Kitabı oku: «Ich geh stiften»

Yazı tipi:

Jörg Wolfram

ICH GEH STIFTEN

In 40 Tagen zu Fuß durch Deutschland –

1.150 Kilometer für mich und einen guten Zweck

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2016

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind

im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2016) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

„Weg an sich ist nichts, Ziel an sich ist nichts.

Eins steht erst da durch das andere.“

(Paul Richard Luck)

Für Marlene & Hannah

1. DIE IDEE

Nein, es war weder eine verlorene Wette im Fußballstadion, noch eine Schnapsidee beim vierten Bier auf der Junggesellenabschiedsparty einer meiner Freunde. Und doch scheint mein Vorhaben für viele Menschen in meiner Umgebung so verrückt zu klingen, dass die Frage nach dem Zustandekommen meines Projektes „Ich geh stiften“ eine der am häufigsten gestellten war.

Die Idee, einmal von der dänischen Grenze bis zur Zugspitze zu laufen und damit Deutschland einmal von Nord nach Süd komplett zu bewandern, kam nicht spontan, sondern hat sich über einige Wochen seit Frühjahr 2014 und damit mehr als zwei Jahre vor der Reise entwickelt.

Am Anfang stand das Buch „Ich bin dann mal weg“ von Hape Kerkeling, welches nicht von mir, aber einigen Menschen aus meinem Freundes- und Kollegenkreis gelesen wurde und dem einen oder anderem als Motivation diente, sich ebenfalls auf den Jakobsweg zu begeben. Und überhaupt nimmt Wandern und andere Arten von Aktivitäten in der freien Natur an Beliebtheit zu. Auch ich bin schon immer gerne draußen unterwegs gewesen. Das ging mit dem Dauercampingplatz meiner Eltern in der Dübener Heide in den 1970er-Jahren los und setzte sich später durch Urlaube oder Wochenendausflüge in der näheren oder ferneren Umgebung Leipzigs fort. Besonders gerne gehe ich dabei in der Sächsischen Schweiz, abseits der touristischen Highlights, wandern.

Also begibt sich anscheinend alles, was auf unserem Planeten gerne wandernd unterwegs ist, auf den Jakobsweg, wobei insbesondere in Frankreich und Spanien, aber auch in Portugal gepilgert wird. Getreu dem Ausspruch „Warum in die Ferne schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah!“ stand für mich dagegen von vornherein fest, wenn ich mich schon mal auf einen längeren Weg begeben sollte, dann würde ich zunächst einmal durch Deutschland wandern. Denn ganz viele Gegenden und Orte in unserem Land kenne ich bisher überhaupt nicht, bin nie dagewesen oder nur mit Auto oder Bahn vorbeigefahren. Und relativ schnell war auch klar, dass der Startpunkt weit im Norden und das Ziel auf der Zugspitze, dem mit 2.962 Metern höchsten Berg Deutschlands an der österreichischen Grenze, liegen müssten.

Damit war der Weg einer möglichen Reise skizziert, es blieb noch die Frage des Zeitpunktes. Dieser lag damals für mich klar definiert im Rentenalter, also circa in 20 Jahren. Dann hätte ich schließlich jede Menge Zeit, um ganz in Ruhe eine solche Strecke, für welche man wohl sechs bis acht Wochen benötigen würde, zu absolvieren. Allerdings stellte ich im Laufe der nächsten Wochen und Monate eine zunehmende eigene Begeisterung für ein solches Vorhaben fest, ich wurde im wahrsten Wortsinn Feuer und Flamme. Hinzu kam die Erkenntnis, dass mir – und das schon mit Mitte vierzig – einige körperliche Arbeiten etwas schwerer fielen als noch vor fünf oder zehn Jahren. So wurden die Säcke mit Rasenschnitt nicht mehr randvoll gemacht und auch die Schubkarre kam immer öfter zum Einsatz. Und daraus entwickelte sich der Gedanke, das Vorhaben nicht so lange aufzuschieben, sondern anzugehen, solange die körperliche Leitungsfähigkeit noch so ist, wie hierfür nötig. Ein konkreter Zeitpunkt für meine Wanderung kristallisierte sich im Spätsommer 2014 heraus, als ich eine spontane Fahrradtour, ich fuhr in zweieinhalb Tagen von Leipzig auf den Darß, hinter mir hatte und anschließend in Gesprächen mit meinen Freunden Jens J. und Christiana U. mal wieder über die Reise philosophierte. Irgendwann kam uns hierbei der Gedanke, dass es doch logisch wäre, meinen 45. Geburtstag – quasi als „Bergfest“ – auf der Zugspitze zu begehen. Damit war als Zielankunftsdatum der 21.07.2016 gesetzt. In den dann kommenden Wochen beschäftigte ich mich immer ausführlicher mit einer möglichen Streckenführung und plante zunächst in Flensburg zu starten. Nachdem ich in den Sommerferien 2014 und 2015 die Nordsee um Dagebüll kennen und schätzen gelernt hatte, verlegte ich den Startpunkt nach Klanxbüll an der dänischen Grenze, der letzten Bahnstation vor dem Hindenburgdamm in Richtung Westerland auf Sylt. Ich befasste mich nun mit einzelnen Tagesabschnitten, welche nicht kürzer als 20 Kilometer, aber auch nicht länger als 40 Kilometer sowie deren Zielorte groß genug für einen Supermarkt und für potenzielle Übernachtungseinrichtungen sein sollten. Ich schaute, dass ich durch Gegenden komme, welche ich noch nicht kannte und auch Städte auf der Route liegen würden, welche ich schon immer mal besuchen wollte.

