Kitabı oku: «Des Todes langer Schatten»

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Baum Des Todes langer Schatten


Jost Baum

Des Todes langer Schatten

Mecklenburg-Krimi mit Rezepten


Haftungsausschluss: Die Rezepte dieses Buchs wurden von Verlag und Herausgeber sorgfältig erwogen und geprüft. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Die Haftung des Verlags bzw. des Herausgebers für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

© 2014 Oktober Verlag, Münster

Der Oktober Verlag ist eine Unternehmung der

Verlagshaus Monsenstein und Vannerdat OHG, Münster

www.oktoberverlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Henrike Knopp und Kathleen Schulze

Umschlag: Thorsten Hartmann

unter Verwendung von Fotos von vincentrozenberg/istockphoto.com und

danilovi/istockphoto.com

Rezepte: Jost Baum und Roland Tauber

Herstellung: Monsenstein und Vannerdat

ISBN: 978-3-944369-20-4

eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

Personen

Richard Gilford, Major des CIC und Leiter des Entnazifizierungslagers »Markus W. Orr«

Martin Goldmann, Rechtsanwalt

Josef Kaltenbrunner, Oberleutnant der Luftwaffe

Max Mühlbauer, Obersturmbannführer und Lagerkommandant in Rechlin

Peter Duncan, britischer Spion

Petersen, Zimmergenosse von Duncan, Ex-Nazi und Ex-Polizist

Chaim Miller, Privatdetektiv

Major Fontanelle, britischer Spitzel

Hanna Reitsch, Naziheroe und Vorzeigepilotin

Heinrich Liebesam, Funker der Brasilienexpedition

Ernst Udet, Generalluftzeugmeister der Wehrmacht

Suzanne Donovan, Freundin von Duncan und Tochter von Sir Reginald Donovan

Sir Reginald Donovan, Leiter des britischen diplomatischen Corps

Erwin Keller, Gerätewart in Rechlin

Heather Smith, Studienkollegin von Suzanne Donovan

Rudolf Heß, Hitlers Stellvertreter und Mitglied des Ministerrates für Reichsverteidigung

Rex Leepers, Offizier des britischen Geheimdienstes

Salzburg, Militärgefängnis Glasenbach, März 1946

Der Mord an Kaltenbrunner geschah an einem nasskalten Donnerstag. Sein Richter, Richard Gilford, Major des Counter Intelligence Corps – kurz CIC genannt – starrte durch das Fenster auf die Schneeflocken, die ein eisiger Ostwind vor sich hertrieb. Der hagere Mann mit den kurz geschnittenen grauen Haaren hielt seine Hände über den bulligen Kohleofen der Baracke, die als Offiziersmesse diente. Gilford hasste seinen Job. Er war Chef des größten Internierungslagers für ehemalige Nazigrößen in Oberösterreich. Vor dem Krieg war er Professor für deutsche Philosophie in Princeton, New Jersey, der viertältesten Universität der USA, gewesen. Er hatte Kant, Hegel, Fichte und Feuerbach im Original gelesen. Ein anerkannter Wissenschaftler und begeisterter Hobbygolfer, jedenfalls kein Jurist. Jetzt musste er das Gesetz zur »Befreiung vom Nationalsozialismus und Militarismus« umsetzen, das seit dem 5. März 1946 in Kraft war.

Das Lager »Markus W. Orr« war Teil der Gemeinde Elsbethen und lag mitten in Salzburg im Bereich Ginskeyplatz und Alpenstraße. Es hatte seinen Spitznamen »Glasenbach« von der Bahnstation erhalten, die den Baracken direkt gegenüberlag. Strategisch günstig, denn bald sollten mehrere tausend österreichische SA, SS und Gestaposchergen zur Entnazifizierung in dieses Lager eingeliefert werden. Wies man ihnen Kriegsverbrechen nach, hatten sie mit dem Strang zu rechnen. Bei seinen Studenten galt Gilford als liberaler Humanist. Der Krieg hatte ihn verändert, jetzt wollte er sie hängen sehen, die Krauts, die für den millionenfachen Tod an Juden und Zivilisten verantwortlich waren. Von den Kant’schen Postulaten zur Befreiung aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit war nichts mehr übrig geblieben, im Gegenteil, die Deutschen waren den Rattenfängern auf den Leim gegangen, in der Hoffnung, ihr eigenes Schäfchen ins Trockene zu bringen. Gilford wandte sich ab. Er griff in die Seitentasche seiner Uniformjacke und holte ein Päckchen Luckies hervor. Er steckte sich einen Glimmstängel an und inhalierte tief, bevor er den Raum verließ. Draußen wartete Martin Goldmann auf ihn. Ein deutscher Jude aus Frankfurt, dessen Eltern vor der Machtergreifung der Nazis in die USA ausgewandert waren. Goldmann war sein verlängerter Arm, er sprach genug Deutsch und Englisch, um ihm als vordergründiger Übersetzer zu dienen. Während Goldmann mit den Gefangenen sprach, konnte Gilford sie genau beobachten, er verstand ja jedes Wort, das sie sagten. Gilford hatte schließlich nicht umsonst in Germanistik promoviert.

