Kitabı oku: «Identität im Zwielicht», sayfa 2

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Franzens Tweet war sarkastisch gemeint. Doch tatsächlich muss es genau darum gehen: um Mäßigung und um Differenzierung. Forderte man beispielsweise einen Nazi auf, sich zu mäßigen und zu differenzieren, so forderte man ihn implizit dazu auf, kein Nazi zu sein. Nazis können schließlich weder gemäßigt noch differenziert sein. Nazis sind radikale Ideologen, nicht nur Alltagsideologen, die wir alle unweigerlich sind, da wir die Realität gar nicht anders wahrnehmen können als durch die Filter unserer Vor-Prägungen, Vor-Erfahrungen, Vor-Urteile. Nazis sind Ideologen, die selbst zur Ideologie geworden sind.

Im besten Fall reflektieren wir unsere Vor-Prägungen, Vor-Erfahrungen und Vor-Urteile. Wir erkennen ihre Zufälligkeiten und Ungereimtheiten. Nur durch Checks & Balances vermittels anderer Weltbilder können diese kompensiert werden. Das Denken und Handeln von Nazis indes gründet auf einem hermetischen Weltbild. Im Jahr 2019 schrieb ich in der Neuen Zürcher Zeitung über den rechtsextremistischen Terroranschlag auf die Synagoge von Halle (Saale), Rechtsextremisten verfügten „über ein kohärentes Weltbild, mit dem sie ihr Tun legitimieren. So trüb die Quellen auch sind, aus denen sich dieses Weltbild speist, das Resultat ist klar. Wer Linksextremisten attestiert, sie handelten im Dienste kruder Ideologien und Weltbilder, muss Rechtsextremisten mit dem gleichen Maß messen. […] Das Weltbild der Rechtsterroristen … will selbst zur Welt werden. Es will die Differenz zwischen Bild und Welt, oder, wenn man so will, zwischen Kunst und Leben gewaltsam auslöschen, wie es auch die Differenz zwischen Volk, Staat und Gesellschaft, zwischen Gesetzgebung, Regierung und Rechtsprechung, zwischen Individuum und Masse auslöschen will.“23 Man könnte auch sagen: Die Soll-Identität der Welt wird mit der eigenen Gruppenidentität identifiziert – aus der unausweichlichen Enttäuschungserfahrung resultiert Gewalt. Natürlich ist dieses Prinzip nicht auf rechtsextreme Ideologien beschränkt. Es ist Kennzeichen aller Extremismen.

Rechtsextremismus im Speziellen und Extremismus/Autoritarismus/Totalitarismus im Allgemeinen bedeuten Entdifferenzierung im großen Stil, legitimiert durch hermetische Weltbilder und eiserne Identitäten. Die Konsequenz aller politischen Ideologien, die aufs entdifferenzierte Ganze zielen, ist Gewalt, da sie sich in der natürlichen Vielfalt menschlicher Existenz weder argumentativ noch in der emotionalen Tiefe durchsetzen können. Sie beginnt mit Verbalgewalt, mit Verzerrungen und Verunglimpfungen, mit strategischen Missverständnissen, mit der Einpferchung Einzelner in Gruppenidentitäten („die Schwarzen“, „die Männer“, „die Frauen“, „die Amerikaner“, „die Schwulen“, „die Chinesen“, usf.), verbunden mit der Abwertung ebendieser Gruppenidentitäten. Sie mündet in physische Gewalt, sobald die Verbalgewalt im Machtkampf an ihre Grenzen stößt.

Die Aufforderung sich zu mäßigen an einen abgedrifteten Neonazi zu richten, ist natürlich vergeblich. Das ändert nichts daran, dass Mäßigung und Differenzierung die Bedingungen der Möglichkeit im Kampf gegen alles Extremistische, Autoritäre, Totalitäre, Fundamentalistische, Grausame bleiben. Gibt man diesen Anspruch auf, dann ist klar, wer die besten Chancen hat, die Culture Wars des 21. Jahrhunderts zu gewinnen – Vereinfacher, Populisten, Aufwiegler, Schwarzweißmaler, Selbstgerechte. Anstatt also Mäßigung und Differenzierung für obsolet zu erklären oder in Tweets zu bespötteln, gälte es im Gegenteil, Mäßigung und Differenzierung zu intensivieren, ja, paradoxerweise, zu radikalisieren. Ausgerechnet der altgediente Populist Arnold Schwarzenegger, der im hohen Alter unerwartete Mäßigungs-und Differenzierungskompetenzen ausgebildet hat, sagte im Jahr 2017: „Die einzige Möglichkeit, die lauten, wütenden Stimmen des Hasses zu schlagen, besteht darin, ihnen mit lauteren, vernünftigeren Stimmen zu begegnen.“24