Insgesamt ergab sich ein Wanderweg von circa 1.000 Kilometern Länge, welche ich in insgesamt 40 Tagen absolvieren wollte. Jede Woche sollte ein Ruhetag sein, als Starttermin stand im Sommer 2014 dann der 21.06.2016 fest.

2. DER GUTE ZWECK

Es war in der Vorweihnachtszeit 2014, als ich mich zum ersten Mal mit dem Gedanken beschäftigte, mein persönliches Vorhaben vielleicht mit einem guten Zweck zu verbinden. Für mich schien es geradezu folgerichtig, diese größere und sicherlich etwas ungewöhnliche Wanderung mit einem gemeinnützigen Projekt zu verbinden. Nun hat es mir schon immer Spaß gemacht, über zuweilen unkonventionelle Dinge zu brüten, kleine Feste oder Veranstaltungen zu planen, zu organisieren und schließlich auch zu moderieren. Warum dann nicht auch in einem solchen Bezug, wo ich gleichzeitig mir und aber auch Dritten etwas Gutes tun kann.

Die Überlegung lautete, möglichst viele der zu laufenden Kilometer abzuverkaufen. Nicht, dass ich diese dann nicht laufen müsste, sondern um zwei Effekte zu erzielen. Erstens würde mich jeder von Spendern übernommene Kilometer in meiner Motivation der Wanderung bestärken, zweitens ginge dieses Geld dann 1:1 an den oder die Begünstigten. Ob des „Verkaufspreises“ gab es im Kreis der involvierten Personen unterschiedliche Meinungen. Die einen tendierten zu einem Euro pro Kilometer, um damit möglichst viele Menschen zu erreichen. Ich persönlich war dagegen überzeugt, einen Preis von 10 Euro erzielen zu können. Zum einen war bei der Beschwerlichkeit der Gesamtstrecke jeder Kilometer schwer verdient, zum anderen gibt es in meinem Freundes-, Bekannten- und Kollegenkreis durchaus die finanziellen Möglichkeiten, auch etwas mehr beisteuern zu können. Und so entschied ich es dann auch recht schnell: Der Kilometer kostet 10 Euro. Sofern, und das war irgendwann natürlich mein geheimes Ziel, die gesamte Strecke von 1.000 Kilometern von fleißigen Spendern übernommen sein sollte, würden 10.000 Euro zusammenkommen.

Nach kurzer Zeit der Überlegung und wenigen Recherchen hatte ich mir drei Vereine der Kinder- und Jugendhilfe ausgesucht, für welche ich mit meiner Wanderung Spenden sammeln wollte.

Zum einen handelte es sich dabei um die Kinderarche Sachsen, welche jungen Menschen und Familien Halt und Hilfe gibt, diese bei Alltagsproblemen begleitet und fördert. Der Verein betreut in über 40 Wohn- und Tagesgruppen, Mutter-Kind-Häusern, Familienhilfen und Kindertagesstätten über 1.500 Kinder und Jugendliche, die zum Teil aus hoch belasteten Lebensverhältnissen kommen. Ziel der täglichen Arbeit der Kinderarche Sachsen sind starke und gesunde Kinder, die selbstbewusst durchs Leben gehen.

