Kitabı oku: «Herr Wunderwelt»
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Jörg Rehmann
Herr Wunderwelt
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© 2020 Kommode Verlag, Zürich
Der Kommode Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einer Förderprämie für die Jahre 2019–2020 unterstützt.
1. Auflage
Alle Rechte vorbehalten.
Text: Jörg Rehmann
Lektorat und Korrektorat: Barbara Raschig
Cover, Satz und Layout: Anneka Beatty
Druck: Beltz Grafische Betriebe
ISBN 978-3-9525014-2-9
Kommode Verlag GmbH, Zürich
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Jörg Rehmann
Herr Wunderwelt
Roman
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Macht ist zu bestimmen, welche Geschichten einst erzählt werden.
Carolyn Heilbrun
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Im April 1989 betrat ich zum ersten Mal die Residenz am Grunewald. Die Empfangshalle war ein Glaskasten mit Münzfernsprecher und Rohrstühlen. Auf einem nahm ich Platz und sah mich um. Vor mir hing das Porträt einer aufgedunsenen Frau in Schwesterntracht. Mit bohrendem Blick prüfte mich Oberin Irmgard Breugel, die Stiftungsgründerin. Auf der Tafel daneben las ich, dass ihr, einer Krankenschwester, 1938 drei Villen geschenkt worden waren. In Berlin-Grunewald war alles möglich. Setz dir eine Schwesternhaube auf, und schon bekommst du Villen hinterhergeschmissen. Ich überlegte, was ich mit den Häusern, die ich hier ergattern würde, anfangen könnte. Kein Heim. Das gab es ja schon. Ob die Breugel jetzt sah, dass ich eine Jacke aus knatschrotem Kunstleder und eine Damenhose trug?
Vor einer Woche war ich nach Westberlin ausgereist. Das einzige Zimmer, das ich hatte finden können, war ein Verschlag in Ritas Wohnung. Rita ging auf den Transenstrich in der Frobenstraße, ich zum Vorstellungsgespräch. In meinen Ostklamotten würde mir jede Chance davonfliegen. Also hatte ich mir Ritas Sachen geliehen. Ich war einundzwanzig Jahre alt und wollte wunderschön sein. Ich war wunderschön. Niemand hier würde merken, dass ich eine Bluse trug, sächselte und noch nie einen alten Menschen gepflegt hatte.
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»Da sind Sie ja schon.«
Eine Frauenstimme schreckte mich auf. Frau Schwalbe, die Verwaltungsleiterin, stand vor mir. Ich grüßte und lächelte. Deshalb stellte sie mich ein. Noch heute bin ich sicher, dass dieser Moment der entscheidende war. Frau Schwalbe, eine korpulente Dame in rostbraunem Kostüm, forderte mich auf, ihr zu folgen. In den Verwaltungstrakt gelangte sie mit einem Zahlencode. Ich fragte mich, welche Geheimnisse sich im Büro eines Pflegeheims verbergen konnten. Es waren gigantische und sagenumwobene, daran bestand kein Zweifel. Denn ehe Frau Schwalbe den Code eintippte, hob sie die Augenbrauen und befahl: »Jetzt schauen Sie mal weg.«
Dieser Satz sollte in der Residenz zu meinem Leitmotiv werden. Schon saß ich in Frau Schwalbes Büro und sah, wie sie sich über meine Bewerbungsunterlagen beugte, darin immer wieder blätterte, als suche sie etwas, und meinen beruflichen Werdegang studierte. Sechs Wochen Garderobier im Ratskeller Merseburg, ein Jahr Pflegehelfer im Bezirkskrankenhaus für Psychiatrie in Leipzig-Dösen. Den Rest hatte ich verschwiegen, und an der Garderobe hatte ich … Und was ging das die Trulla im kackbraunen Kostüm an? Gleich würde sie mir danken und das Gespräch beenden. Es tut mir leid, aber Ihre bisherige Karriere … Was, wenn jetzt ihre Perlenkette am Hals platzen und sich ein Schwall potthässlicher Perlen über die Auslegware ergießen würde, auf Nimmerwiedersehen. In zehn Page 9Jahren, während einer Teambesprechung, würde genau das passieren. Aber jetzt saß ich erst einmal da, und Frau Schwalbe räusperte sich.