Im Folgenden werde ich, nach einem Abriss über die Kernanliegen der linksprogressiven Identitätspolitik, zwischen Thinking Identity Politics (Theorie der Identitätspolitik) und Doing Identity Politics (Praxis der Identitätspolitik) differenzieren. „Thinking Identity Politics“ verweist auf Theorien, Konzepte und Diskurse, die grob gesagt seit den 1960er-Jahren entstanden sind. „Doing Identity Politics“ verweist auf die identitätspolitische Praxis, insbesondere auf die Performanz und die Pragmatik in der Medienöffentlichkeit: Wie werden die Theorien von wem, wann und in welchen Kontexten konkret umgesetzt?

Die Kapitelbenennungen sind nicht trennscharf, da ich etwa in „Doing Identity Politics“ noch einmal näher auf die zuvor nur angerissene Theorie der Intersektionalität eingehen werde. So zeigt sich schon am Beispiel der Kapitelbenennungen, dass Identifizieren keine leichte Aufgabe ist. Was gehört wohin? Was muss wo stehen? Die eine oder andere argumentative Volte, die eine oder andere Abschweifung, das eine oder andere Ungefügige habe ich im Manuskript belassen. Es schien mir die Unmöglichkeit eindeutiger, linearer Identifizierungen wie auch unsere realen, mal kreisenden, mal mäandrierenden, mal sprunghaften Denkbewegungen zu veranschaulichen.

Des Weiteren werde ich zwischen einem deskriptiv-analytischen und einem präskriptiv-ideologischen Gebrauch der Identitätspolitik unterscheiden. Identitätspolitik kann dazu dienen, Verhältnisse zu beschreiben und zu analysieren. In diesem Fall untersucht sie, wie Menschen ihre eigenen Identitäten und die von anderen konstruieren; wie ihre äußeren Lebensbedingungen ihre Identitäten prägen; wie sich diese mal frei gewählten, mal aufgezwungenen Identitäten politisch artikulieren und welche kulturellen Äußerungen damit einhergehen. Ein solches identitätspolitisches Verfahren schafft Grundlagen für seriöse Theoriebildung, zivilgesellschaftliches Engagement und politische Entscheidungsfindungen. Genau genommen handelt es sich nicht um Identitätspolitik, sondern um Identitätsanalyse.

Identitätspolitik kann aber auch dazu dienen, Menschen eine Identität zu- oder vorzuschreiben und sie mit einer Gruppe gleichzusetzen. Der Soziologe Alvin W. Gouldner untersuchte schon in den 1950er-Jahren, wie soziale Identitäten „zugeordnet“ (assigned), diesen bestimmte Charaktereigenschaften „zugewiesen“ (imputed) und Menschen auf Basis „kulturell bestimmter (prescribed) Kategorien“ „klassifiziert“ (classified) werden.25 Das bedeutet: Weil du diese oder jene Eigenschaft hast, etwa die Hautfarbe schwarz oder das Geschlecht männlich, kannst du kaum anders als so und so zu sein. Was immer du tust – durch dich spricht nicht nur die Struktur, in der du lebst, du bist die Struktur!

Ein solches Vorgehen ist einerseits überaus heikel – Stichwort Sippenhaft –, andererseits kann keine Gesellschaft ohne soziale Zuweisungen und damit verbundene Erwartungen, Rechte und Pflichten existieren. Identitätskategorien sind notwendig für Orientierung in der Welt. Genau deshalb dürfen sie nicht zur Welt werden. Es macht einen gewaltigen Unterschied, ob ich beschreibend feststelle: Viele ältere weiße Männer wählen die AfD. Oder ob ich insinuiere: Sie sind ein alter weißer Mann und neigen deshalb vermutlich der AfD zu. Die erste Feststellung ist nüchtern und sachlich. Auf dieser Basis lässt sich konstruktiv analysieren: Wie kommt es, dass die AfD für soundsoviele ältere weiße Männer attraktiv ist? Dann beginnt die politische Arbeit.