Er nickte ihm zu: »Are you ready?«

»Yes Sir«, beeilte sich Goldmann zu antworten.

Sie verließen die Baracke und stapften durch das dichte Schneetreiben, bis sie einen weiteren Flachbau aus Holz erreichten, der aus einem großen Raum mit vergitterten Fenstern bestand, der mit einem Schreibtisch und zwei Stühlen aus Metall möbliert war. Einer der Stühle stand mitten im Raum, der andere war hinter dem Schreibtisch postiert, auf dem eine frisch geölte Olivetti darauf wartete, bedient zu werden. Goldmann setzte sich an den Schreibtisch und spannte ein Blatt Papier in die Walzen der Olivetti ein. Die Tür öffnete sich und zwei Militärpolizisten stießen einen Mann in Handschellen vor sich her.

»Oberleutnant Kaltenbrunner, Sir«, bellte der größere der beiden Polizisten, bevor er ihm mit dem Gummiknüppel bedeutete, sich auf den freien Stuhl zu setzen.

»Do you stick to what you have told me about Mühlbauer?«, begann Gilford und blickte Goldmann hilfesuchend an. »Translate that, please«, fügte er hinzu.

»Major Gilford will von Ihnen wissen, ob Sie bei Ihren Behauptungen bezüglich Obersturmbannführer Max Mühlbauer bleiben? Und wenn ja, sind Sie gewillt, diese zu wiederholen?«, fragte Goldmann vorsichtig.

»Ja sicher«, nickte Kaltenbrunner, dessen blasses, teigiges Gesicht von zahllosen Aknenarben gezeichnet war.

»Max Mühlbauer war Leiter des Arbeitslagers Rechlin am Müritzsee. Die Gefangenen waren für den Bau und Erhalt der dortigen Flugerprobungsschule zuständig. Mühlbauer galt als gewissenhafter Mann, der jede ihm aufgetragene Arbeit mit Hingabe erledigte. Er erhielt von Reichsmarschall Göring das Eiserne Kreuz erster Klasse und war ein Duzfreund von Ernst Udet.«

Kaltenbrunner streckte ihnen ein Foto hin. Erst jetzt sah Gilford, dass Kaltenbrunner die ganze Zeit das Bild in seinen massigen Pranken versteckt gehalten hatte. Kaltenbrunner reichte es dem dünneren der beiden Militärpolizisten, der es neben die Olivetti legte, sodass es Goldmann genauer betrachten konnte. Goldmann wandte sich entsetzt ab. Major Gilford runzelte die Stirn und trat hinzu. Das Foto zeigte Mühlbauer, den Mann, den sie zusammen mit Kaltenbrunner verhaftet hatten. Beide waren nach dem Beschuss durch eine Mustang P 51 mit ihrer Fieseler Storch notgelandet. Wie ein Großwildjäger hatte Mühlbauer einen Fuß in den Nacken einer Leiche gestellt, die zuoberst auf einem Haufen geschundener Leiber lag. Den rechten Arm hatte er zum Hitlergruß erhoben, den linken in die Hüfte gestemmt. Nicht nur die Uniform, sondern die ganze Situation schien ihm eine Nummer zu groß zu sein. Sein Blick war starr auf die Kamera gerichtet, das Gesicht ausdruckslos wie bei einer Marionette, die man für einen bösen Spaß auf die Bühne gezerrt hatte.

Major Gilford schüttelte den Kopf, er würde dafür sorgen, dass dieser Bastard seiner gerechten Strafe zugeführt wurde.

»Who took this picture?«, wandte er sich an Goldmann, der sich ein wenig beruhigt hatte und wütend auf die Tasten der Olivetti starrte.

