Kitabı oku: «Mittendrin und am Rande – Lebenserinnerungen eines Vertriebenen», sayfa 9
Familie Weiß
Als ich zur Mittelschule ging, lernte ich eine Sinti-Familie kennen, die in unserem Nachbarstädtchen ein kleines Haus am Rande des Waldes bewohnte. Die Familie Weiß lebte dort mit zehn Kindern. Die Eltern waren Überlebende von Auschwitz. Der größte Teil ihrer Verwandtschaft war in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau vernichtet worden. Vater Weiß war ein Schrotthändler. Er fuhr über Land und sammelte Metallabfälle ein, die er an einen Großhändler weiterverkaufte. Ich kannte einen der Söhne und war gelegentlich in dem Haus. Dass Klassenkameraden von mir auch dort verkehrten, habe ich nicht gehört. Mit „Zijeinern“ wollten die Einheimischen nichts zu tun haben, die „klauten doch“ und man konnte sich leicht „Ungeziefer holen“. Die Weiß-Leute waren nette Menschen. Immer wenn ich da war, boten sie mir etwas zu essen und zu trinken an. Sie fragten mich, woher ich käme. Als sie hörten, dass ich aus Ungarn war, sprachen sie über ermordete Verwandte dort, aber auch, dass Ungarn „a so a scheenes Land“ sei. Sinti waren und sind in Ungarn nicht häufig. Heute leben dort überwiegend Roma.
Der Hof der Familie diente als Sammelplatz für Schrott. Wenn genügend beisammen war, fuhr ihn Herr Weiß zum Großhändler. Für mich und meinen Verwandten Lorenz K. war der Hof eine wahre Fundgrube. Wir fanden immer Kleinigkeiten, die wir gebrauchen konnten, und die Familie Weiß schenkte uns das großzügig. Fotos von ihren ermordeten Verwandten hatten sie damals nicht. Nichts war gerettet worden. Fotos ganz andere Art brachte Herr Weiß eines Tages mit nach Hause. Sie steckten in einem ein braunen Lederalbum. Er hatte es irgendwo beim Schrott gefunden. Zunächst zögerte er, es mir zu zeigen. Doch dann setzte er sich an den Tisch, rief mich hinzu und schlug das Album auf. Lauter Soldaten in schwarzen Uniformen waren auf den Bildern zu sehen. „Sieh dir das an Junge, die SS, waren doch scheene große Menschen, sahen so gut aus und haben so schlimme Verbrechen begangen. Und jetzt missen se sich verstecken.“
28 Damals war die Benutzung dieses Begriffs üblich. Die Namen Sinti und Roma kannte keiner von uns. Die Bezeichnung „Zigeuener“ wurde in Perbál nicht als diskriminierend empfunden. Wir sind ihm mit als Bestandteil unseres Dialekts aufgewachsen. Das waren halt Zigeuner, die zogen umher und stahlen. Man musste aufpassen, das war alles.
Unser Vater
Der Liebling seiner Mutter
Wie oben erwähnt, wurde unser Vater am 21. Juli 1917 in Perbál geboren. Dass seine Eltern arme Kleinbauern waren, habe ich schon gesagt. Er hat das Schicksal aller Kinder von Kleinbauern in Perbál geteilt: ein Leben in Armut mit harter Arbeit. Als Erstgeborener war er der Liebling seiner Mutter. Mir hat er einmal erzählt, dass er noch mit vier Jahren gestillt wurde.