Weiterhin hatte ich mir das Kinderhospiz Bärenherz ausgesucht. Dieser Verein betreibt ein stationäres Kinderhospiz in Markkleeberg bei Leipzig, leistet einen ambulanten Kinderhospizdienst und unterbreitet pädagogische Angebote für die erkrankten Kinder sowie ihre Eltern und Geschwisterkinder. Darüber hinaus stellt auch die Trauerbegleitung einen wichtigen Teil der Arbeit des Kinderhospizes Bärenherz dar.

Und letztlich noch der Kinder- und Jugendclub Leipzig-Holzhausen, mit welchem ich seit vielen Jahren in meiner damaligen Funktion als Mitglied des Ortschaftsrates zusammengearbeitet habe und mit den Leitern Jana S. und Andre L. freundschaftlich verbunden bin. Dieser Verein hat sich die individuelle Förderung und soziale Integration von jungen Menschen auf die Fahne geschrieben, dient als Ansprechpartner bei sozialen, emotionalen und psychischen Problemlagen von Kindern sowie Jugendlichen und bietet sich als Unterstützer bei schulischen und arbeitsweltbezogenen Herausforderungen an.

Im Januar 2015 kontaktierte ich schließlich alle drei Vereine telefonisch, stellte mein Projekt vor und fragte, ob sie dieses als Spendenbegünstigte begleiten würden. Ich dachte mir schon, dass dies wohl keiner verneinen würde. Die ersten Reaktionen waren jedoch ziemlich einheitlich: eine Mischung aus Freude und Begeisterung, aber auch Skepsis und Hinterfragen. Ich vereinbarte mit den jeweiligen Ansprechpartnern persönliche Termine, um weitere Details zu besprechen.

Diese Begegnungen waren sehr herzlich und ich lernte dabei viel über haupt- und ehrenamtliches Engagement im Bereich der Kinder- und Jugendpflege und konnte mir ein genaueres Bild davon machen, wohin die Spendengelder fließen würden. Besonders bewegend war für mich der Besuch des Kinderhospizes in Markkleeberg. Wer einmal in einem Hospiz war, weiß, was die tägliche Arbeit mit und für schwerstkranke Menschen und ihre Familien bedeutet, zumal wenn es sich hier um Kinder und Jugendliche handelt. Ich bin aus diesem Termin anders hinaus- als hineingegangen. Dabei war es nicht nur die bewegende Konfrontation mit dem Tod, sondern vielmehr ein Gefühl der Dankbarkeit und des Trostes, dass es heute Einrichtungen gibt, welche sich für die Patienten und ihre Angehörigen hochgradig engagieren, um die verbleibende Zeit bestmöglich zu gestalten.

Und alle drei Vereine sind ganz wesentlich auf die Unterstützung von Dritten, insbesondere auf Spendengelder angewiesen, um auch künftig ihre Arbeit an und für Kinder und Jugendliche erbringen zu können.

Nachdem nun Reiseziel und Reisezeitraum feststanden, war noch die Frage des Reisebudgets zu klären. Einen Versuch, ganz ohne Geld auszukommen und mich gänzlich auf die Gastfreundschaft der Deutschen zu verlassen, verwarf ich schon im Moment der Überlegung. Das Gegenteil, nämlich jeden Abend im 5-Sterne-Hotel mit 4-Gänge-Menü zu nächtigen, schien mir aber genauso unangebracht. Schließlich fand ich die Verbindung zwischen meinem ureigensten Wanderprojekt und dem daran gekoppelten guten Zweck. Ich beschloss, dass mein Wanderbudget maximal zehn Prozent der Spendenzusagen betragen darf. Natürlich würde ich dieses Geld für Übernachtung, Verpflegung und sonstige anfallenden Kosten aus meinem eigenem Portemonnaie finanzieren, hätte damit aber einen großen Anreiz, schon im Vorfeld der Wanderung möglichst viele Spendenzusagen einzuwerben. Schließlich würde das Wissen um ein Dach über dem Kopf und einer warmen Mahlzeit am Tag das ganze Vorhaben etwas entspannter gestalten. Dies bedeutete, dass ich bei Spendenzusagen von 3.000 Euro ein Budget von 300 Euro, bei Spenden von 10.000 Euro ein Budget von 1.000 Euro zur Verfügung hätte. Eine reizvolle Herausforderung, wie ich fand, und ein selbstauferlegtes Reglement, welches mich während der ganzen Reise begleiten sollte.