»Nun, wie geht man in der Ostzone mit Inkontinenten um?«
Großer Gott, wer oder was waren Inkontinente? In meiner Magengegend zog sich etwas zusammen.
»Im Osten ist das nicht erlaubt«, sagte ich.
»Ach, kommen Sie. Irgendetwas werden Sie doch gemacht haben!«
Vorsichtig beäugte mich Frau Schwalbe. Ich spürte, dass meine Aussicht, hier einen Job zu ergattern, gleich Null war, wenn nicht schleunigst ein Wunder geschah.
»Wer war Irmgard Breugel?«, fragte ich.
»Sehen Sie diese Steine dort?« Frau Schwalbe deutete aus dem Fenster, und ihre Stimme wurde sanfter. »Ihre Pudel liegen dort begraben. Irmgard Breugel liebte Pudel.«
Ich schwieg und wartete. Das war die Antwort? Irmgard Breugels Pudelgrabsteine? Ich dachte an ihr Porträt in der Eingangshalle. Vermutlich hatte sie die Köter auch geschenkt bekommen.
»Können Sie pulsen?«
Wer wäre so dämlich und würde jetzt nicht nicken und Ja! sagen? Ich kann alles, liebe Frau Schwalbe.
»Wie sieht’s aus mit Insulin?«
Wie sollte es damit aussehen? Insulin hieß Page 10meine erste CD, mit der ich in ein paar Monaten die US-Charts stürmen würde. In dieser Woche von Null auf Eins …
»Selbstverständlich.« Ich biss mir auf die Lippen.
»Dann kommen Sie mal mit. Ich zeige Ihnen noch, wie eine Badewanne funktioniert.«
Wir verließen das Büro und gingen in den Wohnbereich 1. Im Flur begegneten uns zwei Pflegekräfte. Frau Schwalbe grüßte sie wie die Zöglinge einer Besserungsanstalt. Im Bad hantierte sie an der Armatur. Echtes Wasser floss.
Und was kam jetzt? Zeigte sie mir einen Waschlappen?
Wenn sie mir prophezeit hätte, dass ich dreiundzwanzig Jahre später in ihrem Büro an ihrem winzigen Schreibtisch sitzen und in meiner Personalakte blättern würde – ich hätte die Notklingel gedrückt. Heute lese ich Frau Schwalbes Gesprächsnotiz: Freundlicher Flüchtling, trägt Damenwäsche, recht willig. Grundkenntnisse, Einweisung Bad. Vorerst Station 1.
Nach meiner Ausreise aus der DDR hatte ich die Orientierung verloren und schwitzte deshalb Blut und Wasser. Schon das Notaufnahmelager Berlin-Marienfelde hatte ich erst gefunden, nachdem ich stundenlang umhergeirrt und zunächst im Mercedes-Werk gelandet war. Als ich schließlich das Lager erreicht und dort gesagt hatte, dass ich Page 11mir vorstellen könnte, vielleicht und zunächst erst einmal und wenn es gar nicht anders ginge, in der Altenpflege … Acht Stellenangebote hatte man mir in die Hand gedrückt. Den kürzesten Arbeitsweg von Ritas Wohnung hatte ich bis zur Residenz am Grunewald.
Ehe ich die Residenz fand, ging und lief und rannte ich zwischen Roseneck und Hagenplatz umher. Die Gegend erschien mir wie eine Filmkulisse, in der Dallas oder Die Schwarzwaldklinik gedreht wurden. Keiner der wenigen Menschen auf den gepflegten Straßen kannte die Residenz. Mehrere Male lief ich an ihr vorbei. Es gab kein Schild draußen, nichts. Ein weißgetünchter Block, strahlend wie die Zähne in der Fernsehwerbung. Wurden die Wände hier mit Dentagard geschrubbt? Warum existierte die Residenz am Grunewald inkognito? Weil dort betagte Millionärinnen inkognito lebten. Ich stellte mir vor, dass sie nach Rosenöl dufteten und mir Schwänke aus ihrem Leben erzählten. Sie hatten keine Krankheiten, starben nicht und schmierten niemals mit Stuhlgang.