»Ich habe schon verstanden«, entgegnete Kaltenbrunner und fuhr fort: »In dem Lager gab es eine Widerstandsgruppe polnischer Juden, die sich ›Scoor‹ nannte. Mühlbauer hatte sie bespitzeln lassen. Als er sich sicher war, dass sie einen Aufstand planten, ließ er über sechzig der Gefangenen in einem Bunker zusammentreiben. Die Opfer wurden in kleinen Gruppen zu fünf oder sechs Häftlingen vom Bunker zum Leichenhaus geführt. Dort mussten sie sich nackt ausziehen. Mühlbauer hat mir eine Liste mit sämtlichen Namen der zu Erschießenden gezeigt. Er wollte damit vor uns Luftwaffenoffizieren prahlen. Die unbekleideten Häftlinge wurden dann aus dem Leichenhaus herausgeführt und mussten sich vor Mühlbauer auf den Boden werfen. Jeden Einzelnen hat er mit Genickschuss getötet. Zum Schluss lagen die Toten in zwei langen Reihen nebeneinander. Mühlbauer gab mir die Kamera und befahl mir, ihn zu fotografieren. Er hat die Leichen dann mit Benzin übergossen und angesteckt. Er blieb so lange bei den Leichenhaufen, bis alle verbrannt waren, der Gestank von verschmortem Fleisch hing danach noch stundenlang in der Luft«, schloss Kaltenbrunner, sichtlich erschöpft.

»Where did you want to fly with Mühlbauer?«

»Ich wollte mich bei Ritter von Greim in Kitzbühel melden, er war der Kommandant der Luftwaffe, nachdem Göring wegen Hochverrats verhaftet wurde.«

Loyal bis zum Tod, dachte Gilford und schüttelte den Kopf.

»He can go«, erwiderte er ungerührt.

Die beiden Polizisten zerrten Kaltenbrunner hoch.

»Und, was ist nun mit mir? Ich bin unschuldig, ich bin ein einfacher Soldat, ich habe niemals …«, schrie er, als sie ihn fast schon durch die Tür ins Freie bugsiert hatten.

Gilford antwortete ihm nicht.

»Was wissen wir über Mühlbauer?«, fragte er Goldmann stattdessen.

»Mühlbauer ist Mitte dreißig, schätze ich. Im Moment geht es ihm schlecht, er steht unter Schock. Er ist in Einzelhaft, redet kein Wort, sitzt auf seiner Pritsche und starrt die Wand an. Nachts steht er auf, und kritzelt irgendetwas im Schein einer Kerze in sein Tagebuch. Die Kerze hat ihm einer der Wärter besorgt, der Mitleid mit ihm hatte. Mühlbauer trug die Uniform eines deutschen Leutnants der Luftwaffe. Bei der Notlandung wurde er leicht verletzt, vielleicht der Grund für sein jetziges Verhalten.«

»Hat er seine Blutgruppe unter dem Arm tätowiert, wie es für die SS üblich ist?«, wollte Gilford wissen.

Goldmann zog irritiert die Augenbrauen hoch. »Das müsste überprüft werden«, entgegnete er nachdenklich.

»Go away«, befahl der dünnere der beiden Militärpolizisten dem Gefangenen verächtlich, nachdem er die Handschellen gelöst hatte und deutete mit seinem Gummiknüppel in Richtung der Baracke, in der Kaltenbrunner untergebracht war. Kaltenbrunner starrte gierig auf die Lucky Strike, die sich der Mann ansteckte und versuchte ein wenig von dem Rauch zu inhalieren, der zu ihm hinüberwehte, bis dieser sich umwandte und durch den dichten Schnee davonstapfte. Kaltenbrunner ballte die Fäuste in den Taschen der dünnen Uniformhose, die man ihm gelassen hatte, als man ihn gefangen nahm. Kaltenbrunner begann zu zittern, er hatte Angst vor einem neuen depressiven Schub, der ihm die Kraft rauben konnte, das Gefangenenlager zu überstehen. Sein Vorrat an Lithiumcarbonat, dem einzigen Medikament, das in der Lage war, seine Anfälle zu mildern, war fast aufgebraucht. Er musste sich ausruhen, eine Löffelspitze des weißen Pulvers zu sich nehmen, bevor er den Mut fand, sich wieder unter seine Mitgefangenen zu mischen, die sich allesamt bei der Essensausgabe am anderen Ende des Lagers aufhielten. Kaltenbrunner erreichte die Baracke und war durchgefroren bis auf die Knochen. Als er die dünne Holztür der Unterkunft öffnete, kam ihm die stickige Hitze des Kohleofens entgegen, die ihm sofort den Atem verschlug. Kaltenbrunner trat ein.