Die zweite Feststellung ist eigentlich keine Feststellung, sondern eine identitäre Unterstellung. Sie wiederholt die Fehler früherer Generationen, die Einzelne reflexhaft in Gruppen einsortierten und ihnen Werte zuwiesen. Die Einzelfallprüfung erübrigte sich dadurch. Dass soundsoviele ältere weiße Männer die AfD wählen, sagt noch nichts über einzelne ältere weiße Männer aus, genauso wenig wie es etwas über einzelne jüngere weiße Frauen aussagt, dass viele jüngere weiße Frauen Shows von Heidi Klum anschauen. Zwischen der Geschichte eines weißen Soldaten der polnischen Heimatarmee, der im Zweiten Weltkrieg erst von Nationalsozialisten und dann von Kommunisten gejagt wurde, und der eines deutschen weißen Geschäftsmanns, der dem Nationalsozialismus anhing und von ihm profitierte, liegen Welten. Und wie konnte es eigentlich passieren, dass bei der Landtagswahl in Sachsen 2019 ausgerechnet weiße männliche Wähler aus der Altersklasse Ü-60, darunter viele Rentner, den Durchmarsch der AfD verhinderten?26 Oder dass Donald Trump bei der Präsidentschaftswahl 2020 unter weißen Männern an Zuspruch verlor, bei Frauen, Afroamerikanern und Lateinamerikanern hingegen Stimmen gewann?27

Die entscheidende Frage ist also, wie Identitäten zugeschrieben werden und wie mit ihnen umgegangen wird. In diesem Zusammenhang kommt mir ein Interview mit dem britischen Künstlerpaar Gilbert & George in den Sinn, das ich 2020 in der Kunsthalle Zürich führte. Seit Jahrzehnten wohnen die beiden als offen homosexuell lebende, politisch jedoch konservative Künstler im multikulturellen Londoner Eastend. Multikulti sei nie ein Problem gewesen, sagten die beiden – „bis die Mullahs kamen“. Das bedeutet: Viele Menschen, egal woher sie kommen, haben ein eher pragmatisches, undogmatisches Verhältnis zu ihrer jeweiligen kulturellen, religiösen und/oder politischen Identität. In der Lebenspraxis begrenzen sie die Geltungsansprüche ihrer Kultur, Religion oder politischen Haltung aus freien Stücken, solange andere das auch tun. Weder versuchten Gilbert & George ihre Stadtteilmitbewohner von den Segnungen des Konservatismus oder der Homosexualität zu überzeugen, noch versuchten diese, Gilbert & George zur Heterosexualität, zum Islam, zum Hinduismus oder zum Buddhismus zu bekehren. Solange es sich so verhält, gelingt eine friedliche Pluralität der Identitäten. Schwingen sich jedoch Einzelfiguren oder Gruppen zu Anführern einer Kultur – verstanden als ein Kollektiv mit einer exklusiven Identität – auf, um diese vermittels dogmatischer Lehren zu repräsentieren, setzt sich die unheilvolle Spirale des identitären Kulturkampfs in Gang. Auch Theorien können dazu beitragen, wenn sie geschlossene Denkstile ausbilden und sich Kollektive um sie scharen: „Die Gemeinschaft der Theorie ist eine Glaubensgemeinschaft, die ausschließt, wer nicht an sie glaubt.“28

Das Problem sind somit nicht Identitäten an und für sich, insofern diese meist flexible, wabernde, an den Rändern offene Gebilde sind. Das Problem ist ihre Kodifizierung, ihre dogmatische Verengung, ihre gewaltsame Theoretisierung und ihre Repräsentation durch machthungrige Narzissten, die Menschen nicht in ihrer lebendigen Einzigartigkeit begreifen, sondern als Figuren auf dem Schachbrett der Macht. Sie sehen in Menschen stets nur Repräsentanten und Repräsentationen einer Kultur, einer Identität, einer Religion, einer „Rasse“, einer Partei, einer Ideologie, und immer so weiter. Sie sehen nur Schatten, nie Sonnen. Dabei eliminieren sie nicht nur die faktische Vielfalt, die jeden einzelnen Menschen innerlich wie äußerlich kennzeichnet: „Jeder einzelne Mensch ist schon eine Welt, die mit ihm geboren wird und mit ihm stirbt, unter jedem Grabstein liegt eine Weltgeschichte“, schrieb Heinrich Heine. Sie reduzieren auch Sympathie oder Solidarität auf die Zustimmung zu nur einem oder einigen wenigen Aspekten einer Identität.