Die Einarbeitung an meinem ersten Arbeitstag beschränkte sich auf zwei Sätze: »Alle waschen, pampern, aus den Nestern raus und die Zimmer picobello. Wäschewagen steht im Bad, Abwurfwagen in der Spüle.« Schwester Gisela sprach und ging. Ich sollte mit ihr und Oberpfleger Rolf, dem Stationsleiter, arbeiten. Beide verschwanden in die obere Etage. Die Station 1 erstreckte sich über Page 12zwei Stockwerke mit verwinkelten, endlosen Fluren. Ich dachte an Albert Einstein. Von wegen nur das All und die Dummheit der Menschen sind unendlich! Nach einer Stunde glaubte ich, die Zimmer vermehrten sich nach dem Prinzip der Zellteilung. Schon das erste Bett, vor dem ich stand, gab mir Rätsel auf. Wie um alles in der Welt löste man das Bettgitter? Gab es einen Schalter? Musste man kräftig schütteln? Ich suchte und probierte. Minutenlang. Mein erster Schweißausbruch. Ich schlich um das Bett und kroch darunter. Vielleicht gab es zwischen Matratze und Bettgestell einen Drücker? Oder konnte man das Bettgitter überhaupt nicht lösen und sollte mit einer einfachen Hebeübung …
Es klatschte. Eine Ohrfeige von Frau Klinke, 102 Jahre alt. Sie lag im Bett. Ich hatte sie übersehen. Frau Klinke drohte mit den Fäusten. Ohne ihre Ohrfeige hätte ich in der nächsten Minute Kran gespielt. Eine Uhr begann in mir zu ticken. Du bist in der Probezeit!, zischte eine Stimme in mir. Beeil dich! Ich wollte Frau Klinke das Nachthemd ausziehen. Wir zerrten um die Wette.
»Er kann es nicht!«
Ich drehte mich um. Frau Salostowitz, die Bettnachbarin, sah mir zu und spielte Kommentatorin.
»Das schafft er nicht.«
»Jetzt schafft er’s doch.«
»Jetzt hat sie ihn.«
»Jetzt rollt er sie weg.«
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An diesem Morgen hatte mich die Hektik im Griff. Mir blieb keine Zeit für Gerüche, Ekel oder Angst. Wenn ich jetzt versage, werfen sie mich raus. Wenn ich jetzt versage, schlafe ich zwischen Müllkübeln. Wenn ich jetzt versage, wird der Westen so, wie es im Lehrbuch für Staatsbürgerkunde stand. Mir blieb auch keine Zeit zu staunen oder mich zu fragen, warum Frau Korn den Flur entlangschritt, sehr aufrecht, mit bedächtigen, würdevollen Schritten und einem Buch unterm Arm. Immerhin gab es an den Wänden im Flur Ballettstangen. Ab und zu gönnte ich mir dort ein Demi-plié. Und diese Tuben mit den Salben – wofür oder wogegen auch immer – machten sich ganz gut als Mikrofon. Ich zog den Wäschewagen weiter und trällerte Rock and Roll Star von Champagne.
»Alle fertig?« Die Stationsfrau stand plötzlich vor mir, Kaugummi kauend und reichlich mit Silberschmuck behangen.
»Fast«, brachte ich über die Lippen.
»Neue Aushilfe?«
»Fest.« Fest klang in diesem Moment wie lebenslänglich.
»Fast und fest.« Sie prustete los. Für Lady Silverstar war ich eine Eintagsfliege. Durchgeschwitzte Möchtegernis wie mich hatte sie schon oft erlebt. Zu melden hatte ich nichts, und morgen war ich wahrscheinlich weg vom Fenster. Da war es überflüssig, sich vorzustellen.
