Kitabı oku: «Ruhm und Cola», sayfa 2
Mehrere Runden Mischgetränke und Schnaps später, bahnte ich mir einen Weg zur Toilette, als ich drei Kumpels von Alex, die ich vage anderen Bands zuordnen konnte, in der offenen Tür zum Herrenklo stehen sah. Der Raum war so winzig, dass sie nicht alle zusammen hineinpassten. Es war alles andere als diskret und ich konnte mir sehr gut vorstellen, was da gerade abging, verbot mir aber, einen genaueren Blick darauf zu werfen. Man musste kein Mitglied der Branche sein, um zu wissen, dass sie es einem ziemlich leicht machte an diverse Substanzen zu kommen und trotzdem fand ich es jedes Mal wieder befremdlich. Mit einem schroffen »Hi« machte ich über die Musik hinweg, die aus der Kneipe drang, auf mich aufmerksam. Keiner der Jungs wirkte ertappt, vielmehr schienen sie mein Auftauchen als Ergänzung ihrer kleinen Privatparty zu sehen. »Möchtest du?«, bot mir einer von ihnen, dem ich ein paar Mal nach einem Konzert begegnet war, nun großzügig eine Line an, die er bereits zurechtgeschoben hatte. Er wirkte so ehrlich freundlich und offen, dass mir kurz die Worte fehlten, obwohl ich eigentlich einiges zu sagen gehabt hätte. Doch ich hielt mich zurück, wohlwissend, dass ein bissiger Kommentar wenig ändern und im Anschluss irgendwann bei Alex landen würde. Im Prinzip ging es mich auch gar nichts an, was sie hier trieben. Sollten sie sich doch ihre Gesundheit ruinieren. »Nein, danke.« Ablehnend schüttelte ich den Kopf und schloss quietschend die Tür zur Damentoilette hinter mir.
Vier Jahre zuvor
An einem Abend wie diesem mit unsäglichen Treppenhausbekanntschaften und einem Fast-Todessturz half nur eins: eine Familienpizza mit doppelt Käse, dazu extra Pizzabrötchen und Sour Cream. Mein Standard-Menü gegen Scheißtage vom Imbiss um die Ecke. Es lagen wohl einige eher schlechte Tage hinter mir, denn man kannte mich dort bestens. Bereits als ich in Sichtweite der Bude kam, begrüßte mich der freundliche Besitzer mit einem fröhlichen: »Wie immer?«, schnippte seine Zigarette umgehend in den nächsten Mülleimer, um sich ans Werk zu machen, ohne meine auch Antwort auch nur abzuwarten. Während er mit voller Hingabe den Pizzateig durch die Luft wirbelte, stellte ich am Stehtisch vor dem Laden bei einem mehr als verdienten Bier diesen verfluchten Sommer zum hundertsten Mal infrage. Ja, ich wollte diesen Job. Und vor allem: endlich einen Ausweg aus diesem ewigen MacBook-auf-den-Knien-Agenturleben. Weg von Thinktanks und Cold Brew. Nie mehr sonntagabends noch schnell einen Pitch optimieren. Der Buchladen, in dem ich seit ein paar Monaten arbeite, war nicht nur im Viertel, sondern auch bei den Touristen sehr beliebt. Ich mochte es, den ganzen Tag von Büchern umgeben zu sein. Da wir fast ausschließlich aus zweiter Hand verkauften, hatten viele dieser Werke schon einen oder sogar mehrere Vorbesitzer gehabt, was das Ganze noch spannender machte. Oft fanden sich Notizen und kleine Anmerkungen darin. Ich liebte das »Books«, wie der großväterliche Besitzer seinen Laden zu einer Zeit genannt hatte, als der Krieg zu Ende, die Angst davor seinen jüdischen Nachnamen zu benutzen aber immer noch groß genug gewesen war. Im Books gab es Bücher, darauf legte er großen Wert. Keine Ansichtskarten, keine Schreibwaren, keinen Tand. Alles war simpel und gut. Und für mich das Paradies: Genau so hatte ich mir meinen Traumjob immer vorgestellt, als ich im ersten Semester Publizistik studierte und das Klischee der naiven Studentin erfüllte, die »irgendwas mit Büchern« ganz oben auf ihren Karrierezettel schrieb. Dass ich nach dem Studium in einer Werbeagentur nach der anderen landete, hatte mich eher sehr unsanft auf den Boden der Realität zurückgeholt. Arbeitszeiten bis tief in die Nacht und kaum eine Minute, in der man nicht noch superdringend irgendetwas machen musste, kickten mich zwar anfangs, raubten mir aber nach und nach, neben dem Schlaf, auch die Kreativität. Gemessen an diesen doch sehr unangenehmen Begleiterscheinungen, dauerte es ziemlich lang, bis ich den Absprung fand und hätte ich nicht auf der Suche nach einer Faulkner-Gesamtausgabe den Zettel an der Ladentür des Books entdeckt, vermutlich säße ich noch heute in einem klinisch-weißen Büro auf der verzweifelten Suche nach meiner Motivation. Es ging mir gut. Es waren nicht der neue Job oder das Wetter, die mir den Sommer verhagelten. Wenn ich ganz ehrlich zu mir selbst war, lag das Problem viel tiefer: Egal, wie sehr ich aufblühte, wurde ich das Gefühl nicht los, dass mein engster Freundeskreis es als eine Niederlage ansah, dass ich nun Tag für Tag, Bücher katalogisierte und Kunden beriet, statt mich – in ihren Augen – im Marketing selbst zu verwirklichen. Meine ehemalige Kollegin Ellen nannte mich scherzhaft «die Verkäuferin mit akademischer Laufbahn« und merkte dabei gar nicht, wie sehr sie meine Gefühle verletzte, denn ganz Unrecht hatte sie auch wieder nicht. In meinem Vorstellungsgespräch war es nur wichtig gewesen, drei Autoren zu nennen, die mich berührten. Keine Zeugnisse. Keine Referenzen. Ich redete eine halbe Stunde mit glühenden Wangen über Rilke und hatte nicht nur den gesuchten Aushilfsjob, sondern auch gleich einen so großen Stein im Brett, dass mir eine Festanstellung auf Probe angeboten wurde.
Als ich zum zweiten Mal an diesem Tag, diesmal mit der Pizza im Arm und mit immer noch nassen Haaren vom Sommerregen, das Treppenhaus hinaufpolterte, war ich gewappnet. Vorsichtig schob ich mit einem Fuß, eine der Taschen zur Seite und drückte mich an der Wand entlang zu meiner Tür. »Siehst du, geht doch.« Da war er also wieder. Es klang wie ein Spaß, aber Alex’ Mundwinkel zuckten nur einmal kurz und seine auffallend blauen Augen erreichte dieses zögernde Lächeln gar nicht. Vermutlich war er einfach viel zu cool für Scherze. Eine Eigenschaft, die mir grundsätzlich massiv auf die Nerven ging und mich eigentlich immer direkt zu einem Konter verleitete. Doch ich besann mich, atmete kurz durch und sprang, als ginge es um die Qualifikation zur Olympiade, mit einem großen Satz über meinen Schatten. »Okay. Unser Start war mies«, begann ich und verlor bereits schon wieder einiges an Mut, als Alex überrascht beide Augenbrauen hochzog, während seine Lippen weiterhin eine emotionslose, schmale Linie bildeten. Alles in mir verkrampfte sich, doch ich hatte bereits genug unangenehme Präsentationen in meinem Leben gehalten, um meinen gefassten Plan weiter durchzuziehen. »Aber bevor du hier im Treppenhaus noch Wurzeln schlägst: Ich denke, ich habe genug Essen für zwei bestellt. Du kannst also gerne auch bei mir auf den Schlüsseldienst warten, der vermutlich sowieso erst übermorgen vorbeikommt.