Kitabı oku: «Texte»
Josef W. Stalin
Texte
Impressum
Texte: © Copyright by Josef W. Stalin
Umschlag: © Copyright by Gunter Pirntke
Übersetzer: © Copyrigh by Walter Brendel
Verlag:
Das historische Buch, Dresden / Brokatbookverlag
Gunter Pirntke
Mühlsdorfer Weg 25
01257 Dresden
gunter.50@gmx.net
Inhalt
Impressum
Marxismus und nationale Frage
Einleitung
I. Die Nation
II. Die nationale Bewegung
III. Die Fragestellung
IV. Die national-kulturelle Autonomie
V. Der „Bund“, sein Nationalismus, sein Separatismus
VI. Die Kaukasier, die Konferenz der Liquidatoren
VII. Die nationale Frage in Rußland
Über die Grundlagen des Leninismus
Einleitung
I. Die historischen Wurzeln des Leninismus
II. Die Methode
III. Die Theorie
IV. Die Diktatur des Proletariats
V. Die Bauernfrage
VI. Die nationale Frage
VII. Strategie und Taktik
VIII. Die Partei
IX. Der Arbeitsstil
Marxismus und nationale Frage
Einleitung
Die Periode der Konterrevolution in Rußland brachte nicht nur „Donner und Blitz“, sondern auch Enttäuschung über die Bewegung, Unglauben an die gemeinsamen Kräfte. Man hatte an eine „lichte Zukunft“ geglaubt – und da hatte man gemeinsam gekämpft, einerlei zu welcher Nationalität man gehörte: Die gemeinsamen Fragen vor allem! Zweifel schlichen sich in die Seele, und man begann auseinanderzugehen, jeder in sein nationales Kämmerlein: Ein jeder baue nur auf sich selbst! Das „nationale Problem“ vor allem!
Im Lande vollzog sich unterdessen eine bedeutsame und jähe Wandlung des wirtschaftlichen Lebens. Das Jahr 1905 war nicht umsonst gewesen: Die Überreste der Leibeigenschaftsordnung auf dem Lande hatten einen weiteren Stoß erlitten. Eine Reihe von Jahren guter Ernte nach den Hungerjahren und der auf sie folgende industrielle Aufschwung brachten den Kapitalismus vorwärts. Die Differenzierung auf dem Lande und das Wachstum der Städte, die Entwicklung des Handels und der Verkehrswege machten einen großen Schritt vorwärts. Das gilt besonders für die Randgebiete. Dieser Umstand mußte aber zwangsläufig den Prozeß der wirtschaftlichen Konsolidierung der Nationalitäten Rußlands beschleunigen. Sie mußten in Bewegung geraten ...
In derselben Richtung, der des Erwachens der Nationalitäten, wirkte das „konstitutionelle Regime“, das sich in dieser Zeit durchsetzte. Die Entwicklung der Zeitungen und der Literatur überhaupt, eine gewisse Freiheit der Presse und der Kulturinstitutionen, die Zunahme der Zahl der Volkstheater und dergleichen mehr trugen zweifellos zum Erstarken der „nationalen Gefühle“ bei. Die Duma mit ihrer Wahlkampagne und ihren politischen Gruppen bot neue Möglichkeiten für die Belebung der Nationen, eine neue breite Arena für deren Mobilmachung.
Die von oben ausgehende Welle eines streitbaren Nationalismus, eine ganze Reihe von Repressalien der „Machthabenden“, die sich an den Randgebieten wegen ihrer „Freiheitsliebe“ rächten, lösten eine Gegenwelle des Nationalismus von unten aus, der mitunter in brutalen Chauvinismus überging. Das Erstarken des Zionismus unter den Juden, der wachsende Chauvinismus in Polen, der Panislamismus unter den Tataren, das Erstarken des Nationalismus unter den Armeniern, Georgiern und Ukrainern, die allgemeine Neigung des Spießers zum Antisemitismus – alles das sind allbekannte Tatsachen.
Die Welle des Nationalismus rollte immer stärker heran und drohte, die Arbeitermassen zu erfassen. Und je mehr die Freiheitsbewegung abebbte, um so üppiger kamen die Blüten des Nationalismus zur Entfaltung.