»Genau deshalb haben wir dich ins kalte Page 14Wasser geworfen«, erklärte mir Oberpfleger Rolf kurz vor Feierabend. »Hier muss man erst mal allein klarkommen.«
Und ich kam irgendwie klar. Frau Delbrück bewarf mich zwar mit Stuhlgang, und Frau Strohschneider wollte mich mit Erika-Luxus-Romanen bestechen, damit ich ihren Bronchialtee in den Ausguss schütte. Frau Schliepe fragte mich, ob ich in der Serie Das Erbe der Guldenburgs mitspiele. Als Fiesling.
Ich beschloss, die Frauen Zauberinnen zu nennen. Sie lachten und schrien, sie schwiegen und schimpften, sie unterrichteten mich. Die Zauberinnen arbeiteten mich ein.
Frau Wiedermeyer war die geheimnisvollste. Gelähmt von zwei Schlaganfällen, lag sie im Bett und rezitierte Balladen von Chamisso. Angeblich hatte sie einst Adenauer aus der Hand gelesen. Oder war es Bismarck gewesen? Egal. Jetzt war ich an der Reihe. Gespannt hielt ich meine Hand direkt vor ihre Augen. Frau Wiedermeyers Kopf begann zu zittern, und sie dehnte jeden Vokal.
»Komisch. Überall, wo sonst eine Frau steht, sehe ich bei Ihnen einen Mann.« Welch prophetische Gabe.
»Sie bleiben sehr, sehr lange hier!«
Jetzt reichte es aber. Ich drehte mich um und verschwand.
Auf Station 1 gab es einen Wettbewerb, ein Pflegen gegen die Uhr. Der oder die Langsamste Page 15wurde bei der Dienstübergabe mit Häme übergossen. Ich nicht. Ich wurde zum Turbopfleger. Das zählte. Das untere Stockwerk mit den achtzehn Zauberinnen war bald kein Problem mehr für mich.
»Du arbeitest wie eine Maschine!«, sagte Oberpfleger Rolf. Das klang für mich wie ein Lob. Den Vogel im Ich-bin-schneller-als-ihr-Spiel schoss ich schon nach wenigen Tagen ab, als ich hinauflief, um Rolf und Gisela zu fragen, ob sie meine Hilfe brauchten. Ich fand sie im Tagesraum. Fünf Zauberinnen saßen dort. Auf dem Tisch lag Schwester Gisela und vögelte mit dem Oberpfleger. Es war 9 Uhr morgens. Ich drehte mich um und hatte nichts gesehen. Ich war in der Probezeit und niemals im Tagesraum gewesen.
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Als ich vierzehn war, gewann Anett Pötzsch bei den Olympischen Winterspielen in Lake Placid im Eiskunstlauf die Goldmedaille. Ihrer Trainerin Jutta Müller schrieb ich einen Brief und erwähnte mein Alter. Ich wollte Eiskunstläufer werden und war zu alt für die Kreuzspirale und den dreifachen Rittberger. Sonst hätte Jutta Müller mir geantwortet und mich zum Probetraining nach Karl-Marx-Stadt eingeladen. Ich blieb in Schkopau und beschloss: Wenn schon kein Sieg bei den Olympischen Winterspielen, dann bei der Russischolympiade. In der siebten Klasse kannte ich sämtliche Vokabellisten im Russischlehrbuch für das Abitur auswendig. Die Vokabeln der Lehrbücher von der siebten bis zur zwölften Klasse wurden meine Mantras. Sechs, sieben, acht Mal am Tag leierte ich sie herunter. Ich wurde meine eigene Jutta Müller, spornte mich an, zeterte und lobte. An die Wände des Kachelofens im Kinderzimmer kritzelte ich mit Kreide meine Resultate und das Lernprogramm für den nächsten Tag. Natürlich genügten keine Vokabeln, um die Russischolympiade zu gewinnen. Im zweiten DDR-Fernsehprogramm sah ich Für Freunde der russischen Sprache, Filme aus der Sowjetunion mit deutschen Untertiteln. Meine Mitschüler lasen Bravo, ich Po Swjetu und Sowjetfrau. Frau Besenkraut, unsere Russischlehrerin, lieh mir ein Tonbandgerät und Bänder mit Texten Page 17zum Übersetzen. Ich wollte siegen. Um jeden Preis. Kam ich aus der Schule, begann das Training. Mindestens bis Mitternacht lernte ich. Wenn mein Kopf schmerzte, ging ich auf dem Friedhof spazieren. Hier versuchte mich niemand in Gespräche zu verwickeln. Ich brauchte Ruhe und Kraft für die nächste Trainingseinheit. Ich roch nicht den Gestank aus den Schloten des Buna-Kombinats. Ich sah auch keine schlohweißen Bäume, an denen Karbidstaub klebte. Ich träumte von der Kreisrussischolympiade, der Bezirksrussischolympiade, der DDR-Russischolympiade. Die internationale Russischolympiade in Moskau sollte mein Lake Placid werden.