« Ich lächelte aufmunternd, was meinen neuen, alten Nachbarn offensichtlich noch misstrauischer machte, denn er musterte mich nun noch intensiver mit leicht zusammengekniffenen Augen, als wolle er ergründen, ob hinter meinem Angebot eine List steckte. Schließlich schüttelte er den Kopf und winkte mit seiner linken Hand betont lässig ab. »Nee, lass mal.« Die undurchdringlich coole Miene kehrte auf sein Gesicht zurück und löste bei mir ein Gefühl von Erbärmlichkeit aus. Da stand ich nun, wie jemand, der es nötig hatte, fremde Menschen zum Essen einzuladen. Angewiesen auf die Gesellschaft von irgendeinem Spinner aus dem Treppenhaus. Gleichzeitig ärgerte ich mich darüber, dass er das Angebot nicht angenommen hatte. Ich kratzte meine letzte Restwürde zusammen und zuckte kurz mit den Schultern. »Na dann …« Einen Tick zu hektisch für einen coolen Abgang, drehte ich mich zu meiner Tür und verbarg dabei geschickt die Schamesröte, die mir bereits ins Gesicht stieg. Zum Glück fand ich meinen Schlüssel verhältnismäßig schnell und war schon fast in der Wohnung verschwunden, als ich hinter mir ein zögerliches »Du könntest ja vielleicht mal mit deinem Vornamen anfangen …« vernahm. Nun war es endgültig vorbei mit meiner Gelassenheit und ich spürte das Blut in meinen Wangen pulsieren. Hatte ich wirklich vergessen, mich ihm vorzustellen? »Elisabeth«, hörte ich mich monoton sagen, unfähig meine eigenen Worte zu fassen. Ich konnte mich wirklich nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt irgendwem meinen vollen Namen genannt hatte. Alle Menschen in meinem Leben, meine Eltern ausgenommen, nannten mich Lizzy. Aber irgendetwas in mir verbot sich, diesem Typ meinen Spitznamen zu verraten. »Ihre Majestät. Das erklärt Einiges.« Aha, doch nicht zu cool für Witze. Eine neue Welle der Abneigung durchflutete mich und ich funkelte ihn wütend an. Unbeeindruckt davon, lümmelte Alex sich zurück auf die Treppenstufen. Meine Fantasie sehnte sich danach, ihm das selbstgefällige Grinsen aus dem Gesicht zu prügeln, doch in der Realität musste ich mich damit begnügen, meine Wohnungstür etwas lauter als nötig ins Schloss zu knallen. Verarschte der mich?
Gegenwart
Auf der Toilette der Kneipe checkte ich kurz mein Handy. Nicht gerade meine hygienischste Angewohnheit, aber nur hier fand ich an so einem Abend die Ruhe dazu, ohne direkt anti-social zu wirken. So wie ich den weiteren Verlauf des Abends einschätzte, würde ich in nächster Zeit meine beste Freundin an einen Flirt mit Felix und meinen besten Freund an ein noch nicht namentlich bekanntes, aber sicher sehr süßes Girl verlieren. Ein typischer Freitag in der Eckkneipe und der Grund, wieso ich bereits vor ein paar Tagen eine Nachricht an Jan geschickt hatte. Jan, der Sänger aus Alex’ Band, war eine sichere Bank für durchzechte Nächte, den ersten Milchkaffee des Tages auf dem Weg von der Kneipe vorbei am Bäcker und eine letzte geteilte Zigarette auf den Stufen vor meinem Haus. Für Alex war er eine der wichtigsten Bezugspersonen und mit seinen zehn Jahren Altersunterschied so etwas wie ein großer Bruder. Er war Alex in manchen Dingen sehr ähnlich, voller Übermut und Unvernunft und konnte gleichzeitig sehr erwachsen und überlegt sein. Immer wieder hatte die Vergangenheit bewiesen, dass Gespräche mit ihm, auch über heikle Themen, nie ins Unangenehme abdrifteten.