In diesem schweren Augenblick fiel der Sozialdemokratie eine hohe Mission zu – dem Nationalismus entgegenzutreten, die Massen vor der allgemeinen „Seuche“ zu bewahren. Denn die Sozialdemokratie, und nur sie allein, war dazu imstande, da sie dem Nationalismus die bewährte Waffe des Internationalismus, die Einheit und Unteilbarkeit des Klassenkampfes entgegen- stellte. Und je stärker die Welle des Nationalismus heranrollte, um so lauter mußte die Stimme der Sozialdemokratie für die Brüderlichkeit und Einheit der Proletarier aller Nationalitäten Rußlands erschallen. Besondere Standhaftigkeit war dabei für die Sozialdemokraten der Randgebiete erforderlich, die mit der nationalistischen Bewegung unmittelbar zusammenstoßen.
Aber nicht alle Sozialdemokraten zeigten sich auf der Höhe der Aufgabe, vor allem nicht die Sozialdemokraten in den Randgebieten. Der „Bund“, der früher die gemeinsamen Aufgaben betont hatte, begann nunmehr seine besonderen, rein nationalistischen Ziele in den Vordergrund zu rücken: Es kam so weit, daß er das „Feiern des Sabbats“ und die „Anerkennung des Jiddischen“ für einen Kampfpunkt seiner Wahlkampagne erklärte. Auf den „Bund“ folgte der Kaukasus: ein gewisser Teil der kaukasischen Sozialdemokraten, der früher zusammen mit den anderen kaukasischen Sozialdemokraten die „national-kulturelle Autonomie“ abgelehnt hatte, stellt sie jetzt als eine aktuelle Forderung auf. Schon ganz zu schweigen von der Konferenz der Liquidatoren die die nationalistischen Schwankungen diplomatisch sanktioniert hat.
Daraus folgt aber, daß die Auffassungen der Sozialdemokratie Rußlands in der nationalen Frage noch nicht allen Sozialdemokraten klar sind.
Offenbar tut eine ernste und allseitige Erörterung der nationalen Frage not. Es bedarf einer einmütigen und unermüdlichen Arbeit der konsequenten Sozialdemokraten gegen den nationalistischen Nebel, woher er auch kommen möge.
I. Die Nation
Was ist eine Nation?
Eine Nation ist vor allem eine Gemeinschaft, eine bestimmte Gemeinschaft von Menschen.
Diese Gemeinschaft ist keine Rassen- und keine Stammesgemeinschaft. Die heutige italienische Nation hat sich aus Römern, Germanen, Etruskern, Griechen, Arabern usw. gebildet. Die französische Nation ist aus Galliern, Römern, Briten, Germanen usw. entstanden. Dasselbe muß von den Engländern, Deutschen usw. gesagt werden, die sich aus Menschen verschiedener Rassen und Stämme zu Nationen formierten.
Also ist die Nation keine Rassen- und keine Stammesgemeinschaft, sondern eine historisch entstandene Gemeinschaft von Menschen.
Anderseits steht es außer Zweifel, daß die großen Staaten eines Cyrus oder Alexander nicht als Nationen bezeichnet werden konnten, obgleich sie historisch entstanden waren, sich aus verschiedenen Stämmen und Rassen gebildet hatten. Das waren keine Nationen, sondern zufällige und lose verbundene Konglomerate von Gruppen, die je nach den Erfolgen oder Niederlagen dieses oder jenes Eroberers auseinanderfielen oder sich vereinigten.
Also ist die Nation kein zufälliges und kein ephemeres Konglomerat, sondern eine stabile Gemeinschaft von Menschen.
Aber nicht jede stabile Gemeinschaft ergibt eine Nation. Auch Osterreich und Rußland sind stabile Gemeinschaften, jedoch nennt sie niemand Nationen. Wodurch unterscheidet sich die nationale Gemeinschaft von der Staatsgemeinschaft? Unter anderem dadurch, daß die nationale Gemeinschaft ohne gemeinsame Sprache undenkbar ist, während für den Staat eine gemeinsame Sprache nicht unbedingt erforderlich ist. Die tschechische Nation in Österreich und die polnische in Rußland wären ohne eine für jede von ihnen gemeinsame Sprache unmöglich, während die Integrität Rußlands und Österreichs nicht dadurch beeinträchtigt wird, daß es in ihnen eine ganze Reihe von Sprachen gibt. Es handelt sich natürlich um Sprachen, die das Volk spricht, und nicht um die offiziellen Kanzleisprachen.