Im Jahr 1949 sagte der damalige Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland Theodor Heuss: „Wir dürfen nicht immer sagen: Er ist ein Franzose – also; er ist ein Engländer – also; er ist ein Deutscher – also; er ist ein Jude – also. Nein, so geht es nicht. Wir müssen im Verhältnis Mensch zu Mensch eine freie Bewertung des Menschentums zurückgewinnen.“29 Seine Worte sind weiterhin aktuell. Aus einer vulgarisierten identitätspolitischen Haltung heraus wäre es ein Leichtes, Heuss abzukanzeln: Was ist schon das Wort eines alten weißen Mannes wert, der 1933 im Reichstag für das Ermächtigungsgesetz stimmte! Bezieht man aber die konkreten Umstände von Heuss’ Votum ein, etwa die Präsenz von SS und SA im Parlament und die Gewaltanwendung gegen diejenigen, die dem Gesetz nicht zustimmten, verkompliziert sich das Bild. Umso bewundernswerter die SPD-Abgeordneten, die mit „Nein!“ votierten. Wie viele der heutigen Social Justice Warriors hätten damals den Mut zum Dissens aufgebracht? Wir wissen es nicht und können es nicht wissen. Aber es ist doch bemerkenswert, wie viele Helden es immer dann gibt, wenn es keinen Heldenmut erfordert.

In allen bislang genannten Zusammenhängen gilt es, nicht denjenigen Scharfmachern oder aufmerksamkeitsökonomischen Schlangenölverkäufern auf den Leim zu gehen, die eine weltanschauungs- oder marktkonforme Zurichtung von Identitätspolitik anstreben. Für politische Schachspieler haben scharf umrissene Identitäten den Vorteil, dass sie gegeneinander ausgespielt werden können. Für Marktschreier den, dass sie sich wunderbar inszenieren und anpreisen lassen. Stattdessen will ich in diesem Essay, inspiriert von liberalen Denkerinnen und Denkern wie John Rawls (Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1971), Judith Shklar („Der Liberalismus der Furcht“, 1989), Mohomodou Houssouba (Teaching the Diaspora: Beyond Identity Politics, 1998), Martha Nussbaum (Kosmopolitismus. Revision eines Ideals, 2020), Amartya Sen (Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt, 2007), Jan-Werner Müller (Furcht und Freiheit. Für einen anderen Liberalismus, 2019) und Ayishat Akanbi (The Awokening: Clarity, Culture and Identity in the Web of Chaos, 2021) die Frage nach Gerechtigkeit und Fairness unter den Vorzeichen praktischer Philosophie ins Zentrum rücken: Welche Elemente der Identitätspolitik können dazu beitragen, das Leben gerechter, fairer, freiheitlicher zu gestalten? Und von welchen Elementen, vor allem im Bereich Doing Identity Politics, sollte man sich am besten verabschieden? Politisch leitend für mich sind die Begriffe Gerechtigkeit, Pluralismus, Freiheit, Langfristigkeit.

Im letzten Kapitel werde ich mich als Romantiker outen und für einen weiteren Begriff plädieren, den der „Imagination“. Kein Identifizieren ohne Imaginieren. Wer seine Fantasie verliert, und damit einen spielerischen, ironischen Umgang mit seinem Umfeld, arbeitet auf den sozialen Erstickungstod hin. Mitunter muss man Menschen begegnen, als ob sie andere wären als sie selbst, damit sie anders werden können, als sie es sind. Vorsicht, nun wird es ein wenig kitschig: Es schläft ein Lied nicht nur in allen Dingen, sondern auch in allen Menschen – „und die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort“ (Joseph von Eichendorff). Dieses Zauberwort lautet nicht „Identität“. Wer die Dynamik des Sozialen und die metaphysischen Mucken des Individuums ausblendet, wer Menschen auf ihren Ist-Zustand reduziert oder aufgrund nicht selbst gewählter Merkmale – wobei: welche Merkmale sind eigentlich genuin „selbst gewählt“? – vorverurteilt, trägt zu Verrohung bei. Im Sinne Rawls’ ist eine Konzeption nur dann gerecht und fair, wenn ihr „nicht nur zugrunde liegt, wer und was wir sind, sondern auch, wer und was wir sein könnten“.30