Mittlerweile war es schon länger her, dass Jan und ich zuletzt einen Abend gemeinsam an der Theke verbracht hatten. Einerseits eine typische Nebenwirkung der Menschen, die im Musikbusiness arbeiteten. Heute waren sie hier, morgen dort. Andererseits tauchte er, auch wenn er sich in Berlin aufhielt, eher selten auf, sondern nutzte die freie Zeit zu Hause um sich der »Rettung seiner Beziehung« zu widmen, wie Alex nicht müde wurde zu betonen. Es war ein offenes Geheimnis, dass er und Jans Freundin sich nicht ausstehen konnten und es bisher nur deshalb nicht geknallt hatte, weil Alex mit seinem ganzen Herz an Jan hing und in ihrer Anwesenheit eine derart zuckersüße Freundlichkeit an den Tag legte, die mich jedes Mal etwas gruselte.
Irgendetwas fehlte, wenn Jan nicht dabei war und langsam fing ich an, ihn zu vermissen. Enttäuschender Weise zeigte mein Telefon weiterhin nichts anderes als den üblichen Sperrbildschirm. Keine neuen Nachrichten. In einem Anflug von akutem Masochismus ließ ich mein Finger über den Touchscreen gleiten und öffnete die Messenger-App. Vielleicht gab es einfach nur ein Problem mit den Push-Benachrichtigungen. Natürlich gab es kein Problem damit. Der Verlauf lag einseitig-kommunikativ vor mir, wie eh und je. Geknickt steckte ich das Telefon wieder weg.
Als ich mir die Hände wusch, starrte ich mein Spiegelbild unzufrieden an. Es war mal wieder einer dieser Abende, an dem ich alles infrage stellte. Was machte ich hier eigentlich? Wieso wartete ich sehnsüchtig darauf, dass mir jemand auf eine drei Tage alte Mitteilung antwortete, statt mich in der Kneipe mit den Anwesenden zu amüsieren? Ich kam mir armselig vor. Armselig und schwach. Nachdenklich ließ ich kaltes Wasser über meine Handgelenke laufen, was zumindest meinen Kreislauf wieder etwas in Schwung brachte, aber mein Gedankenkarussell trotzdem nicht stoppen konnte. Der ausgeblichene, ehemals neongelbe Aufkleber, der einsam auf den Fliesen neben dem Waschbecken prangte, proklamierte GRL PWR. Ich seufzte. Sehr weit her war es damit bei mir gerade nicht.
Als ich zurück in den von lauter Musik und fröhlichen Stimmen erfüllten Raum trat, genügte ein Blick, um zu erkennen, dass sich bereits eine meiner Vermutungen bestätigte. Wie an jedem Wochenende, das wir hier verbrachten, lehnte Alex lässig an der Bar und war dabei seine volle Aufmerksamkeit zu verschenken. Die Frau mit der er sich mehr als angeregt unterhielt, strahlte eine souveräne, aber unangestrengte Coolness aus, die langen, dunklen Haare fielen ihr locker über die Schultern und ihre blitzenden Augen wurden von tadellosem Make-up dezent in Szene gesetzt. Kurz: Sie war sowas von sein Typ. Für einen kurzen Moment verharrte ich neben dem Zigarettenautomaten am Eingang zur Toilette und beobachtete meinen besten Freund. Es war verrückt. Mittlerweile kannte ich diesen Menschen so gut, dass ich sogar auf diese Entfernung von seinem Gesicht ablesen konnte, wie sehr es ihm sein Gegenüber angetan hatte. Das deutlichste Indiz war sein verklärter Blick, der nicht wie sonst desinteressiert, aber nickend durch sie hindurch ging, sondern ehrlich interessiert an ihren Lippen hing, während seine Finger sich auf der Theke langsam in die Nähe ihres Handrückens schoben – natürlich völlig unbeabsichtigt. Auf seinen Wangen zeichneten sich die für ihn so typischen Grübchen ab, als er über etwas schmunzelte, dass sie kurz zuvor gesagt zu haben schien. Ich musste unwillkürlich lächeln, denn so grotesk es auch klingen mochte, ich war immer froh, wenn er die Leere, die es in seinem Inneren von Zeit zu Zeit gab, statt mit Alkohol doch lieber mit Gefühlen auffüllte.