Also Gemeinschaft der Sprache als eines der charakteristischen Merkmale der Nation.
Das bedeutet natürlich nicht, daß verschiedene Nationen immer und überall verschiedene Sprachen sprechen, oder daß alle, die ein und dieselbe Sprache sprechen, unbedingt eine Nation bilden. Gemeinsame Sprache für jede Nation, aber nicht unbedingt verschiedene Sprachen für verschiedene Nationen! Es gibt keine Nation, die gleichzeitig verschiedene Sprachen spräche, das bedeutet aber noch nicht, daß es nicht zwei Nationen geben kann, die eine Sprache sprechen! Die Engländer und die Nordamerikaner sprechen eine Sprache, und doch bilden sie nicht eine Nation. Dasselbe gilt von den Norwegern und Dänen, von den Engländern und Iren.
Aber warum bilden beispielsweise die Engländer und die Nordamerikaner, trotz der gemeinsamen Sprache, nicht eine Nation?
Vor allem deswegen, weil sie nicht zusammen, sondern auf getrennten Territorien leben. Eine Nation bildet sich nur im Ergebnis eines lang, andauernden und regelmäßigen Verkehrs, im Ergebnis eines Zusammenlebens der Menschen von Generation zu Generation. Ein lang andauerndes Zusammenleben ist aber ohne gemeinsames Territorium unmöglich. Die Engländer und die Amerikaner bevölkerten früher ein und dasselbe Territorium, England, und bildeten eine Nation. Dann siedelte ein Teil der Engländer aus England nach einem neuen Territorium, nach Amerika, über und bildete hier, auf dem neuen Territorium, im Laufe der Zeit eine neue, die nordamerikanische Nation. Die verschiedenen Territorien haben zur Bildung von verschiedenen Nationen geführt.
Also Gemeinschaft des Territoriums als eines der charakteristischen Merkmale der Nation.
Das ist aber noch nicht alles. Gemeinschaft des Territoriums ergibt an sich noch keine Nation. Dazu ist außerdem noch eine innere wirtschaftliche Bindung nötig, die die einzelnen Teile der Nation zu einem Ganzen vereinigt. Zwischen England und Nordamerika besteht keine solche Bindung, und darum bilden sie zwei verschiedene Nationen. Aber auch die Nordamerikaner selbst. würden nicht den Namen einer Nation verdienen, wenn die einzelnen Ecken und Enden Nordamerikas nicht untereinander. durch die unter ihnen bestehende Arbeitsteilung, durch die Entwicklung der Verkehrswege usw. zu einem wirtschaftlichen Ganzen verbunden wären.
Man nehme etwa die Georgier. Die Georgier aus der Zeit vor der Reform lebten auf gemeinsamem Territorium und sprachen eine Sprache, und dennoch bildeten sie, streng genommen, nicht eine Nation, denn, zerfallen in eine ganze Anzahl voneinander getrennter Fürstentümer, konnten sie kein gemeinsames Wirtschaftsleben führen, bekriegten sich jahrhundertelang, ruinierten einander, hetzten einander die Perser und die Türken auf den Hals. Die kurzlebige und zufällige Vereinigung von Fürstentümern, die herzustellen manchmal irgendeinem vom Glück begünstigten Herrscher gelang, berührte bestenfalls nur die administrative Oberfläche, sie zerschlug sich bald an den Launen der Fürsten und der Gleichgültigkeit der Bauern. Anders konnte es bei der wirtschaftlichen Zersplitterung Georgiens gar nicht sein ... Georgien trat als Nation erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Erscheinung, als die Aufhebung der Leib- eigenschaft und die Entfaltung des Wirtschaftslebens des Landes, die Entwicklung der Verkehrswege und das Aufkommen des Kapitalismus eine Arbeitsteilung. unter den einzelnen Gebieten Georgiens herbeiführten, die wirtschaftliche Abgeschlossenheit der Fürstentümer endgültig durchbrachen und sie zu einem Ganzen zusammenfügten.
Dasselbe muß auch von den anderen Nationen gesagt werden, die das Stadium des Feudalismus durchgemacht und den Kapitalismus in ihrem Lande entwickelt haben.
Also Gemeinschaft des Wirtschaftslebens, wirtschaftliche Verbundenheit als eine der charakteristischen Besonderheiten der Nation.