Das musste in Konkurrenz zu seinem jüngeren Bruder geschehen sein. Dieser wurde 1920 geboren. Über sein Leben als Kind und als Jugendlicher hat unser Vater uns kaum etwas erzählt. Wir haben ihn leider auch nicht gefragt. Zu fremd war uns dieser Mann, den wir erst mit sechs bzw. sieben Jahren kennenlernten. Da er uns ausführlich über seinen Fress-Opa berichtet hat, war seine Bindung an diesen Mann wohl sehr ausgeprägt. Emotional am stärksten war er an seine Mutter gebunden, und sie auch an ihn. Das führte zu ständigen Konflikten in unserer Familie, weil er bei Streitigkeiten stets zu seiner Mutter hielt. Dadurch war unsere Mutter bei entstehenden Differenzen mit dieser Oma automatisch ins Unrecht gerückt. Mit sechs Jahren kam er, wie die anderen Kinder auch, in die Schule, die er mit 12 Jahren wieder verließ. Er war inzwischen ein kräftiger Junge geworden, der in der kleinen Landwirtschaft seiner Eltern mithelfen musste. Mit 14 ging er in den „Dienst“ zu einem größeren Bauern. Stolz erzählte er mir einmal, dass er schon in diesem Alter bei der Ernte als „erster Schnitter“ arbeitete. (Ob das zutrifft, kann man bezweifeln, obwohl er ein kräftiger Bursche war. Die älteren Schnitter hatten sicher eine längere Ausdauer.) Der erste Schnitter mähte vorneweg und gab das Tempo vor. Je nach Breite des Feldes folgten noch ein paar andere, sodass in einem Durchgang drei bis sechs Schnittbreiten Getreide abgemäht wurden. Das waren ungefähr drei bis sechs Meter. Später arbeitete er dann als Fuhrknecht bei einem Weinhändler. Diese Arbeit war noch schwerer als die in der Landwirtschaft, weil die schweren Weinfässer aufgeladen, transportiert und wieder abgeladen werden mussten. Bei einem Fass von 100 Litern Inhalt waren das etwa 120 Kilo Gewicht. Die größeren Fässer waren entsprechend schwerer. Die Weinlieferungen dieses Händlers reichten bis nach Raab (Györ). Es ist davon auszugehen, dass er schon als Jugendlicher bis dorthin gekommen ist. Györ liegt über 100 km nordwestlich von Perbál.
Levente und Soldat
Wie alle Jugendlichen in Ungarn musste unser Vater in die 1921 gegründete Jugendorganisation „Levnte“ eintreten. In ihr erhielten die Jugendlichen ab 16 Jahren eine vormilitärische Ausbildung. Mit 17 1/2 Jahren wurde er Rekrut. Am 1. Februar 1939 wurde er zur ungarischen Armee eingezogen. Über Kampfeinsätze hat er uns nicht viel erzählt. Ich erinnere mich nur an Folgendes: Unter schwerem Artilleriebeschuss der Russen musste seine Einheit einen Bahndamm erstürmen. Er habe so große Angst um sein Leben bekommen, dass er am anderen Tag die ersten weißen Haare bekommen hatte, mit 28 Jahren.
Unsere Mutter kannte er von klein auf. Als sie heiratsfähig geworden war, begann er, um sie zu werben. Sie sträubte sich lange, ihn zu heiraten, bis sie schließlich „musste“. Am Tag der Hochzeit (23. November 1940) war sie bereits im siebten Monat schwanger. Als schwangere Braut konnte sie kein weißes Brautkleid tragen. Das war für sie eine schwere Kränkung, die sie ihrem Mann wohl ihr Leben lang nicht vergeben hat. Im Winter 1940/41 kam unser Vater nach Perbál zurück. Dort war er bei der Geburt meines Bruders dabei (Januar 1941).
Er muss noch mindestens bis Mitte Mai 1941 in Perbál gewesen sein, denn ich kam neun Monate später zur Welt. 1942 war er auch noch in Perbál. Wie er uns sagte, zog ihn die deutsche Wehrmacht nach ihrem Einmarsch in Ungarn 1943 nicht ein, weil er nirgendwo mehr als Soldat erfasst war, weder bei den Ungarn noch bei den Deutschen. Angeblich musste er sich nicht mehr bei der ungarischen Armee zurückmelden, vielleicht, weil er Vater von zwei Kleinkindern war und schon zwei Brüder im Krieg verloren hatte. Somit war er der einzige lebende Sohn der Familie.
Vater auf dem Motorrad
Mitglied im Volksbund
Die Auslandsorganisationen der deutschen Minderheiten in Ländern, die die deutsche Wehrmacht überfallen hatte/sollte, wurden zu Beginn des Zweiten Weltkrieges dem Chef der SS, Heinrich Himmler, direkt unterstellt. Sie galten damit als Naziorganisationen. Von unserem Vater kann ich sagen, dass er kein Nazi war. Keine seiner Äußerungen, die ich jemals von ihm hörte, lässt darauf schließen. Aber er war Mitglied des Volksbundes der Deutschen in Ungarn. In Perbál war er sogar der Kassierer des Volksbundes. Die allgegenwärtigen Neider im Dorf warfen ihm vor, aus diesem Grund nicht an der Front zu sein. Uns sagte er, dass ihn „die Perbáler Weiber“, deren Männer im Krieg waren, bedrohten. Er musste also weg und flüchtete. Vielleicht hatte er Angst, dass sie ihn wirklich umbringen wollten.