Die Schulrussischolympiade war nur der Probelauf, um meinen Trainingsstand zu überprüfen. Drei Unterrichtsräume in der Wladimir-Iljitsch-Lenin-Oberschule hießen an diesem Nachmittag Stationen. In jeder Station erwartete mich eine Russischlehrerin.
Ich betrat Station 1, selbstverständlich im FDJ-Hemd, grüßte auf Russisch und nahm Platz. Ein Monolog war fällig. Frau Krieg lächelte mir zu. Ich sollte berichten, wie sich die FDJler meiner Klasse auf den Geburtstag Ernst Thälmanns vorbereiten. Ich konnte mir ausrechnen, was sie hören wollte. In jedem Jahr gab es irgendwelche Jubiläen, im letzten Jahr war unsere Republik dreißig Jahre alt geworden, in diesem hatte ich auf den soundsovielten Jahrestag des Siegs der Sowjetarmee Page 18gesetzt. Aber halb so schlimm – für alle möglichen Jahrestage hatte ich Texte auswendig gelernt. Ich rasselte meine Sätze herunter. Volle Punktzahl und Zusatzpunkt für meine Aussprache.
Station 2: Dialog! Frau Besenkraut stellte mir Fragen wie »Hast du einen Freund in der Sowjetunion?« oder »Welchen Beitrag leistest du zur Erfüllung der Beschlüsse des neunten Parteitages?« Ich bot zehn kleine Sequenzen, die ich mir zurechtgelegt hatte. Da ich auch hier nur fünfzehn Minuten verweilen durfte – anschließend läutete die Schulklingel, und ich hatte die Station zu verlassen –, musste ich mich kurz fassen, durch Originalität bestechen und in möglichst jeden Satz eine Vokabel, die im Russischunterricht noch nicht aufgetaucht war, unterbringen. Bei der DDR-Olympiade würde ich hier eins draufsetzen, aus meiner Hosentasche einen klitzekleinen Wandteller ziehen und ihn meiner Gesprächspartnerin zum Abschied schenken. Macht garantiert einen Zusatzpunkt.
Station 3: Übersetzen! Mein Schwachpunkt. So langweilig wie die Pflichtelemente beim Eiskunstlaufen, die so gähnend öde waren, dass sie nicht einmal vom DDR-Fernsehen übertragen wurden, obwohl Anett Pötzsch dort immer glänzte. Manchmal patzte ich beim Übersetzen. Aber nicht hier. Da konnte Frau Belzig so streng schauen, wie sie wollte. Die Belzig war nur so zickig, weil ihre Tochter Jana heute auch an der Olympiade teilnahm und höchstens Dritte wurde.
