Kitabı oku: «Zuber», sayfa 2

Yazı tipi:

„Was werden wir uns zu erzählen haben, Klaus“
oder: Die kindheit ein paradies 10

„Glück ist, wenn gräsergleich dich Erinnerung

Streift an den Schläfen. Wenn diese erste Welt

Der Blicke und der Benennungen wiederkehrt“

(Durs Grünbein, Die Jahre im Zoo)11

„Nichts ist mehr, was es war. Und deshalb sind auch wir

nicht mehr, was wir einst waren; wir müssen inzwischen etwas völlig

anderes geworden sein, aber wir wissen nicht genau, was.“

(W. G. Sebald, Echos aus der Vergangenheit)12

1

„Dann fangen wir an“, sagt F. und ist dann eine weile still; als überlegte er, wie er anfangen soll. – „Es ist ein schöner tag, ich habe meine schwester nicht getötet“, habe der Kalber Vitus wie zu sich selbst vor sich hingeredet13, als sie sich das erste mal zu ihm hinübergetraut habe, habe ihm die Jaist Kreszenz vom Blaaserhof erzählt, sagt F., denn, habe sie gesagt, es habe ja immer geheißen „Der spinnt!“ und „Dem ist nicht zu traun!“ und „Wie der schon dreinschaut!“ und „Es ist ja nichts geworden aus dem!“ und „Wie es die Schilcher Notburga nur aushält bei dem!“ und „Wenn der nicht im rollstuhl säße, wer weiß ..“. Hinterm Kalberhof im kalberschen obstgarten sei das gewesen, die apfelbäume hätten gerade geblüht14, sie habe die abkürzung in den friedhof hinauf durch eben diesen kalberschen garten genommen, wie es früher, als sie noch ein kind gewesen sei, „der Kalber Vitus, müssen Sie wissen, war ja mehr als zwanzig jahre älter als ich“, wie es früher halt überall üblich gewesen sei, da habe sich niemand um grenzen geschert – außer beim ackern und mähn, da sei nichts zugesperrt worden „wie heut“, bei dem einen oder dem anderen habe man sogar ohne zu fragen vom wenigen obst, das auf diesen mehr als tausend metern meereshöhe noch vor dem winter gereift sei, oder von den johannisbeeren15 essen können. Nur einmal, „das muß ich Ihnen jetzt erzählen“, habe die Blaaser Kreszenz an dieser stelle gesagt, sagt F., als der Kalber Vitus und der Blasegger Bonifaz auf den walcherschen kirschbaum hinauf seien, da sei der alte Walcher mit einem heustecken auf sie los – und auf den einbeinigen, den holzprothesenbehinderten Blasegger Bonifaz habe er derart eingedroschen, mit einer solchen wut, daß er ganz rot, kirschrot beinah geworden sei im gesicht und man schließlich den arzt habe holen müssen, nicht nur für den Blasegger Bonifaz. – „Es ist ein schöner tag, ich habe meine schwester nicht getötet“ –: Ja, da sei sie vielleicht siebzehn oder achtzehn gewesen, als der Kalber Vitus – „mit diesen beiden sätzen!“ – eine nur immer stärker werdende anziehungskraft auszuüben begonnen habe auf sie. „Nein, sechzehn“, habe sich die Blaaser Kreszenz korrigiert, denn es sei im dreiundsiebzigerjahr gewesen, als der Kalber Vitus „diese alles anfangenden obstgartensätze“ gesagt habe, „im mai, ja“, da erinnere sie sich genau; denn damals habe sie sich in Bozen – „in der Electronia“ – ihre erste musikkassette gekauft: The Dark Side of the Moon von Pink Floyd; den tag vergesse sie nie. Und am nächsten oder übernächsten tag sei sie eben, und sie wisse nicht, was der auslöser gewesen sei für ihren mut, die abkürzung durch den kalberschen obstgarten zu nehmen, vielleicht sei sie einfach gedankenlos, nein, eher wohl „voller Pink Floyd“, über den speltenzaun und, noch nicht mit beiden beinen auf kalberschem grund und boden, habe der Kalber Vitus –: „Mit diesen beiden obstgartensätzen hat er mich aufgetan.“ Drum sei dann schließlich zwischen ihnen geschehen, „was halt so geschieht zwischen mann und frau“, wenngleich seine querschnittlähmung – „Mein gott!, Mein gott!“ – –: „Ach was ist alles dies, was wir vor köstlich achten“, habe der Andreas Gryphius einmal, „so ungefähr!“, in einem gedicht gesagt; mehr sage sie dazu nicht, habe sie gesagt, sagt F.; und eine art monalisalächeln habe sich in ihr gesicht gelegt. – „Vielleicht an einem anderen tag ja einmal mehr.“