Er spürte, dass jemand hinter der Tür gelauert haben musste und sich ihm mit raschen Schritten näherte. Bevor er sich umdrehen konnte, spürte er den kalten Lauf einer Pistole in seinem Nacken. Die Kugel durchschlug den dritten Halswirbel. Sofort setzte ein taubes, wattiges Gefühl in seinem Körper ein. Das Letzte, was er fühlte, war die Mündung der Pistole auf seiner Stirn. Ein zweiter Schuss ließ seinen Schädel platzen. Wenig später fiel die Tür ins Schloss. Nur die knirschenden Schritte im Schnee waren zu hören, bevor sich eine bleierne Stille über das Lager legte.

Graal-Müritz, 23. November 1992

Duncan saß in seinem Rollstuhl und beobachtete das Meer aus dem zweiten Stock eines windschiefen Kastens. Verzweifelt, wie ein Schiffbrüchiger an seinen Rettungsring, klammerte sich das Hotel an den Kamm einer vom Sturm zerzausten Düne, deren strahlend weißer Sand das Auge des Betrachters blendete. Seine grünlich graue Fassade, ein Relikt aus der Honecker-Ära, trotzte seit Jahrzehnten den Windböen, die über die Ostsee jagten. Auch an diesem Tag peitschte ein Sturm die See und blies den Meerschaum auf den Sand. Wellen leckten den Strand bis an den Rand der Dünen. Die heiseren Schreie der Möwen, die über dem Wasser kreisten, übertönten das Donnern der Wogen. Zwei Urlauber, dick vermummt, stapften über den nassen Sand, die Mützen tief ins Gesicht gezogen, die Schals festgezurrt. Ihr Ziel war die neue Seebrücke, die die Bäderverwaltung in Graal-Müritz angeregt hatte, um mehr Touristen aus dem Westen der Republik anzulocken. Die alte Brücke war 1941 einem schweren See- und Eisgang zum Opfer gefallen. In der alten DDR war niemand auf den Gedanken gekommen, den kurenden Genossen und den blassen Schulkindern aus den verräucherten Städten einen Bade- und Angelsteg zu gönnen. Vorbei die Zeiten, als Künstler wie Lionel Feininger oder Erich Kästner hier das anregende Klima genossen hatten. Nach der Wende war man auf die Rentner und die wenigen Familien angewiesen, die hier preiswert Urlaub machen konnten.

Zwei Dauergäste hausten im dritten Stock des Gebäudes. Duncan legte das Fernglas auf seinen Schoß, umklammerte die Räder seines Rollstuhls, wendete das Gefährt und ließ sich in die Mitte des Zimmers gleiten. Petersen, der Mann, mit dem er den Raum im »Haus Meerblick« teilte, stöhnte im Halbschlaf auf. Ein Speichelfaden tropfte von seinem Mund auf die Bettdecke und wurde von jedem Atemstoß hin und her geweht, als sich die Tür öffnete und hinter Anke, dem Zimmermädchen – einer drallen polnischen Blondine – ein kleiner drahtiger Mann, mit einem Trenchcoat bekleidet, den Raum betrat, Chaim Miller. Bis dahin roch es wie immer, nach abgestandenem Essen, Desinfektionsmittel und dem sauren Gestank nach menschlichen Ausdünstungen, doch jetzt mischte sich der herbe Duft eines männlichen Aftershaves in die Melange der Gerüche.

Chaim Miller hatte die kurzen schwarzen Haare nach hinten gekämmt und mit Gel gebändigt. Jetzt glänzten sie wie der Lack eines Steinway-Flügels. Sein federnder Gang strotzte vor Energie; die Hände in den Taschen des Mantels vergraben, betrat er den Raum und setzte ein triumphierendes Lächeln auf, als er Duncan entdeckte.

»Hallo Mr. Mühlbauer, schön Sie zu sehen nach all den Jahren«, sagte er mit leiser Stimme und einem nicht zu überhörenden englischen Akzent. Petersen furzte im Schlaf und drehte sich auf die Seite.

Anke starrte Miller verständnislos an: »Ich dachte, Sie wollten zu Mr. Duncan?« Kopfschüttelnd wandte sie sich ab.