Aber auch das ist noch nicht alles. Außer allem Gesagten müssen noch die Besonderheiten der Geistesprägung der zu einer Nation vereinigten Menschen berücksichtigt werden. Nationen unterscheiden sich voneinander nicht nur durch ihre Lebensbedingungen, sondern auch durch ihre Geistesprägung, die in den Besonderheiten der nationalen Kultur ihren Ausdruck findet. Wenn England, Nordamerika und Irland, die eine Sprache sprechen, nichtsdestoweniger drei verschiedene Nationen bilden, so spielt hierbei keine geringe Rolle die spezifische psychische Wesensart, die sich bei ihnen infolge ungleicher Existenzbedingungen von Generation zu Generation herausgebildet hat.
Natürlich ist die psychische Wesensart, oder, wie sie anders genannt wird, der „Nationalcharakter“, an und für sich für den Beobachter etwas Ungreifbares, insofern sie aber in der einer Nation gemeinsamen Eigenart der Kultur ihren Ausdruck findet, ist sie greifbar und darf nicht ignoriert werden.
Es erübrigt sich zu sagen, daß der „Nationalcharakter“ nicht etwas ein für allemal Feststehendes ist, sondern sich mit den Lebensbedingungen ändert; aber da er in jedem gegebenen Augenblick existiert, drückt er der Physiognomie der Nation seinen Stempel auf.
Also Gemeinschaft der psychischen Wesensart, die in einer Gemeinschaft der Kultur ihren Ausdruck findet, als eines der charakteristischen Merkmale der Nation.
Damit haben wir alle Merkmale der Nation erschöpft.
Eine Nation ist eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen, entstanden auf der Grundlage der Gemeinschaft der Sprache, des Territoriums, des Wirtschaftslebens und der sich in der Gemeinschaft der Kultur offenbarenden psychischen Wesensart.
Dabei versteht sich von selbst, daß die Nation, wie jede historische Erscheinung überhaupt, dem Gesetz der Veränderung unterworfen ist, ihre Geschichte, ihren Anfang und ihr Ende hat.
Es muß hervorgehoben werden, daß keines der angeführten Merkmale, einzeln genommen, zur Begriffsbestimmung der Nation ausreicht. Mehr noch: Fehlt nur eines dieser Merkmale, so hört die Nation auf, eine Nation zu sein.
Man kann sich Menschen mit gemeinsamem „Nationalcharakter“ vorstellen, ohne jedoch deshalb sagen zu können, daß sie eine Nation bilden, wenn sie wirtschaftlich voneinander getrennt sind, auf verschiedenen Territorien leben, verschiedene Sprachen sprechen usw. Das gilt beispielsweise für die russischen, die galizischen, die amerikanischen, die georgischen Juden und die Bergjuden, die unseres Erachtens keine einheitliche Nation bilden.
Man kann sich Menschen mit gemeinsamem Territorium und Wirtschaftsleben vorstellen, aber ohne gemeinsame Sprache und gemeinsamen „Nationalcharakter“ werden sie dennoch keine Nation bilden. Das gilt z.B. für die Deutschen und die Letten im Ostseegebiet.
Schließlich sprechen die Norweger und die Dänen eine Sprache, aber sie bilden nicht eine Nation, weil die anderen Merkmale fehlen.
Nur das Vorhandensein aller Merkmale zusammen ergibt eine Nation.
Man könnte meinen, der „Nationalcharakter“ sei nicht eines der Merkmale, sondern das einzige wesentliche Merkmal der Nation, während alle übrigen Merkmale eigentlich nur Bedingungen der Entwicklung der Nation und nicht ihre Merkmale seien. Diesen Standpunkt nehmen zum Beispiel die in Österreich bekannten sozialdemokratischen Theoretiker der nationalen Frage R. Springer und besonders O. Bauer ein.
Untersuchen wir ihre Theorie der Nation.
Nach Springer „ist die Nation ein Verband gleichdenkender und gleichredender Personen, eine Kulturgemeinsdiaft moderner Menschen, die nicht mehr an die Scholle gebunden sind“.
Also „ein Verband“ gleichdenkender und gleichsprechender Personen, wie sehr sie auch voneinander getrennt seien, wo sie auch leben mögen.
Bauer geht noch weiter.