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„Dann fangen wir an“, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz im bozner Wirtshaus Vögele gesagt, wo sie sich, „wie aus alter gewohnheit?“16, verabredet hätten am letzten junidonnerstag in jenem achtzehnerjahr, das sie immer wieder im weiteren verlauf jenes ersten treffens als „sültzratherauferstehungsjahr“ bezeichnet habe bei jeder sich nur irgendwie ergebenden gelegenheit, und dann nach dem kellner gerufen und sich, vielleicht ja aufgrund des umstands, daß sie eben noch den sommer für sommer prallvollen marillenbaum an der friedhofzugewandten mauer des Kalberhofes im mund gehabt habe, als nachtisch die Marillen-Knödel mit Zimt-Mandelbrösel17 bestellt anstelle des als „sommerfrisch“ beworbenen Zitronenthymian-Honig-Halbgefrorenen mit geschmorten Kirschen „Rotwandterhof“, von dem sie bis zum eintreffen des kellners wie von etwas sehnsüchtig zu entdeckendem geschwärmt habe. Und er, „längst ungeduldig“, so F., die Blaaser Kreszenz endlich nicht in bloßen andeutungen und immer bloß satz- und ansatzweise und zwischen dem einen kauen und dem anderen kauen davon reden zu hören, was ihr der Vitus Sültzrather in jenen „sehnsuchtsstunden“, wie sie ihre gemeinsame zeit vorzugsweise genannt habe, „verraten“ habe, habe sich den nächsten Montenegro mit eis bringen lassen. Sie erzähle nur nach, habe sie dann, noch bevor der kellner das bestellte an den tisch gebracht habe, gesagt: „Ich erzähle nur nach“ – und, wie wenn endlich jemand einen erzählmotor angeworfen hätte in ihr, manchmal das andre vor das eine stellend, das ihr erzählte erzählt, zuerst aber noch einmal wiederholt und also aus den erinnerungskellern heraufgeholt, wie sie in den kalberschen obstgarten hinein sei, ihn nur durchqueren wollend, und wie dies nun die „initiation“ der verflechtungen ihrer beider geschichten zu der einen, gemeinsamen geschichte gewesen sei, von der sie aber nur am rande erzählen wolle. Denn zuerst müsse „in die nacht oder an den tag“ – „Halten Sie’s, wie Sie’s wollen!“ –, was der Vitus ihr anvertraut: Davon wisse, bisher, nämlich nur sie. – Jener obstgarten, im übrigen, in den sie im fernen mai dreiundsiebzig erstmals „eingedrungen“ sei18 – bei diesem wort habe sie sich, sagt F., zu ihm hingeneigt und mit einem augenzwinkernden lächeln leise gesagt: „wie aber der Kalber Vitus ja doch niemals in mich“ –, jener obstgarten, in dem die bäume tatsächlich noch bäume und die früchte noch nicht „unfehlbar und makellos“ gewesen seien und den der Vitus immer als seinen „kindheitsgarten“ bezeichnet habe, wenn sie dann, später, das wort „kindergarten“ danebengestellt habe19, von den kindergartenerfahrungen ihrer beiden kinder, ihrem Jonas und ihrer Julia20, erzählen wollend, habe sich kaum verändert mit den jahren, habe er erzählt, so seine kindheit aufbewahrend als eine, die dem neunzehnten jahrhundert in wirklichkeit näher gewesen sei21 als dem weltkriegsverheerten zwanzigsten, das an seinem ende ja als ein wirklichkeitsauslöschendes, als ein all die lebensgebirge scheinbar einebnendes, all die lebensebenen scheinbar auftürmendes sich gebärdet habe, so den menschen einen lebenseintopf, einen allzeit möglichen glückstopf vorgaukelnd22, in wirklichkeit aber größere unterschiede, abgründe und katastrophen zeitigend als all die zeit davor. So habe der Kalber Vitus es zu ihr gesagt, habe die Blaaser Kreszenz gesagt – und dann, unvermittelt, sagt F., und wie zusammenhanglos, während der kellner den teller mit den marillenknödeln vor sie hingestellt habe: „Wie hätte auch ich ein bub sein mögen, als kind!“