»Ein alter Scherz zwischen uns«, rief ihr Duncan hinterher, wobei er fieberhaft überlegte, wo er dem Mann schon einmal begegnet war.

Chaim Miller setzte sich auf den einzigen Stuhl im Zimmer und erhob sich, als Anke mit einem Stapel frischer Bettwäsche zurückkehrte.

»Zeit zum Windeln wechseln, Petersen«, grinste sie und schlug die Bettdecke zurück. Sofort war der Gestank von abgestandenem Urin und Schweiß in der Luft. »Na, das wird sich aber lohnen«, sagte Sie und beugte sich über dessen Unterleib.

»Können die Herren nicht …«, jammerte Petersen und versuchte, die Bettdecke wieder zurückzuziehen.

»I wo, Schätzchen, ich denke, dass die beiden Herrschaften schon einmal vertrocknetes Fleisch gesehen haben, nicht wahr?«, gackerte sie und öffnete mit einem heftigen Ruck die prallvolle Windel. Miller wendete sich ab.

»Kommen Sie, Mühlbauer, ich schiebe Sie auf den Balkon«, sagte er und öffnete die Tür zu einem kleinen Abtritt, auf dem gerade Platz für den Rollstuhl und einen kleinen Hocker war.

»Oder was halten Sie davon, wenn ich Sie mit ihrem Rollstuhl in den Speisesaal fahre«, schlug Miller vor und packte schon die Griffe des Gefährts, ehe sich Duncan wehren konnte.

»Nehmt mich mit, ihr Pfeifen«, grunzte Petersen, der inzwischen eine frische Windel trug, voller Tatendrang.

»Warum nicht?«, grinste Miller, »vielleicht sollten Sie sich in Schale werfen, bevor wir zu Tische schreiten.«

»Ach was«, erwiderte Petersen genervt, »ich zieh mir den Bademantel über …«

»Kommt nicht in Frage«, sagte Anke. »Gehen Sie beide schon mal voraus und ich werde dafür sorgen, dass sich Petersen was Ordentliches anzieht.«

»Zicke«, zischte Petersen, während Miller Duncan aus dem Zimmer schob.

Rio de Janeiro, 1934

Der Dienst im diplomatischen Corps der britischen Regierung begann für Peter Duncan im Januar 1934. Vier Jahre zuvor, im November 1930, gelang es Brasiliens neuem Machthaber Getulio Vargas, einem geldgierigen Sprössling einer alteingesessenen Familie, die demokratische Regierung von Washington Luis zu stürzen. Von nun an strebte Vargas in Brasilien eine zentralistische Nationalisierungspolitik und die Wiedereinführung der Verfassung nach diktatorischem Vorbild an. Er besetzte alle wichtigen Posten mit Familienmitgliedern und anderen Günstlingen. Er betrachtete – wie alle Diktatoren – das Land als persönlichen Besitz und sorgte dafür, dass sich seine Konten im Ausland füllten. Vargas verehrte Hitler und war ein notorischer Judenhasser, der seine entschiedene Gegnerin, die linksgerichtete Jüdin Olga Benario, an Hitlerdeutschland auslieferte, wo sie 1942 in den Gaskammern des KZs Bernberg verstarb. Vargas hielt engste Beziehungen zu den Nazis, kooperierte mit der Gestapo, die seine politische Polizei ausbildete, und verbot Juden die Einreise nach Brasilien. Vargas förderte die Ausbreitung der NSDAP in Brasilien, ließ Nazi-Instrukteure ins Land, die an den wenigen deutschen Schulen des Landes indoktrinierten, und war ein glühender Bewunderer deutscher Waffentechnik, deren Vorreiter und Kenner er – im Gegensatz zu den Juden – gerne in sein Land ließ. Im Frühjahr 1934 entsandte Nazideutschland eine Delegation von hochrangigen Offizieren und exzellenten Segelfliegern nach Brasilien.

Der Spitzel, den die englische Vertretung in Brasilien angeworben hatte, Major Fontanelle, inoffizieller Berater des Flugplatzes Campos dos Affonsos, zog erstaunt die Augenbrauen hoch, als er die zierliche junge Frau in der Fliegermontur auf sich zukommen sah. Fontanelle, ein kleiner rundlicher Weißer, dessen Urgroßeltern aus Spanien stammten, schwitzte Blut und Wasser in seiner marineblauen Uniform, obwohl er den obersten Knopf einen Tag zuvor, bei dem Versuch sich rasch Luft zu verschaffen, abgerissen hatte. Er sehnte sich nach einem kräftigen Schluck Rum, denn er war sich nicht sicher, ob er vor den Piloten und hochrangigen SS-Offizieren strammstehen und salutieren oder sie lieber mit Nichtachtung strafen sollte.