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Anett Pötzschs gefährlichste Rivalin war Linda Fratianne aus Kalifornien, meine Tanja Bandow von der Tereschkowa-Oberschule in Merseburg. Bei der Kreisrussischolympiade lieferten wir uns seit der sechsten Klasse erbarmungslose Gefechte. Tanja Bandow hatte Haare bis zum Arsch und galt als unschlagbar. Mittlerweile schlief ich nachts auf Wörterbüchern, weil ich hoffte, die Vokabeln würden so in meinen Kopf wandern. Es half nichts. Ich blieb ewiger Zweiter im Kreis Merseburg. Zwar mit deutlichem Punktabstand zur Drittplatzierten, irgendeiner Antje aus Schafstädt. Aber wen tröstete das? Bei der Weltmeisterschaft in Wien 1979 war Anett Pötzsch zweimal gestürzt, und die Fratianne hatte ihr Glück kaum fassen können. Ein Jahr später kehrte Anett auf das Siegerpodest zurück. Als bei der Siegerehrung die Hymne der Deutschen Demokratischen Republik erklang, saß ich vor dem Fernseher und heulte Rotz und Wasser. Die Fratianne sah blöd aus der Wäsche. Genau so würde es der Bandow gehen.
Im nächsten Jahr bat ich Frau Besenkraut, mich nicht für die Kreisrussischolympiade meines Jahrgangs zu nominieren. Das war der große Schachzug, den ich plante. Ich würde einfach ein oder zwei Schuljahre überspringen. Tanja Bandow könnte die Olympiade der achten Klasse und ich in der neunten oder zehnten gewinnen. So würde ich meiner Gegnerin aus dem Weg gehen und mir Zeit verschaffen, um meinem großen Ziel, der Page 20Goldmedaille in der zehnten Klasse, näherzukommen. Frau Besenkraut war von meinem Vorschlag begeistert. In den Russischstunden durfte ich jetzt Iswestija und Komsomolskaja Prawda lesen. Und ich entdeckte Merseburg-West. Nachmittags stieg ich auf mein Fahrrad und radelte die F91 entlang. Schkopau zu verlassen, auf dem Radweg neben der Fernverkehrsstraße, drei oder vier Kilometer, war eine Verheißung und Merseburg-West eine andere Welt. Die Straßen mit den Häuserblocks aus den sechziger Jahren waren nach sowjetischen Kosmonauten benannt. Neben dem Kosmonautenviertel befand sich die Garnison der sowjetischen Streitkräfte. Auf der Straße spielten Kinder und sprachen russisch. Das war Musik in meinen Ohren. Es dauerte nicht lange, und ich spielte mit Wadim, Waleri und Lena. In ein paar Jahren würden sie in die Sowjetunion zurückkehren. Der Gedanke tat mir weh. Aber es würde neue Wadims, Waleris und Lenas geben, und ich hätte dann Brieffreunde, die mir Luftpostbriefe aus ihrer Heimat schreiben würden. Die Sowjetunion war das fortschrittlichste Land der Welt. Ich wollte nach Leningrad und Kiew, in den Kaukasus und auf den Pamir, in die Taiga und nach Sibirien. Ich war glücklich, dass es die Garnison in Merseburg gab. Sie war ein kleines Stück Sowjetunion.
Ich gewann die Olympiade im Bezirk Halle. Als Frühstarter, der eine Klasse übersprang, durfte ich als Erster die Stationen absolvieren. Meine Page 21Leistungen würden die Messlatte sein für alle, die nach mir kamen und ihre Monologe und Dialoge abspulten. Mich umwehte eine Wunderkindaura. Selbst den Weg von der Tür zum Stuhl, auf dem ich Platz nahm, hatte ich geübt. Ich durfte nichts dem Zufall überlassen. Zu Hause im Kinderzimmer hatte ich den aufrechten Gang und ein zaghaftes Lächeln geprobt. Zu selbstbewusst durfte ich auf keinen Fall aussehen. Sonst gingen im schlimmsten Fall die Zusatzpunkte flöten. Ich wollte das kleine Sprachgenie sein, unbekümmert und bescheiden.