Identitätspolitik wird in diesem Buch folglich nicht als monolithischer Block verstanden, sondern als eine Maschine mit vielen Komponenten, die auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, aber auch mit anderen Maschinen verbunden werden kann. Im wahren Leben müssen wir nur selten zwischen Skylla und Charybdis wählen. Wenn nicht gerade Ausnahmezustand herrscht, können wir auf kritisch-pragmatische, aber auch spielerische Weise das Beste aus unterschiedlichen Bereichen nutzen – man muss nicht religiös sein, um der Losung „Prüft alles, das Gute behaltet“ (1 Thess 5,21) etwas abgewinnen zu können.

Das Gute aber bedarf der Kriterien. Wie oben erwähnt, ist mein Kriterium ein liberales: Ziel ist es, Gerechtigkeit in Vielfalt und Freiheit zu ermöglichen und dabei auf langfristig orientierte Verfahren zu setzen. Ich verorte mich in der Tradition dessen, was mit „egalitärem Liberalismus“ etwas missverständlich benannt ist, nämlich eines Liberalismus der Chancengleichheit, wie ihn Rawls entwickelt hat. In diesem Liberalismus ist nicht nur das Gerechte dem Guten vorgeordnet, es spielt auch die Verfahrengsgerechtigkeit eine herausragende Rolle: Ist nur das Ergebnis gerecht oder auch der Weg dorthin? Ich bin überzeugt: Ist der Weg, sind die Mittel ungerecht, wird auch das Ergebnis ungerecht sein.

Ungleichheiten werden im „egalitären Liberalismus“ nur dort akzeptiert, wo sie dem Wohl der – unverschuldet und ungewollt – Schlechtergestellten dienen. Ich betone „unverschuldet“ und „ungewollt“, denn Menschen können sich aus guten Gründen etwa dagegen entscheiden, mehr Geld zu verdienen als ihr Nachbar, weil sie weniger Stress haben wollen. Auf dem Papier sind sie nun „schlechtergestellt“, in ihrer Lebensrealität sind sie es nicht. Um was es hier dezidiert nicht geht, ist eine Identitätsolympiade, bei der die beste Identität gekürt wird. Wo die Grauzonen enden, beginnt im Politischen das Grauen.

3.Thinking Identity Politics. Theorien, Ideen, Diskurse

Vielleicht ist meine Selbstbeobachtung im ersten Kapitel ein Sinnbild für einen Umschwung, der, von den Vereinigten Staaten von Amerika ausgehend, mit der üblichen Verspätung die kontinentaleuropäische Medienöffentlichkeit, Politik und Bildungslandschaft erreicht hat. Es hat durchaus etwas Komisches, dass man heute im deutschsprachigen Raum über genau diejenigen Themen diskutiert, die in den USA schon in den 1980er- und 90er-Jahren für Wirbel sorgten, von Political Correctness über die Sichtbarkeit von People of Color (PoC) bis hin zu Identitätspolitik.31 Bereits 1995 publizierten Ron Strickland und Christopher Newfield das Buch After Political Correctness. 25 Jahre später ist von „after“ nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Die hitzigen Auseinandersetzungen zwischen Konservativen (in den USA = Rechtslibertäre) und Liberalen (in den USA = Linksprogressive), die Strickland und Newfield beschreiben, gleichen den heutigen Auseinandersetzungen in Europa fast aufs Haar.