»Sind Sie hier der Oberkommandierende?«, fragte Hanna Reitsch im gebrochenen Portugiesisch, als sie vor ihm stand. Fontanelle nickte. Die Frau ging ihm knapp bis zur Schulter, aber sie strahlte eine unbändige Energie aus. Mit ihrem lockigen kastanienbraunen Haar, das kurz geschnitten war, und der schlanken drahtigen Figur, erinnerte sie den Major an einen dieser Chorknaben, die er sonntags in der Kapelle zur Heiligen Maria so gerne singen hörte. Das Gesicht hingegen, mit den langen Wimpern und den sinnlichen Lippen, war eindeutig das einer hübschen jungen Frau.

»Der bin ich, Madame. Darf ich mich vorstellen?«

Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Major Jose Philipe Fontanelle, erster und einziger Chef des Flughafens Campos dos Affonsos, am Fuße des Zuckerhuts gelegen und mit der besten Thermik in ganz Brasilien gesegnet. Das ist es doch, was Sie wissen wollten?«, versuchte er zu scherzen. Das war zwar glatt gelogen, aber bisher war ihm niemand auf die Schliche gekommen und das kleine Zubrot, das er sich verdiente, indem er Gerätschaften oder leerstehende Schuppen vermietete, obwohl sie ihm nicht gehörten, konnte er bei seinen enormen Verpflichtungen, die er gegenüber seiner sechsköpfigen Familie hatte, gut gebrauchen.

»Kommen Sie uns bloß nicht komisch«, zischte Josef Kaltenbrunner auf Deutsch, der die Gestik und Mimik des Majors zu deuten suchte. Kaltenbrunner, groß, blond und mit einem massigen, aber teigig wirkenden Körper, baute sich vor Fontanelle auf und stieß ihm mit dem Finger auf die Brust.

»Wir brauchen einen Hangar für unsere Segelflugzeuge und eine motorbetriebene Seilwinde. Und das ein bisschen plötzlich.«

»Josef, nun reiß dich doch mal zusammen. Der Major versteht doch kein Wort von dem, was du von ihm willst«, mischte sich Hanna ein.

Die drei SS-Offiziere, alle in Reitstiefeln und schwarzer Uniform, betrachteten das Schauspiel mit der kalten Gelassenheit von Reptilien, die jeden Moment zuschnappen konnten.

Duncan hatte die Szene nur wenige Schritte entfernt beobachtet. Der Leiter des britischen diplomatischen Corps, Sir Reginald Donovan, hatte ihm aufgetragen, die deutsche Delegation im Auge zu behalten und in Erfahrung zu bringen, was diese Segelfliegercrew in Brasilien wollte. Duncan war der Sohn einer deutschen Lehrerin, die der Liebe wegen nach England gereist und dort geblieben war. Duncan sprach akzentfrei Deutsch. Der hagere junge Mann mit der hohen Stirn und den intelligenten blauen Augen galt bereits in der Universität als aussichtsreicher Kandidat für eine diplomatische Karriere. Er war fleißig, redegewandt und verfügte über eine schnelle Auffassungsgabe. Donovan ging davon aus, dass sich Kaltenbrunner mit ihm in Verbindung setzen würde. Donovan hatte ihm verraten, dass Kaltenbrunner Geld brauchte und dafür bereit war, Führer, Gott und Vaterland zu verraten. Aber niemand wusste genau, wann und wie das geschehen würde. Duncan war ratlos, als Mitarbeiter der Botschaft war er damit betraut, die britischen Wirtschaftsinteressen in Brasilien zu unterstützen. Das bedeutete in der Regel, dass er britische Unternehmer auf Empfänge begleitete, dort Kontakte mit einheimischen Investoren knüpfte, Rechtsgutachten erstellte und ansonsten in Cafés herumsaß und die Wirtschaftszeitungen las. Inzwischen waren deutsche Unternehmen recht erfolgreich damit, brasilianische Rohstoffe zu gewinnen und nach Deutschland zu exportieren. Kautschuk war sehr begehrt. Die Amerikaner und die Briten fürchteten sich davor, die wirtschaftliche Vormachtstellung in Lateinamerika zu verlieren. Einen offiziellen Termin mit den Nazis zu vereinbaren, wäre wohl auf einige Schwierigkeiten gestoßen. Es war sicherlich leichter, ein privates Treffen zu vereinbaren, schließlich hatte sich die politische Stimmung nach dem Wahlsieg von Vargas gedreht, die Polizei wurde nach deutschem Muster ausgebildet und die regierungstreue Presse lobte Nazideutschland über den grünen Klee. Vielleicht konnte er sich in einem Club mit den Deutschen ohne große Heimlichtuerei treffen, überlegte Duncan. Das würde beweisen, dass die Briten den Wink der Zeit erkannt hatten. Schließlich waren sie nur geduldet, der ehemals guten Handelsbeziehungen wegen.