3

Wieder in der oberen stube, am gleichen tisch wie damals mit Rut, habe er gedacht, sagt F., und am Montenegro genippt; wie ihm alles sofort zur gewohnheit werde!, „wie sich alles wiederholt“. Und die Blaaser Kreszenz habe nun erzählt, wie alles angefangen habe: Wie ihr Vitus habe warten müssen, bis er an der reihe gewesen sei. Denn am selben tag, so habe er erzählt, habe die hebamme noch zwei buben auf die welt, vor ihm; und der eine, der nur mit einem bein ins leben hinein sei23 und der mit ihnen aber fußball gespielt habe von anfang an und der mit ihm hinauf auf die bäume sei, sei später auch auf die berge hinauf; der Blasegger Bonifaz sei ein guter kletterer gewesen, wendiger als viele zweibeinige, der sei am ende in die felsen gestürzt. An dem habe er sich kein beispiel genommen nach seiner querschnittbehinderung. Obwohl er von sich immer als von einem „glückskind“ geredet habe24, hätten sein vater und sein onkel, also des vaters lieblingsbruder und also sein lieblingsonkel, „obwohl – oder vielleicht gerade, weil ich mich an ihn nicht erinnere“, habe der Vitus gesagt, sei der, dessen name auch der seine sei, weshalb er anfangs oft erschrocken sei, wenn er auf dem grabkreuz dieses onkels seinen eigenen namen gelesen habe, doch nur monate nach seiner geburt gestorben, „gestorben an seinem kopf“, hätten sein vater und sein onkel, sein taufpatenonkel, auf dem heimweg von der taufe doch ein schwein vor sich hergetrieben, das – aber das habe damit nichts zu tun, habe der Vitus immer gesagt, wenn er davon erzählt habe, habe die Blaaser Kreszenz gesagt, sagt F. –, das wie immer im winter, „wie immer um neujahr herum“, geschlachtet werden sollte. Sein vater, habe der Vitus oft gesagt, habe weit über Aibeln hinaus den besten speck produziert; denn so, wie er seine bienen nicht mit zucker überwintert habe, nie zucker dazugefüttert habe, um dann mehr honig, „minderen“, aus den waben herauszuschleudern, habe er auch auf den fraß seiner schweine immer beide augen gehabt. Er wolle keinen „allesfresserspeck“, habe sein vater immer gesagt, wenn seine mutter etwa falsche essensreste in die weißblecherne schweinskanne in der küche habe schütten wollen, habe der Vitus gesagt.