Über die gerade in Deutschland beliebte Beschwörung des Niedergangs der USA vergisst man, dass die meisten global dominanten Trends, ob Technologien wie Social Media oder Kulturdiskurse, auch im 21. Jahrhundert weiterhin aus Amerika stammen. Dabei stellt sich grundsätzlich die Frage, ob man Debatten aus den USA einfach so für den europäischen Raum übernehmen kann. Oder ob man nicht einen differenzierteren, ortsspezifischen Weg einschlagen müsste. Kijan Espahangizi, einer der klügsten und eigenständigsten Migrations- und Rassismusforscher der Schweiz, legt das nahe: „Eine unkritische Übernahme von Kategorien des Rassismus in den USA, die letztlich auch durch die ganze Wucht der US-amerikanischen Kulturproduktion in die Sozialen Medien und weltweiten Diskurse gedrückt werden, erschwert … das Verständnis von Rassismen in anderen Ländern wie etwa der Schweiz. Ein zu starker Fokus auf den Gegensatz von ‚weiß‘ und ‚schwarz‘ überblendet tendenziell andere Geschichten des Rassismus und auch des Widerstandes dagegen.“32 So ist es beispielsweise möglich, dass Europäer, die in Europa aus der Sicht von anderen Europäern als nicht-weiß gelten, in den USA als Weiße identifiziert werden. Die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal erinnert sich an Konferenzen, „auf denen Amerikaner*innen bemängelt haben, es seien keine PoCs auf dem Podium, während dort zum Beispiel Leute saßen, deren Familien aus Griechenland oder aus der Türkei kamen. In Amerika wären sie weiß, hier sind sie PoC.“33

Wie dem auch sei: „Identität“ ist, mit dem Wissenschaftsphilosophen Thomas S. Kuhn gesprochen, zu einem Paradigma geworden, zu einem zentralen Bezugspunkt für Meinungsbildung, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft und viele andere Bereiche. In der „Identität“ steckt das lateinische „idem“, „derselbe“. „Identität“ bezieht sich auf das, was bestehen bleibt in all dem Wandel, den wir unweigerlich durchleben. Bildlich gesprochen verweist sie auf einen Kern, aus dem wiederum dieselbe Frucht entsteht, nachdem die Pflanze ihren Entwicklungszyklus durchlaufen hat. Ohne Identität gäbe es nur ein chaotisches Flirren von Teilchen. Eine Identität zu haben, bedeutet also zunächst einmal, ein konkretes und spezifisches Leben zu führen – ein Mann lebt und erlebt nicht (nur) wie eine Frau, eine Rechtsradikale nicht (nur) wie ein Linksmoderater, auf Homosexuelle reagiert die Mehrheitsgesellschaft anders als auf Heterosexuelle, wer in Simbabwe aufwächst macht andere Erfahrungen als ein Schwabe im Speckgürtel Stuttgarts. Und wer als Bauer einen Hof bewirtschaftet, rauft sich mitunter die Haare ob des Naturverständnisses von Großstädtern.

Identitätspolitik interessiert sich für genau diese Besonderheiten und rät dazu, politische Entscheidungen danach auszurichten. Allerdings fokussiert sie dabei nicht auf das Selbstverhältnis einzelner Individuen, sondern auf Gruppen, deren Mitglieder eine bestimmte Identität in einer bestimmten Hinsicht teilen, und die eine bestimmte Position innerhalb der Gesellschaft einnehmen. Dies setzt eine Definition der Identität als Relation voraus. Mathematisch formuliert: x Werte sind in Hinsicht y gleich. Wenn etwa in Stadt a und Stadt b die Arbeitslosigkeit jeweils zwei Prozent beträgt, ist die Arbeitslosigkeit in beiden Städten gleich hoch, ohne dass die Städte dadurch zu ein und derselben Stadt würden. Entsprechend können zwei Menschen oder Gruppen formal identische Erfahrungen gemacht haben, ohne dass sie dadurch zu ein und derselben Person oder Gruppe würden.

Schloss der europäische Humanismus deduktiv von der Idee der Menschheit auf den Menschen, also vom abstrakten Allgemeinen auf das konkrete Besondere, so geht Identitätspolitik seit den 1960er-Jahren umgekehrt, nämlich induktiv vor: Am Beginn stehen das Konkrete und Besondere, am Schluss steht das Allgemeine. Ob Frauenbewegung, Homosexuellenbewegung oder Indigenenbewegung – die vielfältigen internationalen Ausprägungen des im weitesten Sinne linksprogressiven Nachkriegsaktivismus verlagerten den Fokus vom Klassenkampf auf die Anliegen von Minderheiten. Nun waren es nicht mehr Großkollektive wie Völker, Religionen oder Klassen (das Allgemeine), sondern Minoritäten (das Besondere) innerhalb von Großkollektiven, denen die Anstrengungen sozialer und politischer Kämpfe galten. Mal gewollt, mal ungewollt verfestigte sich dabei der Gedanke, „dass jede Gruppe eine eigene Identität habe, die Außenstehenden nicht zugänglich sei“34. Erfahrungen sind teilbar, aber, so die Annahme, nicht das Erleben im Sinne der „subjektiven Wahrnehmung von Erfahrungen“35. Wer heute in einer Unterhaltung den Satz „das können Sie als [nach Belieben einfügen: Mann, Frau, Reiche, Armer, Schwule usf.] nicht nachvollziehen“ hört, dessen Gesprächspartner ist vermutlich mit den Grundlagen der Identitätspolitik vertraut.