»Gibt es Probleme? Kann ich helfen?«, fragte er, als er sich den Streithähnen näherte. Erst jetzt entdeckte Duncan, dass ein ziemlich hübsches Mädchen in der Fliegermontur steckte.

»Oh ja gerne, sprechen Sie außer Deutsch auch Portugiesisch?«

»Gelegentlich«, erwiderte er bescheiden.

»Können Sie Major Fontanelle bitten, dass er uns einen Hangar für unsere drei Segelflugzeuge und eine Motorwinde zur Verfügung stellt?«, fragte das Mädchen und lächelte ihn an.

»Warum nicht?«, sagte er und grinste verlegen zurück.

Nach einigem Hin und Her und nachdem ein paar brasilianische Real den Besitzer gewechselt hatten, war Major Fontanelle bereit, einen der leer stehenden Hangars am südlichen Rand des Flughafens für die deutsche Segelfliegercrew aus seinem Immobilienfundus herauszurücken, den er Kraft seines selbst geschaffenen Amtes verwaltete. Ein Gebäude, das von einer inzwischen bankrotten Fluglinie gebaut wurde, die Expeditionsflüge in den Busch angeboten hatte. Duncan erklärte dem Mädchen, dass man die Seilwinde stundenweise mieten konnte, was in der Regel einen Haufen Geld kostete. Er schlug ihr deshalb vor, das Gerät für den nächsten Morgen zu reservieren und sie dann gemeinsam zu nutzen, denn er wolle die angekündigte gute Thermik nutzen.

»Nennen Sie mich Hanna und Ihren Vorschlag nehme ich gerne an.«

»Peter Duncan«, stellte er sich vor. »Meine Mutter ist Deutsche, lebt aber schon seit Jahren in London«, erklärte er seine Sprachkenntnisse.

»Ich weiß, was Sie jetzt denken. Sie halten mich bestimmt für ein BDM-Mädel auf einem KdF-Ausflug, oder?«, erwiderte Hanna gereizt.

»Oh, nein, nein …«, murmelte er, bevor er sich schnell abwandte. Im Prinzip hatte sie den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Botschaft hatte den »Völkischen Beobachter« abonniert, der über mehrere Stationen per Luftfracht durch die Condor, ein Tochterunternehmen der deutschen Lufthansa, mit Dornier-Wal-Flugbooten nach Rio de Janeiro gelangte. Er las gelegentlich eines der Exemplare und konnte deshalb die Begriffe zuordnen. Die Organisation von Jugendlichen in solchen Verbänden waren ihm zutiefst zuwider. Er selbst wäre als kleiner Junge nie auf die Idee gekommen, sich als Pimpf einem älteren Jugendlichen unterzuordnen. Eine Gruppenreise mit Arbeitskollegen an einen Ort, den die Firma für die Belegschaft reserviert hatte, war ebenfalls undenkbar für ihn. Er liebte seine Freiheit und die Vorstellung, dorthin reisen zu können, wo es ihm gefiel. Im Alter von zwölf Jahren war er mit seinen Kameraden auf die Gipfel der schottischen Berge geklettert und hatte dort die selbst gebauten Segelflugzeuge ausprobiert, wobei es keine Anführer gab, oder ältere Jugendliche, die bestimmten, was getan werden sollte.

»Nun gut, ich glaube Ihnen. Ich möchte mich sowieso nur auf das Segelfliegen konzentrieren. Ist das möglich?«, fragte sie leise, mit einem vernichtenden Seitenblick auf die SS-Männer, die die Köpfe zusammengesteckt hatten und wahrscheinlich beratschlagten, wie sie die Flugzeuge in den Hangar bugsieren konnten.