4

„Wie alles angefangen hat“, habe die Blaaser Kreszenz gesagt – und wie der Vitus einmal gesagt habe, als sie wieder einmal in der von ihr nicht verstandenen „aperiodizität“ bei ihm gewesen sei in der nacht25 und also in jenen vormitternachtsstunden verzweifelter lustgraberei, heimlich und von niemandem gewußt, sozusagen als „gebenedeite medizin“ gegen seine „körperverlorenheit“ – „Wo hab ich dieses wort nur gehört?“ –, und die nach der erschöpfungsstummheit, wenn diese schließlich zur erschöpfungsstille geworden sei ein jedes mal, immer geendet hätten in Vitus’ kindheitserzählen, im graben „in jenem garten, jenem vergessensten, ja, und verwunschensten ort, in dem einmal niemand, niemand mehr gewesen sein wird“26, so habe der Vitus nämlich, „wortwörtlich“, habe die Blaaser Kreszenz gesagt, die kindheit genannt –, und wie der Vitus einmal gesagt habe, was er so gern geworden wär: „Kindheitsarchäologe, hat er gesagt“, sagt F., habe die Blaaser Kreszenz gesagt. Aber kein kindheitsarchäologe im allgemeinen, nein, das hätte ihn nicht interessiert, nie – „in keinster weise“, habe der Vitus gesagt, oder manchmal auch: „nicht im mindesten“ –, dann hätte er gleich „kindheitshistoriker“ werden können und „alles über den objektiven kamm scheren“, so habe er sich ausgedrückt; nein, kindheitserfinder im eigenen, selbstlebenserfinder, reisender in die ersten jahre hinab27, „die so voller verdichteter gegenwart sind“, habe der Vitus gesagt, daß sie „alles, was war“, daß sie all die zeit aufgesogen hätten wie ein schwarzes loch: ausgelöscht wie sein letztes werk, „damit alles bleibt, wie es gewesen ist“, habe der Vitus gesagt, und nicht erinnernd sich veränderte in ein anderes – und also verschwände. Was nicht erinnert werde, bleibe immer gleich. – Alles ausgegrabene, ja, habe noch die unschärfe der erinnerung, „diese scharfe unschärfe, Kreszenz“, habe der Vitus ein andermal gesagt, nicht scheuend die widersprüche oder die abweichungen, und sei noch auslegbar wie ein mythos, wie ein teppich oder wie der vogelflug – oder, habe er gesagt, „auch wie ein blatt tarot“: „Können Sie tarock? – Nein? – Soll ich Ihnen die zukunft weisen?“28 Denn sie habe ein tarockdeck in der tasche, „immer schon“, habe die Blaaser Kreszenz gesagt, sagt F., „sehen Sie?“; und den kellner rufend, habe sie begonnen, die karten vor sich auszulegen: zuerst den narren, dann den turm, dann den tod, „Zwei Montenegro, bitte!“, dann die sonne –29: „Wissen Sie“, habe sie gesagt, „wie sie mir meinen Jonas zerstört haben?“ Da habe ihr Jonas im kindergarten eine sonne gemalt, schwarz, ganz schwarz, kohlrabenschwarz; und da habe ihm „eine sogenannte tante“, die Tante L. habe ihm da, wie er weinend erzählt habe nach dem einschlafgebet, seine sonne zerrissen, zornig, habe er gesagt, „ganz zornig und laut“, und habe ihn angeschrien, was das denn solle, eine schwarze sonne, es gebe keine schwarzen sonnen, „Ja hast du noch nie eine sonne gesehn?“, sonnen seien gelb, oder golden, und wenn er nicht sofort eine gelbe, eine richtige sonne male, da gehe sie mit ihm hinaus und lasse ihn in die sonne schauen, „so lang“, habe sie geschrien, „bis du’s endlich begreifst“! Aber er habe ja eine nachtsonne malen wollen, in der nacht sei die sonne ja schwarz, „nicht, mama?“, sonst sähe man sie ja, wenn sie nicht schwarz wäre in der nacht! – Und nun, nachdem die Blaaser Kreszenz den Montenegro „in einem zug“ in sich hineingeschüttet gehabt habe, sagt F., habe sie erzählt, wie ihr der Vitus, nachdem sie ihm diese geschichte berichtet gehabt habe, erzählt habe, auch er habe eine schwarze sonne gemalt. „Ja, ja“, jetzt erinnere er sich, er habe immer, immer nur schwarze sonnen gemalt; eine nach der anderen, er erinnere sich: wie er im garten liege, auf dem bauch, wie er eine schwarze sonne nach der anderen male, wie seine mutter komme, wahrscheinlich habe er malend nicht gehört, wie sie ihn gerufen habe, so sehr müsse er in seine schwarzen sonnen versunken gewesen sein. „Essen, Vitus!“, jetzt erinnere er sich, wie sie sich die sonnen anschaut; eine nach der anderen habe sie in die hand genommen und sich angeschaut – und habe endlich gesagt, ihn hochhebend zu sich: „Schön, mein Vitusl, schön! Endlich malt einmal einer die sonne in der nacht – daß man sie sieht!“