Selbst wenn es dabei nur um eine Nacht ging.
Das war nicht immer so gewesen. Als man Alex und mir kurz nach unserem Kennenlernen konsequent eine romantische Beziehung unterstellte, waren mir diese »kleinen Flirts«, wie er sie nannte, weil ihm die Vokabel besser erschien als »durch-die-Gegend-bumsen«, von Zeit zu Zeit ziemlich auf die Nerven gegangen. Nicht etwa, weil ich es Alex nicht gönnte, sondern viel mehr, weil mir alle in meinem Umfeld einreden wollten, dass ich ein Problem damit hätte. Ich konnte noch jetzt die beruhigenden Hände auf meinen Schultern spüren, die mich unnötigerweise hatten trösten wollen, wenn er von einer Party oder nach einem Gig plötzlich und grußlos verschwunden war. Unsere Beziehung zueinander war anders. Irgendwie hatte es irgendwann zwischen uns geklickt. Sein Penis und meine Vagina hatten zu dieser Verbundenheit jedoch nicht beigetragen.
Ihn am Tresen mit einer Frau zu sehen, die sein ehrliches Interesse weckte, löste in mir keinerlei negative Gedanken aus. Vielmehr drückte ich innerlich die Daumen, dass er endlich seine hanebüchenen Schutzmauern einreißen würde, die mit einer Mischung aus Arroganz und Charme, aus dem unsicheren Dude, einen zuweilen sehr blöden Aufreißer machten.
Seit vor gut vier Jahren seine letzte ernsthafte Beziehung live vor meinen Augen zerbrochen war, jagte bei meinem besten Freund in Sachen Liebe, ein Trauerspiel das nächste.
Nach einem letzten Blick auf die Szene bahnte ich mir einen Weg zurück zum Tresen, an dem Sophie mich bereits erwartete. Auch ihr war Alex’ neuste Eroberung nicht verborgen geblieben. »Ich wette einen Zehner, dass sie rummachen, bevor mein nächstes Getränk fertig ist«, lachte sie und gab ihre Bestellung auf. Ihre Chance tatsächlich zu gewinnen, stand ziemlich gut, denn die beiden Wettkandidaten waren bereits ein ganzes Stück näher aneinandergerückt.