»Das wäre schön«, erwiderte er, von sich selbst überrascht. Die junge Frau begann ihn zu interessieren.

»Haben Sie heute Abend schon etwas vor?«, fragte er sie nach einer Weile unsicher.

»Kommt darauf an«, lächelte sie.

»So gegen acht, Bar Tropical im gleichnamigen Hotel. Ich lade Sie zu einem Schlummertrunk ein und Sie erzählen mir, was eine junge Deutsche im fernen Brasilien macht«, erwiderte er schnell, bevor sie es sich anders überlegen konnte.

»Oh ja, gerne!«, antwortete Hanna erfreut.

»Also abgemacht, heute Abend um acht?«

Sie nickte unmerklich, bevor sie sich umdrehte und hastig zu ihrer Crew zurückkehrte.

»Gott steh Ihnen bei, mein Freund«, grinste Major Fontanelle, der das Gespräch belauscht hatte. »Die hat so viele Haare auf den Zähnen, wie mein Schätzchen zwischen den Beinen.« Zur Bekräftigung zog er an einem stinkenden Zigarrenstumpen und nahm einen Lungenzug, als gäbe es kein Morgen.

»Also ich weiß nicht … Ich glaube, wir sollten das Thema wechseln«, erwiderte Duncan schnell, denn er merkte, dass er rot wurde. »Also bei meiner Juanita bin ich mir sicher«, lachte Major Fontanelle, verschluckte sich an dem Rauch und begann zu husten. Er hustete so lange, bis nur noch das pfeifende Geräusch seiner Bronchien zu hören war.

Den Rest des Tages verbrachte Duncan damit, den lästigen Papierkram zu erledigen, der nötig war, damit einem die brasilianische Regierung erlaubte, über den Zuckerhut zu schweben. Duncan checkte sein Flugzeug, einen deutschen Kranich, den er sich von seinen ersten Gehältern gekauft hatte, und legte neben seinen Fallschirm eine Schwimmweste. Vorsicht war angebracht, denn als Segelflieger wusste man nie, ob einen die Thermik, die von den Granitfelsen aufstieg, die die Hafeneinfahrt säumten, nicht aufs offene Meer trieb. Der zweisitzige Segelflieger war erst vor wenigen Wochen per Schiff eingetroffen und Duncan hatte die Kaufentscheidung bisher nicht bereut. Die Krauts waren die besten Segelflugzeugkonstrukteure der Welt. Niemand ahnte, dass sich die Nazis damit einen entscheidenden Vorteil im Wettrüsten um die gefährlichsten Kriegsflugzeuge verschafften. Als Assistent des britischen Handelsattachés, Sir Reginald Donovan, hatte Duncan es sich in Rio de Janeiro bequem gemacht. Er galt bei seinen Vorgesetzten als unpolitisch, aber pflichtbewusst, schnell und effizient. Seine Freizeit verbrachte er in Begleitung eines britischen Offiziers der »Glasgow«, ein Zerstörer, der in Rio vor Anker lag und die Handelsflotte – gegen wen auch immer – schützen sollte. Duncan hatte in Cambridge Jura studiert und dort als Jahrgangsbester abgeschlossen. Während er darüber nachdachte, sich bei der angesehenen Londoner Anwaltskanzlei »Brooks, Barneby & Sons« zu bewerben, erhielt er von seinem Professor das Angebot, als Jurist in die Handelsabteilung des diplomatischen Dienstes nach Rio zu gehen. Professor Higgins war ein Duzfreund von Sir Reginald Donovan und hatte seinen Namen bei einer gemeinsamen Cocktailparty fallen gelassen. Donovan hatte ihn sich gemerkt und ihn zwei Tage später nach Rio eingeladen. Duncan war von seinem Angebot sofort begeistert und trat die Stelle umgehend an.

Dokumenteneinschub 1/ Auszug aus einem von der Gestapo beschlagnahmten Feldpostbrief von Heinrich Liebesam/ Funker der Brasilienexpedition/ Gestapokarte:

Mein lieber Schatz,

nun sind wir nach einer langen Schiffsreise endlich in Rio de Janeiro angekommen, aber meine Vorgesetzten machen mir das Leben zur Hölle.

Leutnant Kaltenbrunner ist der Schlimmste von allen. Er ist wie ein Reptil, das uns beobachtet, als wären wir ein willkommenes Festessen.

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