In der so verstandenen Identitätspolitik steckt auf den ersten Blick ein gutes Stück Carl Schmitt: „Wer Menschheit sagt, will betrügen“, lautet ein berühmter One-Liner des Juristen. Tatsächlich gilt für Identitätspolitik jedoch: Wer „Menschheit“ sagt, bevor er „Mensch“ sagt, will betrügen. Diese Überlegung hat sich längst von der Minderheitenpolitik gelöst und ist wieder zu einem Bestandteil der Politik von Großkollektiven wie Nationen geworden. So hat etwa die neue Weltmacht China ihre identitätspolitische Lektion gelernt und mit leninistisch-marxistischer Ideologiekritik kombiniert. Die Kommunistische Partei Chinas wirft dem Westen vor, seine Interessen mit universalistischen Lippenbekenntnissen zu verbrämen und die spezifischen Erlebnisse der Chinesen nicht verstehen zu können: „Die Ungleichheit in der Welt sei so groß, dass die Anmahnung von Universalität ein manipulativer Trick sei von denen, die den Status quo der jetzigen politischen und kulturellen Machtverhältnisse erhalten wollen.“36 Wie wollte man es China auch verübeln – nach den Erfahrungen mit dem europäischen Kolonialismus, dem Opiumkrieg, den arroganten Fantasien westlicher Manager, China als „Werkbank der Welt“ dauerhaft ausbeuten zu können?

Wurde im Westen unter „Identität“ etwa bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts eine individuell-innerliche Identität verstanden, so sprechen wir heute über soziale, von äußeren Einflüssen und Strukturen geprägte Gruppenidentitäten. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat der Identitätsbegriff aus seiner wissenschaftlichen Nische, etwa in Erik Eriksons psychoanalytischen Schriften über die „Identitätskrise“ in den 1950er- und 60er-Jahren oder in Henri Tajfels Experimenten zur „sozialen Identität“ in den 1970er- und 80er-Jahren. Vielsagend ist, dass die beiden jüdischen Wissenschaftler traumatische Identitätskrisen erlebt hatten und ihre Identitäten während des Naziterrors der 1930er- und 40er-Jahre verschleiern mussten – weiter unten wird noch die Rede von „Personal Knowledge“ sein. Identitätserfahrungen sind oft Erfahrungen des – ungewollten – Identifiziertwerdens durch andere. Überschneidungen mit früheren Paradigmen, etwa Ethnie oder Kultur, waren und bleiben mit Blick auf das Identitätsparadigma unausweichlich. Die Trägheit des Sozialen verhindert, dass Paradigmenwechsel absolut sind. Um nur ein Beispiel zu nennen: Kaum war die atheistische Sowjetunion Geschichte, war die osteuropäische Volksfrömmigkeit zurück. Im Begriff der sozialen Identität überwintern unter anderem Ethnie und Kultur.

Die Entwicklung hin zur sozialen Identität geht nicht nur mit der Pluralisierung in westlichen Gesellschaften und dem Aufstieg der Soziologie zu einer Leitwissenschaft, sondern auch mit der Evolution der europäisch geprägten „culture of character“ hin zur US-amerikanisch geprägten „culture of personality“ einher.37 Während die traditionelle Kultur des Charakters auf Innerlichkeit und tradierte Moral bedacht war, dreht sich die postmoderne Konsumkultur der „Persona“ (lateinisch „Maske“) um Kommunikation, Öffentlichkeit, Vermarktung, und damit implizit um das Soziale. Nicht von ungefähr werden heute überall „Communitys“ ausgerufen, während – oft dieselben – Unternehmen, Institutionen, Organisationen zugleich vor alle möglichen Begriffe ein „my“ oder, wenn es volkstümlicher sein soll, ein „mein“ pappen: MYPROTEIN, my-Migros, Märklin My World, Mein ADAC, my-DOC, Meine Technikerkrankenkasse. Auch die angeblich letzte deutsche Volkspartei preist ihren Wählern die App Meine CDU an. Mit dieser navigiere man „individuell angepasst“ und erhalte „maßgeschneiderte Informationen“ direkt aufs Handy.