Beim Einmarsch der Wehrmacht war im Haus seiner Eltern ein Offizier einquartiert gewesen, den mein Vater kannte. Als er aus Perbál verschwinden musste, sei er nach Budapest auf die Csepel-Insel zu dem Offizier gegangen, der dort in einem Stab war. Dieser habe ihn gefragt, was er wolle. Als er ihm sagte, er wolle sich zur Wehrmacht melden, habe der Offizier ihm gesagt, er solle sofort abhauen und sich nicht mehr blicken lassen. Wo ging er hin? Wieder zurück nach Perbál? Das ist unwahrscheinlich. Eventuell hielt er sich bei Verwandten in der Umgebung auf?
Wie er unserer Schwester Maria erzählte, schloss er sich im Sommer 1944 an eine deutsche Wehrmachtseinheit an und kam in deren Gefolge an den Plattensee. Dort verloren Hitlers Elitetruppen gerade eine Schlacht gegen die auf Budapest vorrückenden Sowjetsoldaten. Regulär gehörte er dieser Einheit nicht an, konnte sich dort aber Verpflegung holen. Geschlafen hat er in Scheunen, Schuppen oder Ställen. Mit dieser Einheit kam er zunächst nach Slowenien. Er habe dort keinen Schuss abgegeben. Ursprünglich habe er desertieren wollen, das sei ihm aber schließlich zu gefährlich gewesen. Über die Mur kam er nach Österreich und von dort nach München. Dort stellte er sich den Amerikanern und kam in amerikanische Gefangenschaft, ins Lazarett.
Mir hat er auch erzählt, dass er von Slowenien aus über die Mur nach Österreich gekommen sei. Dort habe er sich zusammen mit einem Kameraden ein Mittel (Kupferlösung?) in die Augen gerieben. Sie schwollen stark an und wurden rot. Die beiden seien dadurch in einen Lazarettzug aufgenommen und nach München gebracht worden, wo sie in amerikanische Gefangenschaft gerieten. Aus einem Lager schrieb er einen Brief an seine Mutter nach Ungarn. Sie wusste also, wo er war. Dass er an seine Mutter schrieb – und nicht an seine Frau – ist bezeichnend für ihn. Gehungert hat er bei den Amerikanern nicht. Drei Wochen lang bekam er, wie er sagte, nur „Kochkäse“ zu essen. Es könnte aber auch ein anderer Käse gewesen sein. Jedenfalls hat er seit dieser Zeit kaum noch Käse gegessen.
Koch bei den Amis
Nach einer gewissen Zeit im Lager, hatte er dort, wohl weil er kochen konnte, als Koch gearbeitet. Er wurde dann in ein Magazin der amerikanischen Armee versetzt: Materialausgabe für US-Soldaten. Dort „organisierte“ er zusammen mit zwei anderen alles Brauchbare, v. a. aber Ami-Zigaretten. Unsere Mutter holte diese Zigaretten in München ab, und der Kopp-Opa vertrieb sie in Berghofen und Umgebung, wohin es seine Familie verschlagen hatte. Mutter soll alle 14 Tage nach München gefahren sein. Auf diese Weise unterhielt er seine Familie, die inzwischen nach Nordhessen vertrieben worden war. In München lernte er die Zofe von Marlene Dietrich kennen und später auch diese selbst in ihrer Wohnung. Ob er ein Verhältnis mit einer der beiden hatte? Darüber sprach er nicht. Später oder zur gleichen Zeit hatte er ein Verhältnis mit einer anderen Frau, Name unbekannt. Mit ihr hatte er angeblich einen Sohn. Was aus ihm geworden ist, ist nicht bekannt. Unsere Mutter hat diese Frau bei ihren Fahrten nach München selbst kennengelernt. Sie wollte ihn zu seiner Familie zurückholen. Er wollte aber bei der Frau in München bleiben und nicht zu seiner Familie nach Berghofen kommen. Er hätte dadurch seinen Job im Magazin verloren, der offenbar sehr bequem und lukrativ war.
Von unserer Mutter und dem Kopp-Opa wurde er unter Druck gesetzt, zu seiner Familie zurückzukehren. Einmal ist er zu Besuch gekommen – wahrscheinlich Anfang 1947 – und wieder nach München zurückgefahren. Den Ausschlag, dass er im Spätherbst 1947 doch zu seiner Familie zurückkam, gab wohl ein Brief seiner Mutter: Sie drohte ihm darin an, „ins Wasser zu gehen“, wenn er bei der Frau in München bleibe.
Er kam mit dem Fahrrad
Er kam mit einem Fahrrad und einer ledernen schwarzen Aktentasche von Marburg aus zu uns. Bis Marburg/Lahn war er mit dem Zug gefahren. Vor uns Kindern stand ein hagerer fremder Mann mit einer Schirmmütze. Ich kann mich nicht daran erinnern, ob er uns in den Arm genommen oder wie er uns sonst begrüßt hat. Nur an diese Aktentasche erinnere ich mich. Sie enthielt neben Ami-Zigaretten ein „Staverl“: den bereits erwähnten lederbezogenen Rohrstock. Nach den oben erwähnten Spannungen mit den Hausleuten mussten wir bald ausziehen.