Vier Jahre zuvor
Die nächsten Tage im schwülen Berliner Hochsommer vergingen mehr oder weniger schleppend. Die Koffer, das restliche Gerümpel sowie der charmante Besitzer waren mittlerweile Gott sei Dank in der Wohnung gegenüber verschwunden. Als ich am Samstagnachmittag von der Arbeit nach Hause kam, schien es schon fast so, als hätte ich mir den neuen, alten Nachbarn nur eingebildet. Ich hetzte zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hoch – pünktlich Feierabend zu machen, gehörte nach wie vor nicht zu meinen Kernkompetenzen – um die verlorene Zeit aufzuholen. Meine frisch aus dem Urlaub zurückgekehrten Freunde warteten bereits im Park auf mich und das von mir versprochene Bier, das sich noch im Kühlschrank befand. Als ich das erste Stockwerk erfolgreich hinter mir ließ, hörte ich plötzlich laute Stimmen, von denen ich zumindest eine meinem Nachbarn zuordnen konnte. Das hatte mir gerade noch gefehlt. Augenblicklich blieb ich wie angewurzelt stehen. Einerseits wollte ich wirklich nicht lauschen, sondern nur so schnell wie möglich wieder los, andererseits konnte ich mich nicht dazu überwinden, mitten in diesen Streit zu platzen, der natürlich – wo auch sonst – vor meiner Tür ausgetragen wurde. Also verweilte ich am Fuß des Aufgangs und wartete, während eine aufgebrachte Frauenstimme: »Du kannst mich mal! Du kannst mich so dermaßen mal kreuzweise!«, keifte. Sie bekam darauf keine weitere Antwort, was sie offenbar noch mehr in Rage versetzte. »Immer, wenn ich mein Zeug holen will, bist du nicht da, das kann doch nicht dein scheiß Ernst sein!« Stille. Dann hörte ich Alex, der mit kontrolliert ruhiger Stimme entgegnete: »Ich war arbeiten, das weißt du.« Sein emotionsloser Tonfall trieb seine Streitpartnerin weiter an und mir schoss durch den Kopf, dass er vielleicht einfach besser gar nichts gesagt hätte. »Ja, das weiß ich. Du bist ja nie da und du warst nie da. Immer war alles wichtiger als ich und jetzt hast du nicht mal den Anstand dir zehn Minuten Zeit zu nehmen, damit ich meine Sachen zurückbekomme. Nicht mal das. Fahr’ doch einfach zur Hölle.« Rums. Das saß. »Maja … ich … lass uns …«, setzte Alex deutlich zerknirschter an, aber seine Gesprächspartnerin schnitt ihm energisch das Wort ab. »Nein. Spar’ dir deine Worte. Ich will sie nicht mehr hören. Ich bin das alles so leid, Alex. Ich will nicht mehr vertröstet werden, nicht mehr glauben, dass du einen Platz in deinem Leben für mich findest. Ich kann nicht mehr warten, während du einem Traum hinterherläufst, der sich am Ende doch nur als Sackgasse entpuppt. Ich hab’ an dich geglaubt; ich hab’ wirklich mal an dich geglaubt.« Aufkommende Tränen schwangen in ihren Worten mit, als sie fortfuhr. »Aber langsam musst du aufwachen, bevor du daran kaputt gehst. Mich hast du schon verloren. Verlier’ dich nicht auch noch selbst.« Eine schier ewig dauernde Pause trat ein, ich traute mich kaum zu atmen und biss nervös auf meine Unterlippe. Vielleicht sollte ich in den Innenhof zurückgehen und warten, bis die beiden ihren emotionalen Kampf ausgefochten hatten? Leider blieb zur Umsetzung dieses Plans keine Zeit mehr, denn kaum hatte ich den Gedanken zu Ende gedacht, näherten sich schnelle Schritte auf den knarzenden Altbaustufen. Die junge Frau mit den dunklen Zöpfen nahm mich gar nicht war, sondern rannte tränenblind an mir vorbei. Ich wartete darauf, dass sich die Tür der Nachbarwohnung schloss, doch nichts passierte. Als sich nach einer, wie ich fand, angemessenen Anstandszeit immer noch nichts tat, nahm ich all meinen Mut zusammen und trat den Weg nach oben an. Wider Erwarten stand Alex nicht völlig aufgelöst im Türrahmen oder saß zusammengesunken herum. Seine Tür stand sperrangelweit offen, doch von ihm fehlte jede Spur. Kritisch zog ich die Augenbrauen zusammen. Hatte er seine Ex kommentarlos stehen lassen und war einfach in seine Wohnung gegangen, ohne die Tür zu schließen? Vielleicht still darauf gehofft, sie würde ihm folgen? Ich wusste nicht, woran ich es festmachte, aber irgendwie war es genau das Verhalten, was ich von ihm erwartete.