Auf das zweiseitige Vorhaben, der Erfüllung eines Traums in Form der Deutschlandwanderung für mich einerseits und der damit verbundenen Spendenaktion andererseits, sollte schließlich noch ein passender Projektname aufmerksam machen. Der Slogan „Ich geh stiften“ kam mir irgendwann im Frühjahr 2015 tatsächlich beim Zähneputzen und sollte unbedingt doppeldeutig verstanden werden.

3. DAS TAGEBUCH

Nachdem nunmehr alle Rahmenbedingungen erfüllt waren und die Entscheidung für eine Spendenaktion feststand, ging es zunächst darum, eine möglichst breite Öffentlichkeit zu erreichen. Hierfür erhielt ich Hilfe von meiner Kollegin Doreen K., welche mich beim Erstellen einer Präsentation sowie der Gestaltung von Flyern unterstützte. Mein Freund Jens J. übernahm dankenswerterweise den technischen Part, er richtete eine Homepage ein und half bei deren Gestaltung sowie der eines entsprechenden Facebook-Profils. Damit hatte ich ausreichende Möglichkeiten, um im Kreis meiner Freunde und Bekannten, meiner Kollegen und bei den Vereinen selbst Werbung für mein Wanderprojekt zu machen.

Die Idee, ein Tagebuch zu schreiben, kam dann kurz vor der Wanderung und stammte nicht von mir. Im Gegenteil, ich konnte es mir wirklich nicht vorstellen, an jedem Abend die Erlebnisse des Tages zusammenzufassen und zu Papier oder in mein iPad zu bringen. Unnötige Arbeit aus meiner Sicht, zumal ich sowieso nicht der Typ bin, der gerne im Vergangenen lebt, Fotoalben anschaut und Reiseberichte liest.

Mein Vater, aber auch einzelne Freunde rieten mir aber eindringlich, meine Tagesereignisse zusammenzufassen, um einerseits diese nochmals am Ende eines Tages Revue passieren zu lassen und um andererseits in der vierten oder fünften Woche sich erinnern zu können, was denn in den ersten Tagen wo und warum geschah. Kein Gedanke bei mir oder bei den Ratgebern daran, vielleicht daraus im Anschluss mal ein Buch zu machen.

Da ich nun aber mit dem iPad die technische Voraussetzung ohnehin immer am Mann hatte und die Abende meistens allein verbrachte, gab ich meine innere Ablehnung auf und nahm mir vor, an den ersten Tagen mal das Schreiben eines Tagebuchs zu probieren. Es wieder einzustellen, war ja jederzeit möglich. Nicht alle Notizen sind taggleich entstanden, mitunter habe ich am nächsten Tag die Aufzeichnungen in Wanderpausen oder am Nachmittag und Abend nachgeholt. Und da ich ein eher rationaler als emotionaler Mensch bin, habe ich ganz sicher nicht die Gabe, das Erlebte so zu schildern, dass ein Dritter auch nur annähernd wahrnehmen kann, wie es mir in dieser oder jener Situation ergangen ist, wie äußere Eindrücke wirkten und was mich wie innerlich bewegte.

Daher sind die nachfolgenden Tagebucheinträge in aller erster Linie für meine eigenen Erinnerungen bestimmt und sollen helfen, mich auch noch in einigen Jahren oder vielleicht sogar Jahrzehnten wieder ein Stück in den, nein, in meinen Sommer 2016 zurückzuversetzen.

Sofern freundlich gestimmte Leser dieses Buches den einen oder anderen Gedanken nachvollziehen, Anregungen aufnehmen oder aber auch nur Spaß am Lesen haben sollten, wäre dies für mich natürlich eine Freude und auch Bestätigung, dass man eigene Meinungen durchaus mal revidieren und Ratschläge anderer annehmen kann.