In identitätspolitischen Zusammenhängen geht es also nicht mehr nur um „die Menschen“, „die Kunden“, „das Volk“ oder „die Bürger“. Es geht, so wird suggeriert, ganz spezifisch um mich und meine „Community“. Man könnte das damit einhergehende Targeting immer exakter vermessener Identitäten in den Worten des Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama als „Master Concept“ bezeichnen – ein Konzept, das auch „viel erklärt, was in der globalen Politik vor sich geht“38. Denn mit der Ansprache spezifischer Identitäten gewinnt man, spätestens seit Barack Obamas Social-Media-Kampagne 2007/2008, die Wahlkämpfe der Gegenwart.

Das Paradoxe daran ist: Je pluraler und präziser die Identitätskategorien werden, desto klarer treten ihre Unzulänglichkeiten zutage. Wird beispielsweise ein Mensch nur anhand zweier Identitätsmerkmale klassifiziert, so gibt es genau eine Verbindung zwischen diesen. Wird er anhand von vier Identitätsmerkmalen klassifiziert, so sind es schon sechs Verbindungen. Je mehr Identitätsmerkmale bekannt sind, desto mehr Unbestimmtheitsstellen existieren, was die Relationen zwischen ihnen betrifft. Wie verhält sich die Hautfarbe zum Einkommen, wie das Einkommen zum Geschlecht, wie das Geschlecht zur Bildung, wie die Bildung zu Genen, wie die Gene zur Religion, wie die Religion zur Kultur, wie die Kultur zur Ideologie? Und immer so weiter. Mit dem Wissen wächst das Nicht-Wissen exponentiell. Dass parallel zur „Granularisierung“ (Christoph Kucklick) der Identitäten erneut diffuse Kollektivsingulare wie „Weiße“ und „Schwarze“ oder homogene Nationalkollektive mit angeblich eindeutigen kulturellen Identitäten konstruiert werden („die Ungarn“, „die Deutschen“, „die Russen“), ist auch eine Angstreaktion auf die explosionsartige Vermehrung von Mikroidentitäten.

In den USA findet Identitätspolitik ihren deutlichsten Ausdruck im Übergang vom republikanisch-religiös geprägten Civil Rights Movement hin zur (post)marxistisch-post-modern geprägten Bewegung Black Lives Matter. „Civil Rights“ verweist auf keine spezifische Identität, sondern auf allgemeine Rechte. „Black Lives“ hingegen verweist auf spezifische Rechtssubjekte. Beide Formen des Aktivismus schließen einander nicht aus. Vielmehr setzen sie ihre Hebel an unterschiedlichen Punkten an. Marxistisch gesprochen: Die Bürgerrechtsbewegung versuchte, die Nebenwidersprüche über den Hauptwiderspruch (Rassismus in der Gesetzgebung) aufzulösen. Black Lives Matter versucht, den Hauptwiderspruch über die Nebenwidersprüche aufzulösen, indem alle möglichen Formen der Diskriminierung, etwa gegen Behinderte, LGBTQIA*, Frauen, einbezogen werden. Auf das damit verbundene Modell der „Intersektionalität“ werde ich im Unterkapitel „Vom Besonderen zum Allgemeinen“ sowie im Kapitel „Doing Identity Politics“ genauer zu sprechen kommen. Während die Bürgerrechtler charismatische Führungspersönlichkeiten wie Martin Luther King hervorbrachten, ist Black Lives Matter darauf bedacht, ein dezentral und horizontal organisiertes Netzwerk zu bilden – nicht zuletzt, weil Bewegungen, die von prominenten Einzelnen abhängig sind, leichter torpediert werden können. Siehe Martin Luther King, der von einem Rassisten ermordet wurde.

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