Aber wohin? „Niemand im Dorf wollte uns haben“, erzählte uns unsere Mutter. Da wir aber eine Unterkunft brauchten, eine Familie mit drei kleinen Kindern konnte ja nicht auf der Straße leben, wurden wir bei der Familie Arnold, Hausname Giebels (Giwwels), zwangseingewiesen.
Bei Familie Arnold
Geleitschutz
Ein Polizist aus der benachbarten Kleinstadt Battenberg soll uns (mit gezogener Pistole?) in die angewiesenen beiden Räume gebracht haben. Um Probleme zu vermeiden, war er mit dabei. Unser Vater ist in meiner Erinnerung bei diesem Umzug nicht vorhanden. Schrank, Bett und Tisch hat er vermutlich schon vorher dorthin geschafft. Möglicherweise musste er an dem Tag arbeiten, denn 1951 im Sommer hatte er schon einen Hilfsarbeiterjob als Handlanger auf dem Bau gefunden.
Es war die gute Stube der Bauern, in die wir zogen. Eine anschließende Kammer wurde das Kinderschlafzimmer. Eine Küche gab es für uns nicht. Vermutlich hat unsere Mutter auf einem Ofen im Wohnzimmer gekocht.
Der Umzug erfolgte nach der Erinnerung unserer Schwester so: Der Polizist ging vorneweg.
Maria folgte ihm an der Hand unserer Mutter. Sie durfte die Sturmlaterne tragen. Dann folgten mein Bruder und ich. Wir zogen den Handwagen mit unseren wenigen Habseligkeiten, einem Feldbett („Amibett“), das wohl der Vater auch mitgebracht hatte, und einem Kinderbett für die Kleine.
Unser Empfang bei Giebels war mehr als frostig. Für dreieinhalb Jahre wohnten wir zu fünft in den beiden Räumen: zwei Erwachsene, zwei heranwachsende Jungen und unsere kleine Schwester Maria. Um in unser Zimmer zu gelangen, mussten wir durch den Hausflur, zwei Holzstufen hinauf und dann nach rechts in unsere Wohnung. Das Ehepaar Arnold hatte zwei erwachsene Kinder, die Geschwister Otto und Frieda. In den ersten Wochen trauten wir uns kaum hinaus, aus Angst, jemandem von den „Hausleuten“ zu begegnen. Es kam anfangs aber nicht oft dazu, denn wir horchten an der Tür, ob nicht gerade jemand von ihnen im Hausflur war, und gingen nur hinaus, wenn wir nichts hörten. Trafen wir dennoch einen an, erschraken wir Jungen jedes Mal heftig und gingen ihm schnell aus dem Weg. Zumindest bei mir war es so. Meine Mutter hatte uns verboten, mit den Hausleuten zu reden oder gar etwas von ihnen anzunehmen. Sie war sehr beleidigt darüber, dass man sie und ihre Familie nicht wollte.
Die kleine Maria bricht das Eis
Anfangs sprachen wir und die Giebels nicht miteinander. Die kleine Maria, drei Jahre alt, hielt sich aber nicht an das Verbot. Sie brach schließlich das Eis. Ständig rannte sie hinter Otto und Frieda her, den erwachsenen Kindern der neuen Hausleute. Unsere Mutter versuchte immer wieder, sie zurückzuhalten, aber sie ließ sich nicht daran hindern. Sie rannte auch hinter der „Giwwelstante“29, Frau Arnold, her, sogar bis Backhaus in der Mitte des Dorfes. Maria wollte immer Gläser mit Marmelade von der „Giwwelstante“ haben. Ihr wurde gesagt, wenn ein Mann in gläsernen Stiefeln komme, der eine gläserne Leiter trage, dann dürfe sie zur Marmelade. Otto hatte unsere kleine Schwester offenbar sehr gern. Scherzhaft nannte er Maria „schoarzes Oos“ oder „schwoazer Deiwel“ (schwarzes Aas oder schwarzer Teufel). Darüber hat sie sich immer geärgert. „Ech sei kän schworzer Deiwel!“ („Ich bin kein schwarzer Teufel!“)
Sie ging neugierig und unbefangen auf unsere Vermieter zu und hatte durch ihre kindlich-freundliche Art bald das Herz der Frauen gewonnen. Sie war ja im Dorf geboren und damit sozusagen schon eine Einheimische. Das Eis zwischen uns begann schon nach einigen Wochen, etwas aufzutauen. Der Anlass war folgender:
Maria war verschwunden. und meine Mutter machte sich große Sorgen. Sie ging sie suchen. Von Nachbarn erfuhr sie, dass die Kleine mit der „Giwwelstante“, Frau Arnold, mit zum Backhaus gegangen war. Meine Mutter kam dorthin und traf die beiden an. Sie wollte ihr Kind sofort mitnehmen. Das Kind wollte aber nicht. Sie wehrte sich und schrie wie am Spieß.