4. TAGEBUCHEINTRÄGE

Der Vorabend

Donnerstag, 30. Juni 2016

Leipzig-Stötteritz

Eigentlich wollte ich schon seit fast drei Wochen unterwegs sein, allein dienstliche Belange hinderten mich am geplanten Start zum 11.06.2016. Zu wichtig waren die letzten Wochen und Monate, als das ich mich mit gutem Gewissen und damit auch in gewisser Hinsicht frei auf meinen Weg hätte begeben können. So hatte ich schon im Mai dieses Jahres eine Verschiebung um drei Wochen einkalkuliert. Anfang Juni stand dies dann endgültig fest und selbst in dieser Woche, ja bis zum heutigen Nachmittag waren unzählige Dinge im Büro zu erledigen, Gespräche zu führen und eine ordentliche Übergabe von Aufgaben sicherzustellen. Aber morgen nun, am 1. Juli 2016, soll es endlich so weit sein, soll die erste Tagesetappe in Angriff genommen werden. Die Fahrkarte von Leipzig nach Klanxbüll mit Umstieg in Hamburg hatte ich mir vor zwei Wochen bereits besorgt, und in den letzten Tagen hatte ich angefangen, die mitzunehmenden Sachen bereitzulegen.

Als ich später als geplant, kurz nach 18:00 Uhr, in unserer Wohnung in Leipzig-Stötteritz ankomme, herrscht wohltuende Ruhe, das ganze Haus und eben auch unsere Wohnung scheinen angesichts der bereits eingesetzten Schulferien wie ausgestorben. Die Perle ist mit ihrer Tochter bereits seit Dienstag zu einer Freundin nach Hamburg gefahren, um anschließend in Schwerin und an der Ostseeküste den Urlaub zu verbringen. Wir werden uns morgen zum Frühstück noch mal kurz in Altona sehen, bevor es für längere Zeit heißt, Abschied zu nehmen.

Ich entledige mich der Krawatte, des Hemdes und Anzuges, gieße mir ein Glas Pfälzer Riesling ein und fange konzentriert an, meinen neuen Rucksack mit den bereitgelegten Sachen zu füllen. Den Rucksack habe ich noch nicht unter Last beim Wandern getragen, lediglich eine Proberunde mit der geplanten Füllung habe ich absolviert. Also verstaue ich jetzt im unteren Fach den leichten Schlafsack und eine kleine Alu-Isomatte sowie Regenhose und Regenjacke. In das Hauptfach, welches sowohl von oben als auch von der Seite zu öffnen ist, kommen das Paar Trekkingsandalen für den Schuhwechsel, eine für mein Gefühl zu voluminöse Medizintasche mit diversen Pflastern, Kompressen, Salben und Cremes, mit Kanülen und Binden sowie Schmerztabletten und Antiallergikum. Des Weiteren verstaue ich hier das Wechsel an Unterhose, Strümpfe, Hemd und kurzer Hose, meine Fleecejacke, ein Handtuch, die notwendigen Hygieneartikel sowie eine wasserdichte Kiste mit den wichtigsten Papieren und Geldkarten, Feuerzeug sowie Nadel und Faden. Darüber hinaus verstaue ich noch eine kleine Tasche mit Handy und Powerbank, mit Stift und Ladekabel sowie 100 Euro Bargeld. Außen am Rucksack befestige ich meine Wanderstöcke, eine Allzwecktasse aus Aluminium sowie eine schön gestaltete Spendendose.

Nachdem ich noch einige Telefonate mit meinen Eltern und Freunden geführt habe, mache ich mich an das Ausräumen des Kühlschrankes, der in den nächsten zwei Wochen ungeöffnet bleiben wird. Ich bereite mir ein Abendessen und packe meine Verpflegung für den morgigen Tag ein. Neben zwei Flaschen Wasser besteht diese aus Salami, drei Brötchen, zwei Äpfeln und einigen Schokoriegeln. Ein kleines Frühstück wird es morgen ganz früh geben, ein etwas größeres dann mit der Perle in Hamburg.

Schließlich gieße ich in der ganzen Wohnung und auf der Dachterrasse sämtliche Pflanzen und hänge das iPad an die Ladestation. Dies ist auch lange Zeit Inhalt meiner Gedanken gewesen, immer ausreichende Akkuladung im Telefon und iPad zur Verfügung zu haben. Mit der Powerbank und dem Wissen, im zivilisierten Deutschland unterwegs zu sein und damit immer eine Steckdose in der Nähe zu haben, wähne ich mich auf der sicheren Seite und hoffe, nichts Gegenteiliges erfahren zu müssen.

Um kurz nach 22:00 Uhr liege ich schließlich im Bett, stelle mir entgegen meiner Gewohnheit den Wecker auf 05:00 Uhr und gehe im Kopf nochmals alle wichtigen Details durch. Ich beschließe, an alles gedacht zu haben und schlafe dann auch bald ein.