Nach der Olympiasaison beendete Anett Pötzsch plötzlich ihre Laufbahn als Leistungssportlerin. Es gab Gerüchte, dass sie in den Westen abhauen und bei Holiday on Ice auftreten wollte. Der Erfolg war ihr zu Kopf gestiegen. Nachdem die Pötzsch in unserer Republik den dreifachen Salchow und den dreifachen Toeloop lernen durfte, wollte sie durch die NATO-Staaten tingeln. Ein Glück, dass der Blödsinn zeitig genug entdeckt worden war. Von ihrer Flucht war im Westfernsehen noch nicht die Rede. Meine Eltern sahen jeden Abend Tagesschau, und einen Fluchtversuch der Pötzsch hätte sich die imperialistische Propaganda niemals entgehen lassen. Aber auch im DDR-Fernsehen tauchte Anett Pötzsch nicht mehr auf. Also musste sie etwas ausgefressen haben. In unserer Republik wurde niemand fallen gelassen, schon gar keine Olympiasiegerin. Offenbar fehlte ihr der Page 22gefestigte Klassenstandpunkt. Ich redete mir ein, dass die Eiskunstläufer aus der Sowjetunion, im Gegensatz zu der undankbaren Schlampe aus Karl-Marx-Stadt, ihre Heimat wirklich liebten. Von nun an drückte ich ihnen die Daumen. Irina Rodnina war zehnmal Weltmeisterin im Paarlaufen geworden. Darin zeigte sich die Überlegenheit des Sozialismus.
In der zehnten Klasse visierte ich die DDR-Olympiade an. Dort würde ein schärferer Wind wehen. Frau Besenkraut sagte mir, dass ich während der Winterferien die sowjetische Mittelschule in Merseburg besuchen durfte. Was für ein Geschenk! Jeden Tag in die Garnison! In der Mittelschule trugen Jungen und Mädchen Schuluniformen. Sie sprangen auf, sobald ihr Nachname gebrüllt wurde, und leierten zwei oder drei oder vier Sätze herunter, während Frau Lehrerin eine Zensur in ihr Heftchen kritzelte. Setzen. Die Zensuren wurden weder verkündet noch erläutert. Die gesamte Klasse starrte auf die schreibende Hand der Lehrerin, während die Schüler sich abstrampelten. Mir taten die uniformierten Jungen und Mädchen leid. Aber ich war nicht hier, um mitzuleiden.
Meine Eltern waren stolz auf meine Auszeichnungen, die Urkunden, Medaillen und die Reisen mit dem Freundschaftszug nach Kiew und Saporoschje. Erst als ihnen zu Ohren kam, dass ich im Sommer im Buna-Bad nur noch mit Russkis unterwegs war, fragte meine Mutter, ob ich es nicht ein Page 23bisschen übertreibe. Sie verstand mich nicht. Die meisten Schkopauer sprachen miserabel russisch, und mich interessierte nicht, wer am letzten Samstag im Westfernsehen bei Auf Los geht’s los! aufgetreten war oder in der Bundesliga einen Elfmeter verschossen hatte. Die lang gedehnten russischen Vokale, die Musik, die in Wörtern wie dostoprimjetschatjelnosti schwang, die Lieder von Alla Pugatschowa, die mir Wadim, Waleri und Lena auf ihren Kassettenrekordern vorgespielt hatten – das war meine Welt. Die Druschba-Trasse und die Pionierrepublik Artek. Matrjoschka, Buratino und die Märchen von Wladimir Wolkow. Die Länderwertung bei den Olympischen Spielen. Das Haus der Offiziere in Merseburg.
Dort fand sonntags tanjez statt. Fast immer war ich der einzige Deutsche dort. Dem tanjez fieberte ich Woche für Woche entgegen. Im hinteren Teil des Hauses befand sich das magasin, wo es nach Fisch, Schweiß und Parfüm duftete, und daneben eine Tanzfläche unter freiem Himmel, wo Männer miteinander tanzten, tranken und sich umarmten. Als ich das zum ersten Mal sah, stockte mir der Atem. Ich würde immer wieder hierher kommen, jahrelang, damit jemand seine Hand auf meine Schulter legte und mit mir russisch sprach.