Da sprach Frau Arnold meine Mutter an: „Lassen Sie das Kind doch hier, ich bringe sie ja heil wieder nach Hause.“ Das waren wohl die ersten Worte, die sie an meine Mutter gerichtet hatte. Meine Mutter gab nach und die Kleine durfte bleiben. Sie hatte einen besonderen Grund, nicht mit der Mutter zu gehen. Im Backhaus backten die Frauen nicht nur ihre Brote, sondern auch leckere Zucker- und Streuselkuchen, im Herbst auch Apfel- und Pflaumenkuchen. Ein weiterer Vorfall, den meine Schwester ausgelöst hatte, wirkte sich ebenfalls fördernd auf die Kommunikation aus: Im Dorf feierten die Ungarndeutschen „Kiridog“, ihr Kirmesfest. Maria hatte ihr neues Kleid mit Rotkäppchenmuster an, das ihr unsere Wiest-Großmutter aus diesem Anlass geschenkt hatte. Die Kleine war als Erste fertig angezogen für dieses Ereignis und wartete schon auf dem Hof auf uns andere. Dort stand auch der vollgetankte Jauchewagen der Hausleute. Maria sah ihn sich genauer an, entdeckte hinten an dem Tank eine Kette und zog daran. In einem hohen Schwall ergoss sich die stinkende Brühe über sie. Auf ihr lautes Geschrei hin liefen die Frauen auf dem Hof zusammen. Meine Mutter rannte unser „Trögl“ holen, in dem wir Kinder immer badeten. Die Giebelstante und die Frieda zogen das unglückliche Kind aus. Wasser wurde herbeigeschafft und die Kleine vom Kopf bis Fuß eingeseift und abgeschrubbt, abgetrocknet und neu eingekleidet. Ob sie hinterher nicht doch noch ein wenig gestunken hat, ist nicht bekannt. Sie konnte jedenfalls mit zum Kirchweihfest gehen. Selbstverständlich hatten die Frauen bei dieser Rettungsaktion auch mit einander gesprochen. Ich gehe übrigens davon aus, dass unser Vater von Anfang an mit den Hausleuten gesprochen hat.
Arbeitssame Leute waren wir
Ein Grund für die Verbesserung der Situation war auch, dass die Arnolds bald feststellten, dass wir keineswegs „Zigeuner“ waren, sondern arbeitsame Leute, deren Eltern in Ungarn eine ähnliche kleine Landwirtschaft gehabt hatten, sogar eine größere als sie hier. Meine Eltern waren mit all den hier anfallenden Arbeiten vertraut, und sie halfen den Vermietern bald aus, v. a. während der Ernte, bei der jede Hand gebraucht wurde. Mein Bruder und ich halfen ebenfalls mit. Eine Arbeit, die wir etwa einmal im Monat für unsere Mutter übernehmen mussten, war „Wäsche bleichen“. Wenn Mutter große Wäsche hatte, legten wir bei schönem Wetter Bettlaken, Bettbezüge und die Tischwäsche in Giebels Garten auf den Rasen und begossen sie mit Wasser aus einer Gießkanne. Das wiederholten wir einige Male. Dann wurden die Wäschestücke umgedreht und die Rückseite bleichte nun in der Sonne.
Wir durften uns auf dem Hof der Bauersleute einen Kaninchenstall bauen, und so verfolgte uns Jungen diese Arbeit auch in der neuen Wohnung. Unser „Peiniger vom Straßenrand“ wohnte nun sogar in unserer unmittelbaren Nähe
Wenn die Heidelbeeren reiften …
Wenn die Heidelbeeren reiften, mussten wir mit unserer Mutter und weiteren Frauen und Kindern in den Wald, um sie zu pflücken. Es war eine mühsame Arbeit, diese kleinen blauen Kugeln einzeln abzupflücken. Wir legten sie zunächst in ein Milchkännchen oder auch in eine Konservenbüchse, die wir mit einer Kordel um den Bauch gebunden hatten. War ein Gefäß voll, so schütteten wir es in einen Eimer, der bei der Mutter stand. Beim Pflücken konkurrierten mein Bruder und ich miteinander. Wir zeigten uns gegenseitig, was wir schon gepflückt hatten. Bei mir war der Boden schon bedeckt. Er hatte die Büchse fast zu einem Viertel gefüllt oder umgekehrt. So ging das den ganzen Tag über. Es half uns aber, die lange Zeit zu überstehen.