Was ist eine Nation? fragt er. „Ist es die Gemeinschaft der Sprache, die die Menschen zu einer Nation vereint? Aber Engländer und Iren ... sprechen dieselbe Sprache und sind darum doch nicht ein Volk; die Juden haben keine gemeinsame Sprache und sind darum doch eine Nation.“
Was ist denn nun eine Nation?
„Die Nation ist eine relative Charaktergemeinschaft.“
Was ist denn aber Charakter, in diesem Falle Nationalcharakter?
Der Nationalcharakter ist „die Summe der Merkmale, die die Menschen der einen Nationalität von den Menschen einer anderen Nationalität unterscheiden, der Komplex der körperlichen und geistigen Merkmale, der eine Nation von der anderen scheidet.“
Bauer weiß natürlich, daß der Nationalcharakter nicht vom Himmel herunterfällt, und fügt deshalb hinzu:
„Der Charakter der Menschen wird ... niemals durch etwas anderes bestimmt als durch ihr Schicksal“ ... „Die Nation ist nie etwas anderes als Schicksalsgemeinschaft“, die ihrerseits bestimmt werde durch die „Bedingungen, unter denen die Menschen ihren Lebensunterhalt produzieren und den Ertrag ihrer Arbeit verteilen“.
So gelangen wir, wie Bauer sagt, zur „vollständigen“ Begriffsbestimmung der Nation.
„Die Nation ist die Gesamtheit der durch Schicksalsgemeinschaft zu einer Charaktergemeinschaft verknüpften Menschen.“
Also nationale Charaktergemeinschaft auf dem Boden der Schicksalsgemeinschaft, betrachtet außerhalb des unbedingten Zusammenhanges mit der Gemeinschaft des Territoriums, der Sprache und des Wirtschaftslebens.
Was bleibt denn aber da von der Nation übrig? Von was für einer nationalen Gemeinschaft kann bei Menschen die Rede sein, die wirtschaftlich voneinander getrennt sind, auf verschiedenen Territorien leben und von Generation zu Generation verschiedene Sprachen sprechen?
Bauer spricht von den Juden als Nation, obgleich sie „keine gemeinsame Sprache haben“, aber von was für einer „Schicksalsgemeinschaft“ und nationalen Verbundenheit kann, sagen wir, bei den georgischen, daghestanischen, russischen und amerikanischen Juden die Rede sein, die voneinander gänzlich getrennt sind, auf verschiedenen Territorien leben und verschiedene Sprachen sprechen?
Die erwähnten Juden führen zweifellos mit den Georgiern, Daghestanern, Russen und Amerikanern ein gemeinsames wirtschaftliches und politisches Leben, in einer gemeinsamen Kulturatmosphäre mit ihnen; dies muß zwangsläufig ihrem Nationalcharakter seinen Stempel auf drücken; wenn ihnen etwas Gemeinsames verblieben ist, so sind es die Religion, die gemeinsame Abstammung und gewisse Überreste eines Nationalcharakters. Das alles steht außer Zweifel. Wie kann man aber ernstlich behaupten wollen, daß verknöcherte religiöse Riten und sich verflüchtigende psychologische Überreste auf das „Schicksal“ der erwähnten Juden stärker einwirken als das lebendige sozialökonomische und kulturelle Milieu, worin sie leben? Aber nur unter dieser Voraussetzung kann man ja von den Juden schlechthin als einer einheitlichen Nation sprechen.
Worin aber unterscheidet sich dann die Nation Bauers von dem mystischen und sich selbst genügenden „Nationalgeist“ der Spiritualisten?
Bauer reißt eine unüberbrückbare Kluft zwischen dem „Unterscheidungsmerkmal“ der Nation (dem Nationalcharakter) und den Bedingungen“ ihres Lebens auf, indem er sie voneinander trennt. Was ist denn aber der Nationalcharakter anderes als die Widerspiegelung der Lebensbedingungen, als ein Niederschlag von Eindrücken, die aus dem Milieu, worin die Menschen leben, aufgenommen wurden? Wie kann man sich allein auf den Nationalcharakter beschränken und ihn von dem Boden, der ihn erzeugt hat, absondern und trennen?