Und da war noch etwas, was ich nicht genau zu deuten vermochte: Der Umstand, dass es mir von jetzt auf gleich nicht mehr egal war, wie es ihm ging. Bisher war ich diesem Typen von gegenüber ganze zwei Mal begegnet, nicht gerade erfreuliche Treffen und trotzdem zog sich bei den Worten, die ich eben gehört hatte, in mir alles unangenehm zusammen. Bevor mein Verstand realisierte, was mein Herz gerade tat, klopfte ich zögerlich gegen das alte Holz des Türrahmens und wartete. Keine Reaktion. Okay. Das war ein Zeichen. Der perfekte Zeitpunkt, sich umzudrehen und meine Nase nicht weiter in seine Angelegenheiten zu stecken. Was gingen mich die Streitigkeiten von fremden Nachbarn an. All diese fantastischen, klugen Gedanken schossen durch meinen Kopf, als ich erneut klopfte. Diesmal bestimmter. »Was willst du noch? Du hast deinen Kram doch!«, kam es mit aggressivem Unterton von Drinnen. »Ich …«, meine Stimme bröckelte, als ich mir der Idiotie der Situation schlagartig bewusst wurde. Ja, was genau wollte ich hier eigentlich? »Ich … Ist alles okay bei dir?« Bevor ich mich versehen konnte, stand ein ziemlich mitgenommen aussehender Alex vor mir. Seine stechend blauen Augen funkelten mich eisig an. »Was geht’s dich denn an? Ich wohne nicht in Berlin, damit sich meine neugierigen Nachbarn in alles einmischen. Da hätte ich auch nach Brandenburg ziehen können.« Er schleuderte mir die Worte mit einer solchen Kälte in der Stimme entgegen, dass mir trotz der warmen Temperaturen eine Gänsehaut den Rücken hinunterlief. Gleichzeitig wusste ich, dass er recht hatte. Völlig recht. Peinlich berührt von mir selbst, stotterte ich nur ein: »Okay«, und drehte mich um. Seine direkte Art war frontal auf meinen blinden Aktionismus geprallt. Autsch. Ich brauchte einen Moment, um mit zittrigen Fingern den Schlüssel in mein Türschloss zu bekommen. Je länger es dauerte, desto heftiger rasten meine Gedanken. Stand ich noch in seinem Blickfeld? Wieso hörte ich seine Tür nicht? Warum konnte ich mich nicht ein einziges Mal wie ein normaler Mensch benehmen? Reiß dich zusammen, flüsterte meine innere Stimme erbost. Gestern hat das doch auch wunderbar geklappt. Doch meine Finger gehorchten nicht. Statt dem Klacken des Türschlosses, hörte ich nun ein resignierendes Seufzen hinter mir. Er hatte sich also tatsächlich nicht in Luft aufgelöst. »Sorry … Du kannst ja nichts dafür.« Unbeeindruckt von seinem Geständnis, versuchte ich weiter, meine Tür aufzuschließen. Auf keinen Fall würde ich mich umdrehen, viel zu peinlich war mir meine eben dargebotene Fürsorge. Und da war noch etwas: die altbekannte Schamesröte, die mein Gesicht heiß werden ließ. Verdammt nochmal. Konnte ich stattdessen nicht lieber jetzt und gleich im Erdboden versinken, statt wie eine Ampel meine Emotionen nach außen zu spiegeln? Ohne dass ich seine Bewegung wahrgenommen hatte, umschloss Alex plötzlich meine Hand mit seinen langen, kalten Fingern. Das Zittern stoppte und meine Tür sprang auf.