5

„Willkommen in der welt!“, so habe ihm sein onkel Ignaz einmal geschrieben, aus Vancouver, wohin der ausgewandert sei nach dem krieg – „ohne sprache, ohne englisch“, habe der Vitus gesagt, sei der da hinüber und habe sich als holzfäller holzflößer ein leben gemacht, „daß er es drin zufrieden gewesen ist“ –, mit „Willkommen in der welt!“ habe ihn, den Vitus, nur ihn habe seine schwägerin morgen für morgen so geweckt und in den sommern und in den wintern –, immer, wenn das wetter einigermaßen „aushaltbar“ gewesen sei, habe sie ihn als erstes hinaus in den obstgarten geschickt: „Als die katzen ins haus durften, durftest du schon hinaus“30, habe ihm der onkel Ignaz geschrieben, habe ihr der Vitus erzählt –: Hinaus und in den „wärmeren jahrzeiten“ auf die paar kurzstämmigen apfelbäume hinauf oder im winter sich kugelnd zwischen den bäumen im schnee und an der gefrorenen wäsche reißend, die – „Wie lang?“ – an sonnigen wintertagen manchmal zum trocknen im freien gehangen sei –, „herumtollend“ also, bis er sich nicht mehr gespürt, bis es ihn „genägelt“ habe in den fingern und an den zehen, wenn er endlich wieder in die warme stube sei; oder watend im kleinen waal, in welchem das brunnenwasser31 aus dem garten hinaus und unterm speltenzaun hindurch und dann über den abhang dahinter hinunter in den Thinne Bach geflossen sei – wie sie sich auch noch erinnern könne, habe die Blaaser Kreszenz gesagt; oder mit den beiden kindheitshunden spielend, bastarde wahrscheinlich, Thea und Fips: an die er sich vielleicht noch erinnere, „wie ich mit denen spiel“, habe der Vitus gesagt, aber vielleicht seien es bloß die drei schwarzweißfotos, acht mal sechs und mit gezacktem rand, auf denen er im sommergarten stehe32: einmal an der hand des vaters, der sich hinunterbeuge zu ihm, während die mutter sich zu einem der hunde bücke, „werweißwarum“, einmal allein und dem einen hund ein paar margeriten hinstreckend, „während der andre im gras nach etwas zu wühlen scheint“, und einmal endlich hutlos in die kamera lächelnd unter dem zu einer tolle gekämmten, weißblonden haar neben dem einen an seiner dreiviertelhose schnuppernden hund, die paar margeriten noch in der linken hand –, vielleicht seien es diese drei fotos, die seiner erinnerung nachgeholfen hätten, und vielleicht hätten sie sie überhaupt erst auf die beine gestellt und in seinen schädel getan: „Willkommen in der welt!“