Schlimm war es, wenn einer stolperte und hinfiel. Der ganze Ertrag seiner Arbeit lag dann auf dem Boden, und er versuchte, die Beeren wieder in sein Gefäß zurückzubringen. Schlimm waren auch die Rinderbremsen und sonstigen Stechfliegen, die uns ständig in unsere nackten Beine stachen. Eine immerwährende Versuchung war es, die Beeren zu essen, statt sie in den Sammelbecher zu tun. Wenn unsere großen Eimer dann endlich voll waren, begann der lange Weg aus dem Wald ins Dorf zur Sammelstelle. Dort wartete schon ein Aufkäufer, der uns pro Kilo eine Mark bezahlte. Das bezahlte er aber nur für „einwandfreie Ware“. Waren zu viele Blätter zwischen den Beeren, gab es weniger Geld.
Waldhimbeeren sammelten wir zu dem gleichen Zweck. Die bei den Heidelbeeren auftauchenden Probleme wurden dabei noch vergrößert, weil wir uns an den stacheligen Himbeersträuchern die nackten Beine zerkratzten. Diese Beeren mussten noch sorgfältiger gepflückt werden als die Heidelbeeren, weil sie sehr leicht „zermatschten“ und dadurch unansehnlich wurden. Wenn wir Beeren aßen, erlebten wir häufig eine unangenehme Überraschung. War zuvor eine Blattwanze darüber gelaufen, so stanken und schmeckten sie ekelhaft, und wir spuckten die schönen Beeren wieder aus. Das wenige zusätzliche Geld, das wir durch Beeren sammeln verdienen konnten, gab unsere Mutter für Kleider und Schuhe für uns aus, denn wir wuchsen ständig aus den alten Sachen heraus.
Heuernte
Im Juni mähten unsere Hausleute ihre Wiesen. Das geschah mit einem „Mähbalken“, in dem ein Messer ständig hin und her lief und das Gras abmähte. Er war an einer Maschine angebracht, die von Kühen gezogen wurde. Otto saß auf einem Sitz zwischen den Rädern und hob und senkte den Balken mit einem Hebel. Das Gras blieb zum Trocknen in der Sonne liegen, bis es trocken war. Bei heißem Wetter wurde es mittels Rechen täglich gewendet, damit auch die Rückseite zu Heu trocknen konnte. Wenn das Heu fertig war, wurde es in lange Reihen zusammengerecht, die dann von den Männern mit Heugabeln auf einen Leiterwagen geladen wurden. Auf dem Wagen sorgte die Tochter Frieda dafür, dass es richtig verteilt wurde. Auch mein Bruder und ich halfen beim Wenden und auf dem Wagen. War ein Wagen voll, so wurde das Heu mit einem langen Rundholz, dem „Heubalken“, der längs über dem Wagen lag und hinten und vorne mit Seilen oder Ketten gespannt wurde, befestigt. Dann wurde das Heu in die Scheune auf dem Hof gefahren. Die Wege, die dabei gefahren werden mussten, waren mehrere Kilometer lang. Eine solche Fahrt dauerte jeweils über eine Stunde. Wir Kinder durften dabei oben auf dem Wagen mitfahren. Wir lagen auf dem Rücken in der Sonne, inmitten des duftenden Heus und atmeten die würzigen Sommergerüche tief ein. Für mich zählen diese Fahrten zu meinen schönsten Kindheitserinnerungen an Berghofen. In der Scheune wurde das Heu vom Wagen direkt auf den Heuboden verladen. Das Auf- und Abladen war eine schwere Arbeit. Danach ging’s wieder zurück auf die Wiese, und die Arbeit begann von Neuem. Am Nachmittag fand eine kurze Erholungspause auf der Wiese statt. Zur Stärkung hatte die „Giwwelstante“ Kuchen und Pfefferminztee mitgebracht. Auch an diese Pausen erinnere ich mich gern zurück.