Ferner: Wodurch unterschied sich eigentlich die englische Nation am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von der nordamerikanischen, als Nordamerika noch „Neu-England“ hieß? hoch gewiß nicht durch den Nationalcharakter, denn die Nordamerikaner sind ja aus England gekommen, sie haben nach Amerika außer der englischen Sprache auch noch den englischen Nationalcharakter mitgenommen und konnten diesen natürlich nicht so rasch verlieren, obgleich sich unter dem Einfluß der neuen Verhältnisse bei ihnen gewiß ein eigener, besonderer Charakter herausbildete. Und doch bildeten sie damals trotz ihrer größeren oder geringeren Charaktergemeinschaft bereits eine von England verschiedene Nation! Offenbar unterschied sich damals „Neu-England“ als Nation von England als. Nation nicht durch einen besonderen Nationalcharakter, oder nicht so sehr durch den Nationalcharakter, als vielmehr durch das von England verschiedene Milieu, durch die Lebensbedingungen.
Somit ist klar, daß es in Wirklichkeit keinerlei alleiniges Unterscheidungsmerkmal der Nation gibt. Es gibt nur eine Summe von Merkmalen, aus denen beim Vergleich von Nationen bald das eine Merkmal (der Nationalcharakter), bald das zweite (die Sprache), bald das dritte (das Territorium, die wirtschaftlichen Bedingungen) prägnanter hervortritt. Die Nation ist eine Kombination aller Merkmale zusammengenommen.
Bauers Standpunkt, der die Nation mit dem Nationalcharakter identifiziert, löst die Nation von ihrem Boden los und verwandelt sie in ein e unsichtbare, sich selbst genügende Kraft. Es ergibt sich nicht eine Nation, die lebt und wirkt, sondern etwas Mystisches, Ungreifbares und Jenseitiges. Denn, wie gesagt, was für eine jüdische Nation ist das beispielsweise, die aus georgischen, daghestanischen, russischen, amerikanischen und anderen Juden besteht, deren Mitglieder einander nicht verstehen (verschiedene Sprachen sprechen), in verschiedenen Teilen des Erdballs leben, einander niemals sehen werden, niemals, weder im Frieden noch im Krieg, gemeinsam vorgehen werden?!
Nein, nicht für solche papierene „Nationen“ stellt die Sozialdemokratie ihr nationales Programm auf. Sie kann nur mit wirklichen Nationen rechnen, die handeln und sich bewegen und darum auch erzwingen, daß man mit ihnen rechnet.
Bauer verwechselt offenbar die Nation, die eine historische Kategorie ist, mit dem Volksstamm, der eine ethnographische Kategorie ist.
Übrigens scheint Bauer die Schwäche seiner Position selbst zu empfinden. Spricht er am Anfang seines Buches die Juden nachdrücklich als Nation an, so korrigiert er sich am Ende des Buches und behauptet: „... die kapitalistische Gesellschaft läßt sie (die Juden) überhaupt nicht als Nation bestehen“, sie lasse sie durch andere Nationen assimilieren. Als Ursache davon erweise sich: „Die Juden haben kein geschlossenes Siedlungsgebiet“, während beispielsweise die Tschechen, die nach Bauer als Nation weiterbestehen müssen, ein solches Gebiet haben. Kurzum: Die Ursache liege im Fehlen eines Territoriums.
Mit dieser Argumentation hat Bauer den Beweis erbringen wollen, daß die nationale Autonomie nicht die Forderung der jüdischen Arbeiter sein kann, hat aber damit versehentlich seine eigene Theorie umgestoßen, die die Gemeinschaft des Territoriums als eines der Merkmale der Nation leugnet.
Bauer geht jedoch weiter. Am Anfang seines Buches erklärt er mit Bestimmtheit: „Die Juden haben keine gemeinsame Sprache und sind darum doch eine Nation.“ Kaum ist er aber bei der hundertdreißigsten Seite angelangt, so hat er bereits die Front gewechselt und erklärt ebenso bestimmt: „Keine Nation ist möglich ohne gemeinsame Sprache.“
Bauer hat hier beweisen wollen, daß „die Sprache das wichtigste Werkzeug menschlichen Verkehrs“ ist, er hat aber gleichzeitig versehentlich auch bewiesen, was zu beweisen gar nicht Seine Absicht war, nämlich die Unhaltbarkeit seiner eigenen Theorie der Nation, einer Theorie, die die Bedeutung der Sprachgemeinschaft leugnet.
So widerlegt die mit idealistischen Fäden genähte Theorie sich selbst.