Abschied

Freitag, 01. Juli 2016

Zugfahrt Leipzig – Hamburg – Klanxbüll

Der Wecker klingelt, wie soll es anders sein, pünktlich um 05:00 Uhr. Todmüde und wenig inspiriert trotte ich ins Bad. Das Rasieren lasse ich heute gleich weg, auf den einen Tag kommt es bei den vor mir liegenden rasurfreien Wochen ohnehin nicht an. Ich benutze zum letzten Mal die elektrische Zahnbürste, das Trocknen der Haare nach dem Duschen geht seit dem gestrigen Friseurbesuch ratz-fatz. 12 Millimeter Kurzhaarschnitt sollen mich windschnittig machen.

Kurz vor halb sechs absolviere ich einen letzten Kontrollgang durch die Wohnung, erst im Februar haben wir diese bezogen und sind hier sehr schnell heimisch geworden. Mir ist bewusst, dass für die nächsten sechs Wochen ein Verzicht an gewisse Luxusgewohnheiten programmiert ist, und ich freue mich ehrlich darauf.

Ich wuchte mir den Rucksack auf den Rücken, laufe die vier Etagen im Treppenhaus hinab, der Fahrstuhl bleibt unbenutzt. Die in der Nähe befindliche S-Bahnstation Leipzig-Stötteritz erreiche ich bei blauem Himmel und schon wärmender Sonne, laufe die wenigen Stufen hinauf zum Gleis und fühle die Last schon jetzt an meiner Rückseite. Was soll’s, ab zum Leipziger Hauptbahnhof. 20 Minuten später sitze ich im ICE in Richtung Hamburg-Altona. Die Klimaanlage funktioniert so gut, dass ich mir bald meine Fleecejacke raushole, die Wanderschuhe ausziehe und tatsächlich bis kurz nach Berlin nochmals einschlafe. Bis Hamburg döse ich vor mich hin, freue mich sehr auf das Wiedersehen mit meiner Perle, schau aus dem Fenster und denke einfach mal an gar nichts.

Kurz vor zehn Uhr komme ich pünktlich in Hamburg an und nehme die Perle für einige Minuten in die Arme. Wir gehen zusammen mit ihrer Tochter zu einem Bahnhofsbäcker und gönnen uns ein für die nächsten Wochen letztes gemeinsames Frühstück. Unsere Gespräche sind von Erwartungen, Hoffnungen aber insbesondere bei ihr auch von einigen Ängsten geprägt. Die Perle ist ein sehr vorsichtiger, introvertierter Mensch, welcher die Dinge mehr mit sich selbst als mit Dritten ausmacht. Ich kenne sie jetzt aber lange genug, um ihre Gefühlswelt zu erahnen und spreche uns beiden Mut und Zuversicht zu. Nach einer Stunde stehen wir an meinem Anschlussgleis und umarmen und küssen uns zum Abschied. Ich wünsche ihr und ihrem Mauseschatz eine schöne, sonnige Ferienzeit und sie wünscht mir einen guten Weg.

Die Regionalbahn nach Westerland ist gut gefüllt und scheint überwiegend junge Menschen auf die Insel Sylt zu befördern. Die Stimmung im Wagon tendiert zwischen Schlafen, Handyzocken und Geschnatter. Ich habe mir Chillout-Musik auf die Ohren gelegt, noch ist nicht die Zeit für die große Stille und Einsamkeit. Vielmehr bietet sich mir die Gelegenheit, zurückzublicken auf nahezu zwei Jahre der Planung und Vorbereitung meiner nun anstehenden Wanderung.

Ich denke noch einmal an die Entstehung der Idee, an die ersten Überlegungen zur Streckenführung und an die Auswahl der Dinge, welche man auf einen sechswöchigen Weg mitnehmen sollte. Ich denke an die vielen Gespräche in der Familie, im Freundeskreis, beim Arbeitgeber und in den Ehrenämtern. Alles wollte wohl organisiert sein, denn mir war es wichtig, dass meine doch längere Abwesenheit zu keinen übermäßigen Belastungen bei den Zurückgebliebenen führt. Ganz besonders denke ich dabei an meine beiden Töchter Marlene und Hannah, welche ich vermissen werde. Aber auch an meine Frau Tanja, die nun die beiden „Pubertiere“ in alleiniger Obhut hat, zum Glück fällt meine Wanderung fast genau in die sächsische Ferienzeit.