Otto, der Wagenlenker
Der Wagenlenker bei all den Fahrten auf die Felder und Wiesen war Otto, der Sohn der Hausleute. In der rechten Hand hielt er die Peitsche, die er nur sehr sparsam einsetzte, sozusagen nur zur Erinnerung, damit die Kühe beim Ziehen nicht einschliefen. Leicht ließ er das Seilende über den Rücken der Tiere streifen. Die Ahnung, dass er auch schmerzhaft zuschlagen könnte, beschleunigte für eine Weile ihren Schritt, bis sie wieder langsamer wurden. Dann wiederholt sich alles wieder. Otto dirigiert die Tiere meistens mit Sprache: „Oaar“ hieß links, „hott“ hieß rechts, „brrr“ anhalten, „hüüüh“, hieß „Los, los!“ War er zufrieden, klang seine Stimme versöhnlich, wenn er den Namen der Tiere aussprach: Sie hießen „Bless“, „Liese“ oder „Braune“. Gingen sie nicht so, wie sie sollten, schrie er „Schinnoos“, „Brauner Deivel“, „Deer weer ich hälfe“, dann schlug er nach ihnen. Er war jähzornig. Diese Wutanfälle waren sozusagen das ergänzende Verhalten zu seiner sonst überwiegenden Ruhe.
Giebels haben sich nie einen Traktor angeschafft, auch keinen Selbstbinder. Das Geld dazu fehlte immer. Auch an einen „Gummiwagen“ kann ich mich nicht erinnern, so wurden Wagen mit Gummi bereiften Rädern genannt. Giebels Wagen hatten Holzspeichenräder mit einem Stahlband drum herum. Die Lauffläche war im Sommer silbrig glänzend vom Gebrauch mit Kratzspuren überfahrener Steinchen. Der Seitenrand kontrastierte dazu rostig-schmutzig. In Berhofen gab es keine Ochsen, es gab nur junge Bullen, die bald geschlachtet oder verkauft wurden, und den Deckbullen, der für Nachwuchs sorgte. Die Kühe waren rechts und links der Wagendeichsel festgemacht. Sie zogen mit einem „Kummet“, das vor die Stirn der Tiere mit Riemen geschnallt wurde und an dem die Zugketten befestigt waren. Die Ketten liefen über eiserne Führungsringe, die an breiten ledernen Leibriemen an den Außenseiten der Tiere befestigt waren. Sie waren an jeweils einer „Runge“ befestigt, die ihrerseits mittels Ring und Öse an der „Waage“ festgemacht war. Sie wurde über einen starken Bolzen geschoben, der in eine Halterung am Ende der Deichsel eingelassen war. Er stellte die feste Verbindung zum Wagen dar. An ihm hingen die komplette Zugvorrichtung und damit das ganze Gewicht des Wagens.
Gelenkt wurden die Tiere mittels langer Lederriemen, der „Korschel“, die jeweils an der äußeren Seite des Kummets der Zugtiere befestigt waren. In den Händen des „Kutschers“ liefen die Riemen zusammen. Ein kurzer Ruck am rechten Riemen und die Tiere fuhren rechts heran oder bogen rechts ab. Ein Zug nach links und das Gleiche geschah in der umgekehrten Richtung. Wurden beide Riemen gezogen, fast immer verbunden mit einem lauten „brrrrrh“, blieben die Tiere stehen. War die Straße abfallend, mussten sie die Beine spreizen und sich gegen das Gewicht des nachschiebenden Wagens stemmen, um anzuhalten. Ging‘s zu steil abwärts, zog Otto die Bremsen des Wagens an und entlastete damit die Tiere. Die Bremse war ein mit Gummi beschlagener Holzkeil, der mittels einer Gewindestange auf die Lauffläche der Räder gepresst wurde. Dann entstand ein kratzendes, zuweilen quietschendes Schleifgeräusch. Je schwerer der Wagen beladen war, desto lauter und störender wurde es. Drehte er die Bremse wieder auf, rollte der Wagen leiser weiter.
Angespannt wurden in der Regel nur ältere, bewährte Kühe, die keine Kälber mehr bekamen. Sie zogen die Wagenfracht. Solange eine Kuh noch säugte, wurde sie im allgemeinen als Zugtier nicht benutzt. Nur in Ausnahmefällen, für leichtere Ladungen und wenn die Stammtiere einen schwereren zweiten Wagen zu ziehen hatten, wurde auch eine säugende Kuh mit angeschirrt. War das Kälbchen noch so jung, das es nicht allein im Stall zurückbleiben sollte, lief es während der Fahrt neben seiner Mutter her, munter und ausgelassen, ohne sein späteres Schicksal schon auch nur ahnen. Als die ersten Autos nach dem Krieg wieder auf den Landstraßen fuhren, wurde das Kälbchen hinten am Wagen mit einem Strick angebunden.