Mein Herz klopfte bis zum Hals und gleichzeitig fraß sich ein wütender Feuerball durch meinen Magen. Übergriffiger Scheißtyp. Ich hatte ihn nicht um Hilfe gebeten. Fairerweise musste man sagen: Er mich allerdings auch nicht. Erneut nahm ich am heutigen Tage all meinen Mut zusammen und drehte mich zu ihm um. Durch die Aktion mit dem Schlüssel stand er so nah hinter mir, dass ich fast gegen seine Brust prallte. Konnte es noch unangenehmer werden? »Das ist jetzt der Augenblick in Kitschromanen, in denen sie sich immer verlieben«, vernahm ich plötzlich meine eigene Stimme. Hatte ich das gerade wirklich laut gesagt? Ja. Hatte ich. Ich selbst wusste natürlich, dass diese speziellen Anmerkungen meinerseits stets als Scherz gemeint waren und dem Umstand geschuldet, dass ich meine Umwelt gerne mit literarischen Fakten nervte. Bei Fremden, wie Alex einer war, kam diese Marotte jedoch meistens eher semi-gut an. Richtig getippt. Als hätte ich ihm einen Schlag versetzt, wich er einen Schritt zurück und legte die Stirn in irritierte Falten. »… ich arbeite in einer Buchhandlung.« Ergänzte ich, als wäre das eine plausible Erklärung. Wow. Das war noch eloquenter als der Satz davor. Was war denn los mit mir. Mein neuer alter Nachbar stand immer noch leicht fassungslos zwei Schritte von mir entfernt, schob nervös die Ärmel seines schwarzen Longsleeves nach oben, als würde er sich für einen Kampf wappnen und schien mit der Situation ebenso überfordert wie ich. Eine Lösung musste her, sonst würden wir sicher noch übermorgen hier stehen und uns anglotzen. »Okay. Nochmal von vorne«, drückte ich die verbale Reset-Taste. Mein Tonfall war entschlossen. Ich konnte das hier nicht so stehen lassen und schlimmer konnte es kaum werden. Ich wollte nicht den Rest meines Lebens die seltsame Alte von gegenüber sein, an der man seine Freunde grußlos und tuschelnd vorbeischob.
Alex hob erwartungsvoll eine Augenbraue, aber der Rest seines Gesichts war immer noch angespannt, sein Kiefer mahlte und die Hände hatte er mittlerweile vor der Brust verschränkt, als hätte er Angst davor, ich würde danach greifen und ihm im Anschluss in einem Stück auffressen oder noch schlimmer: direkt einen Ring an den Finger stecken. Ich verdrängte den spontanen Impuls, ihn zur Klärung in meine Wohnung zu bitten, denn in Anbetracht meiner Konversations-Entgleisung wenige Sekunden zuvor, schien mir der Hausflur deutlich unverfänglicher. »Eigentlich nennen mich alle Lizzy. Das nur zur Info. Ich bin wirklich kein völliger Creep, ich kann nur manchmal meine Klappe nicht halten. Ich bin ein Nerd, wenn es um Bücher geht und würde Nudeln immer Kartoffeln vorziehen.« Meine Mundwinkel verzogen sich zu etwas, was ein entschuldigendes Lächeln darstellen sollte, während ich darauf wartete, dass er mich endlich kommentarlos stehen ließ. Doch das tat er nicht. »Also … ähm … Ich mag keine Tomaten. Viel zu glibberig«, kam es zögerlich über seine Lippen. Das alles hier war so skurril, dass mir nichts anderes übrigblieb als laut aufzulachen. Das Eis zwischen uns war gebrochen. Alex fuhr sich verlegen mit der Hand durch die blonden Haare und strich sich dabei eine eigensinnige Strähne hinters Ohr. »Was denn? Wer hat denn angefangen?« Nun konnte er sich auch nicht mehr zurückhalten und ein verschmitztes Grinsen legte sich auf seine Lippen. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Oh Mann, ich hätte wirklich nicht gedacht, dass ich heute nochmal lache.« Nicht ohne ein bisschen beeindruckt von mir selbst zu sein, wandte ich mich zum Gehen: »Gern geschehen, Herr Nachbar.«