße selbst halten, sondern gelegentlich auch in die Gassen zur Rechten ausschweifen, wo sich, gleichsam in den Seitenarmen eines großen Geld- und Luxusstroms, ein wunderliches Durcheinander von barocken Palästen und verschlossenen Klöstern, Nachtlokalen und überfüllten Antiquitätenläden, gutbürgerlichen Stundenhotels und ehemals kaiserlich und königlichen Verwaltungsbauten angesammelt hat. Auch das österreichische Finanzministerium hat sich mit feinem Instinkt am Ufer der Kärntnerstraße niedergelassen.
Vor dem Stephansdom – zu dessen Besichtigung man sich anderer Anleitungen bedienen mag – biegt linkerhand der Graben ab, der, anders als die Kärntner- straße, nicht von den Haute Couture-Salons, sondern von etlichen Herrenschneidern mit ebenso böhmischen wie feudalen Namen beherrscht wird. Die Kärntnerstraße, den Graben und den wiederum im rechten Winkel anschließenden Kohlmarkt hat eine lange Tradition zum großen Bummelweg der Wiener erhoben; wer sich das Flair vornehmen Nichtstuns geben will, flaniert in der Stunde vor Mittag, in der Zeit des höchsten Geschäftsverkehrs, diese Route entlang – nur weniges vermag die Seele des Wieners so sehr zu erheitern, wie die geruhsame Betrachtung von hetzenden und gehetzten Leuten, die es nicht so gut haben. Die Jeunesse dorée – oder was sich halt dafür hält – vermeidet freilich die Berührung mit dem Plebs und bummelt am Sonntag nach der Nobelmesse im Stephansdom über den fast leeren Graben. Zu Mittag räumt sie eilig das Feld: denn nun bricht mit Kind und Kegel, mit Großtante und zukünftigem Schwiegersohn die Bewohnerschaft der äußeren Bezirke in die Innere Stadt ein – zum großen Schaufensterbummel durch die Gefilde des unerreichbaren Luxusstandards.
Der Fremde lasse sich bei diesem ersten Spaziergang mit Gelassenheit durch Haupt- und Nebenstraßen treiben und bleibe dem Zufall und dem Augenblick willig hingegeben. Wien kann man nicht in gezielter Aktion erobern – das haben nicht einmal die Türken und Russen fertiggebracht – denn Wien will selbst erobern, was ihm meistens auch gelingt. Man nehme jedoch aufmerksam zur Kenntnis, wie reizvoll und passend sich viele im Grunde nicht zueinander passende und nicht immer eigentlich reizvolle Dinge ineinander verschränken und kühn überschneiden. Unscheinbare Gründerzeitfassaden werden schön, weil sie einer eleganten Straßenkrüm-mung folgen, die schon von den Römern angelegt worden war. Kleine Modeboutiquen geben sich den Anschein, als wären sie Sesamöffnedichs; im witzigen Arrangement solcher Auslagen verrät sich bisweilen die gleiche großstädtische Selbstironie wie in den halb gravitätischen, halb tänzerischen Bewegungen der Verkehrspolizisten. Die Mädchen erscheinen überdurchschnittlich hübsch. Viele sind es wirklich. Niemand spricht sieben fremde Sprachen so geläufig nicht wie die Zeitungsfrau an der Kärntnerstraßenecke. Und so viele verschiedene Dinge auf engem Raum auch versammelt sein mögen, sie vertragen sich sehr gut miteinander. Man begreift hier sehr rasch, daß das ‚Leben und leben lassen‘ immer noch die Devise Wiens ist. Kritiker haben oft beanstandet, daß das Laissez faire dieser Devise etwas zu sehr an den nahen Balkan erinnert – na, und wenn schon! Schadet’s wem? ‚Leben und leben lassen‘ ist die schlechteste Devise nicht und auf alle Fälle eine recht humane.
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