Auf der Asphaltstraße war das Fahrgeräusch kaum wahrnehmbar, ein leises Rollen nur, das vom regelmäßigen, leisen Aufklatschen der Hufe begleitet wurde. Diese Ruhe wurde von Ottos immer wiederkehrenden Befehlen an die Tiere unterbrochen: „Schnäller!“, „Schloof nit eeh!“, „Werds baole!“ („Schneller!“, „Schlaf nicht ein!“, „Wird’s bald!“). Auf den Feldwegen war es anders. Da rüttelten die Schlaglöcher den Wagen durcheinander, er rumpelte, rappelte und knarrte, dumpf und hell. Waren die Wege aufgeweicht, schmatzten die eisenbeschlagenen Reifen in dem weichen Lehm, schlürften und saugten sich durch den Matsch. Bei der Getreideernte im Juli waren die Feldwege trocken, dann lief der Wagen leichter.
Getreideernte
Das Getreide wurde geerntet, zunächst Hafer und Gerste und danach der Roggen. Weizen wurde in Berghofen kaum angebaut. Das Klima und der Boden waren nicht entsprechend. Während der langen Schulferien im Sommer halfen wir Kinder auch bei der Getreideernte mit. Das war eine unangenehme Tätigkeit. Otto schnitt mit seinem Mähbalken das Getreide ab, und die übrigen Helfer, Frauen und Kinder, mussten es aufnehmen und zu Garben zusammenbinden. Das geschah mittels gedrehten Strohs, das als Band diente. War eine Garbe fertig, wurde sie beiseitegelegt und die nächste kam dran. Ganz zum Schluss wurden die Garben zu „Hicheln“, in unserem Dialekt hießen sie „Manderl“, zusammengestellt. Eine Garbe wurde wie ein Dach auf jeden Hichel gesteckt. Es sollte das Wasser abhalten, falls unerwünschter Regen kam. Die Hichel blieben zum Nachtrocknen auf dem Feld und die Garben wurden später aufgeladen und in die Scheune gebracht, wo sie bis zum Dreschen lagerten. Dabei mussten die Bauern darauf achten, dass die Ähren nicht zu trocken waren, damit die Körner nicht vor dem Dreschen herausfielen.
Die Kartoffeln müssen raus
Ende Oktober begannen die Kartoffel- und Rübenernten, die sich bis weit in den November hineinzogen. Die Kartoffeln wurden mit dem „Roder“ aus dem Boden geackert und mittels eines sich drehenden Gabelrades mit langen gebogenen Zinken auf dem Acker verteilt. So lagen sie gut sichtbar auf einem Streifen von etwa einem Meter ausgebreitet. Frauen und Kinder lasen die Kartoffeln auf und legten sie in Körbe. Uns schmerzte dabei sehr schnell der Rücken. Waren die Körbe voll, wurden sie in bereitgelegte Säcke geschüttet. Die vollen Säcke standen in langen Reihen auf dem Acker, wurden mit Seilen zugebunden und mit dem Wagen abtransportiert.
Wenn der Wagen mit Kartoffeln oder Rüben voll beladen war, kamen die Zugtiere nur mühsam voran. Dann mussten die Mitfahrer abspringen und schieben helfen, auch wir Kinder. Gelegentlich blieb der Wagen auch ganz stecken. Dann wurden Männer und Frauen von den benachbarten Feldern zum Schieben dazu gerufen. Wenn auch das nicht half, spannten die Bauern weitere Zugtiere vor den Wagen. Waren keine in der Nähe, wurde ein Teil der Ladung unter Fluchen und Verwünschungen abgeladen. Dabei war es zumeist nasskalt, es nieselte oder regnete, die Klamotten waren verdreckt und durchweicht, die Schuhe hielten längst schon keine Wasser mehr ab. Die Füße „matschten“ in den Schuhen, und wenn wir sie am Abend endlich ausziehen konnten, waren unsere Füße eiskalt, weiß, runzelig und steif.
Der Rücken schmerzte, ächzend nur konnten wir uns aufrichten. Den ganzen Tag über, beim Kartoffellesen oder Rübenladen hatten wir Kinder schon über Kreuzschmerzen geklagt, nur um jedes Mal den Spruch der Erwachsenen zu hören: „Ehr hött doch noch goar käh Kräehz!“ oder wenn es unsere Leute waren: „Eeis hodds jo nauh goar ka Grääz!“ („Ihr habt ja noch gar kein Kreuz!“) „Unsere Leute“ waren unsere Familien und die Verwandtschaft – bei uns hieß es „di Freindschoft“ – oder generell die Vertriebenen aus Perbál und den benachbarten deutschen Dörfern in Ungarn.