Meine Gedanken wandern auch zurück in den November 2015, als ich erstmals auf einer Veranstaltung bei der Kinderarche Sachsen für meine Wanderung und damit für Spenden warb. Hier machte ich auch mein erstes Projektfoto – und das ausgerechnet mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière, welcher Gast auf eben dieser Veranstaltung war. Im Laufe des Winters und des Frühjahrs nutzte ich weiterhin viele Gelegenheiten, um mein Projekt in die Öffentlichkeit zu tragen. Und das Ergebnis war schlichtweg großartig! Bereits 14 Tage vor meinem heutigen Reisestart waren nicht nur alle Kilometer „verkauft“, sondern es hatten sich Spendenzusagen von fast 11.000 Euro angesammelt. In meinen kühnsten Träumen hatte ich auf 10.000 Euro zum Abschluss meiner Wanderung gehofft, nunmehr lag die Summe schon deutlich darüber.

Wie motivierend und beglückend dieses Ergebnis am Start der langen Wanderung für mich ist, kann ich gar nicht ausdrücken.

Während meine Augen aus dem Fenster schweifen, sehe ich auch meine wirklich nicht befriedigende körperliche Vorbereitung an mir vorbeiziehen. Ende 2014 hatte ich mich in einen naheliegenden Fitnessclub angemeldet und tatsächlich ein- bis zweimal wöchentlich den Weg dorthin gefunden. Mein Programm bestand hauptsächlich aus simulierten Steigerungswanderungen auf dem Laufband sowie Muskelaufbautraining für Bauch und Rücken.

An freien Tagen zog es mich bei schönem Wetter auch mal für Tageswanderungen in die Leipziger Umgebung, und auch meinen letzten Nordseeurlaub nutzte ich für längere Touren. Allerdings konnte ich ein solches Unterfangen nicht für eine Woche simulieren, dafür fehlte mir einfach die Zeit. Hinzu kam, dass ich in meiner Rolle als Mitglied des Gesamtbetriebsrates seit einem halben Jahr aufgrund intensiver Interessenausgleichsverhandlungen mehr in Frankfurt als in Leipzig und dazwischen Stammgast der Deutschen Bahn war. Auch hier bot sich wenig Gelegenheit, um gezielt im Ausdauerbereich zu arbeiten, sodass ich schon mit einigen Fragezeichen zu meiner sportlichen Fitness hier in der Regionalbahn sitze. Hinzu kommt die Tatsache, dass ich bis gestern 18:00 Uhr zu 100 Prozent und mehr unter engen zeitlichen Taktungen hauptsächlich geistig tätig war und mich ab heute Mittag einer körperlichen Belastung aussetze, deren Auswirkungen ich noch nicht absehen kann. Ich versuche, dies aber mit dem ganz guten Wissen um meine körperlichen und mentalen Fähigkeiten zu relativieren. Als ehemaliger Leistungssportler glaube ich, schon ausreichende Erfahrungen zu besitzen, um verantwortungsvoll mit mir auch in schwierigen Situationen auf meinem Weg umgehen zu können.

Je näher ich dem Ziel meiner jetzigen Bahnfahrt komme, umso dunkler werden die Wolken am Himmel. Die Sonne hat sich schon kurz hinter Hamburg verkrochen, erste Regentropfen klatschen an die Fensterscheibe. Mir wird nun mit aller Deutlichkeit bewusst, dass aus meinem bisher nur theoretischen Projekt eine praktische Wanderung, das aus dem gedachten Traum nun Realität werden wird. Und dass ich aufgrund der für die Spendensammlung notwendigerweise gesuchten Öffentlichkeit jetzt auch nicht mehr zurückkann. Ich habe mich selbst unter einen gewissen Erfolgsdruck gesetzt. Dieser Gedanke ist nicht neu und so habe ich mir zum Jahreswechsel 2015/2016 nur einen Satz als „Vorhaben“ auferlegt. Dieser lautet: „Du darfst auch scheitern können!“ Aber von meinem Naturell her werde ich alles versuchen, um meinen Traum bis zum Ziel zu leben, um über 1.000 Kilometer zu Fuß von der dänischen Grenze bis zur Zugspitze zu wandern. Bei allen Unklarheiten und einigen Befürchtungen überwiegt ganz klar die Freude, dass es nun endlich so weit ist, dass ich mich auf meinen Weg machen kann. Einen Weg, der mir zeigen wird, welch schöne Landschaften Deutschland zu bieten hat, wie gastfreundlich seine Einwohner sind, wie sich Natur verändert, aber auch wie leistungsfähig und leistungswillig ich mit Mitte 40 noch immer bin.