6

Schon damals, sagt F., in dieser „kurzen zeit der ewigen gegenwart“33, habe die Blaaser Kreszenz gesagt, sei der Kohlhaus Klaus, der etwa gleich alt, der nur ungefähr einen monat jünger gewesen sei als der Vitus, sein freund geworden: „mein kindheitsfreund ein ganzes leben lang“, wie der Vitus immer wieder gesagt habe34; und er sei es, so habe der Vitus weiter gesagt, auch wenn sie sich nach seinem sturz vom baugerüst kaum mehr gesehen hätten, die lebenswege seien danach halt einfach „vollkommen andere“ geworden, geblieben bis zu seinem, bis zu Klaus’ frühem tod. Und auch den Klaus hätte dessen mutter immer, wenn das wetter „einigermaßen aushaltbar“ gewesen sei, bald nach dem aufstehen ins freie geschickt, in den kohlhausschen garten hinaus; und durch eine lücke im zaun, da seien zwei drei spelten „ganz locker“ gewesen, sie hätten sie, habe der Vitus erzählt, immer wieder angelehnt, sodaß man lange nicht draufgekommen sei, wie der Kohlhaus Klaus denn in ihren, den kalberschen obstgarten gelangt sei, durch eine zaunlücke sei der Klaus dann herüber zu ihm, in seinen „kindheitsgarten“, wo sie sich nun die spiele erfunden hätten, die sie dann „einmal oder nie wieder“ ausprobiert hätten – oder die sie gespielt hätten, bis sie, so habe es der Vitus gesagt, „bis wir weit hinausgewachsen waren über unser spiel“35. – Und einmal, habe der Vitus nicht nur einmal erzählt, dabei das erzählte in den details variierend, einzelheiten verändernd, hier das eine weglassend oder dort ein anderes hinzufügend und auch die beteiligten personen vertauschend manches mal, einmal sei so ein spiel fast in den tod hinein. Da hätten sie, wie ja auch die kinder in der grimmschen geschichte Wie Kinder Schlachtens mit einander gespielt haben36, da hätten sie das schweineschlachten nachspielen wollen. Daran erinnere er sich, als sei es gestern gewesen, habe der Vitus gesagt, wahrscheinlich habe er sich dieses spiel „doch zu oft erzählt“. Der Staller Georg, mit einem kalbstrick festgebunden an den einen marillenbaum an der friedhofzugewandten hausmauer, blute schon am hals und der Blasegger Bonifaz hole schon mit einem küchenmesser aus, als in ihr „aufgeheiztes“ gejohle hinein – „Stich ihn ab! Stich ihn ab! Stich endlich den Georg ab!“37 – die Kohlhausmutter plötzlich aufgetaucht sei – und die habe „geschrien wie am spieß“, da seien sie alle „auf und davon“. Manchmal, habe der Vitus gesagt, nein, immer wieder hole ihn dieses schreien mitten im schreiben ein; da bringe er keinen ordentlichen satz mehr aus sich heraus. – Der Klaus habe danach lang nicht mehr zu ihm herüber gedurft; seine mutter, habe er ihm irgendwann erzählt, habe ihn damals im haus eingesperrt; aber auch von den anderen „spielgefährten“ sei in jenem sommer nur noch selten einer zu ihm. Da habe er vielleicht das alleinsein gelernt, das verlassensein –: im garten, „der mir bis dahin wie ein paradiesgarten gewesen war“38, habe der Vitus gesagt, „abenteuerlich übellos“. Am meisten habe ihm – „selbstverständlich!“ – der Klaus gefehlt. Wie lang diese zeit gewesen sei, er wisse es nicht. Aber es sei ihm vorgekommen „wie eine lange ewigkeit“, daß er mit dem Kohlhaus Klaus nicht mehr im hohen gartengras gelegen sei, kopf an kopf39; daß sie nicht miteinander in den himmel geschaut hätten, sich die auseinander-, die ineinanderfließenden wolkenbilder erzählend, diesen „tag für tag neuen wolkenfilm“.40

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