Da ertönt schon die Durchsage, dass wir sogleich Klanxbüll erreichen werden. Zeit, sich zu sammeln, aufzuraffen und in das Abenteuer zu schreiten.

Erste Schritte

Freitag, 01. Juli 2016

1. Wanderetappe, Klanxbüll – Dagebüll, 19 km

Mein Zug fährt pünktlich in den Klanxbüller Bahnhof ein, ein leichter Nieselregen heißt mich herzlich willkommen. Ich orientiere mich kurz, um die richtige, südliche Richtung aus dem kleinen Ort nahe der dänischen Grenze einzuschlagen. Die nächste Station der Bahn liegt schon hinter dem Hindenburgdamm in Westerland auf Sylt, erst im letzten Jahr bin ich mit der Perle und ihrer Tochter auf einen Tagesausflug dort gewesen.

Kurz nach 13:30 Uhr stehe ich schließlich am Ortsausgangsschild, schraube meine Wanderstöcke auseinander und stelle sie in die richtige Höhe ein, schnalle mir meinen Rucksack um und stehe vor den ersten Schritten auf meinem langen Weg. Während der Vorbereitungsphase auf meine Wanderung war ich fest überzeugt davon, ohne Stöcke zu laufen. Im von mir zu durchwandernden – überwiegend flachen – Land mit Wanderstöcken – das sieht doch einfach schräg aus! Es waren mein Vater, mein Kumpel Jo und letztlich meine Kollegin Yvonne S., welche aus eigenen Erfahrungen darauf drängten, ich solle Stöcke mitnehmen. Yvonne S. hatte gerade eine dreiwöchige Tour auf dem Jakobsweg in Portugal und Spanien hinter sich und verwies neben den körperlich entlastenden Tatsachen auch auf den meditativen Charakter des gleichmäßigen ticktack-Geräusches beim Aufschlagen der Stöcke auf festem Untergrund. Also habe ich mich noch Ende letzter Woche in der Karstadt-Sportabteilung vom Fachverkäufer beraten und überzeugen lassen. Meine Wahl fiel auf meinem Körpergewicht angepasste und bei hoher Belastung leicht nachfedernde Stöcke. Diese halte ich nun jetzt zum ersten Mal in meinen Händen und bin gespannt, wie es sich mit ihnen gehen lässt. Zumal mich hier ja auch keiner sieht, denn mein eingeschlagener Weg führt auf wenig befahrenen und erst recht nicht belaufenen Nebenstraßen zunächst nach Südwest in Richtung Nordseedeich. Und in Städten wie Hamburg oder Bamberg verschwinden die Wanderstöcke ohnehin in den Rucksack. Ich mache mich doch nicht zum Gespött der Leute.

Der leichte Nieselregen hält an, der Rucksack ist fest ans Becken geschnallt. Die Stöcke einsetzend verlasse ich Klanxbüll mit einer emotionalen Mischung aus Freude, dass es nun endlich losgeht und der Neugierde, was da alles in den nächsten Tagen und Wochen auf mich zukommen wird. Was machen Körper und Geist nach drei, vier oder 17 Tagen? Finde ich immer ein Dach über den Kopf für eine Übernachtung oder werde ich auch im Freien schlafen? Welche Begegnungen werde ich haben? Spielt die mich begleitende Technik immer mit? Fragen, welche mich bereits im Vorfeld begleiteten und auf welche ich in der Vorbereitung versuchte, Antworten zu finden. Aber es ist schließlich die erste derart lange und weite Tour für mich, da kann man (zum Glück) auch nicht alles planen. Nach einer gelaufenen Stunde frischt der Wind auf und der Nieselregen geht teilweise in Schauer über. Das fängt ja gut an! Ich laufe in der langen Wanderhose, meinem eigentlich „gutem“ Wechselhemd und in der Fleecejacke. In Elmsbüll lege ich einen kurzen Halt ein, um einige Fotos von der Landschaft und den typisch reetgedeckten Häusern zu machen. Anschließend geht es auf Dagebüll zu. Einen ersten Versuch, über den Deich entlang des Watts zu wandern, breche ich auf der Deichkrone ab. Zu stark kommt der Seitenwind aus Westen. Bisher ist mir noch kein Mensch über den Weg gelaufen.

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