Kitabı oku: «Innen wachsen – außen wirken», sayfa 5

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Übung – Ich und meine Werte

Was genau sind deine persönlichen Werte? Um sich dessen besser bewusst zu werden, markiere in der folgenden Liste doch bitte 10 Werte, die dir relevant erscheinen. Im Anschluss vergleiche sie nochmals und entscheide dich für eine Endauswahl deiner 5 wichtigsten Kernwerte.


Achtsamkeit Resilienz Autonomie
Dankbarkeit Selbstreflexion Mitgefühl
Großzügigkeit Selbstwirksamkeit Gerechtigkeit
Mäßigung Leistung Gemeinschaft
Nächstenliebe Gesundheit Offenheit
Optimismus Weisheit Rationalismus
Verantwortung Zivilcourage Nachhaltigkeit
Vertrauen Sicherheit Kooperation
Wissbegierde Konformität Tapferkeit
Genuss Natur Selbstbestimmung
Tradition Macht Toleranz
Konkurrenz Humor Erfolg
Kreativität Familie Respekt
Freiheit Spiritualität

Nun stell dir bitte die Frage, wie du deine wichtigsten Werte in den zwei unten genannten Lebensbereichen beachtest/umsetzt. Bewerte die einzelnen Kategorien mit Noten: 5 = beachte ich immer; 1 = beachte ich nie.


WERT PRIVAT BERUFLICH
a.
b.
c.
d.
e.

Abschließend noch einige Fragen bzw. Gedankenanstöße:

1 Gibt es dir wichtige Werte, die du eher im Berufsleben lebst, und andere, die dir privat oder in der Beziehung wichtiger sind? Wenn ja, was könnte dies für Auswirkungen haben?

2 Bist du auf Werte aufmerksam geworden, die miteinander in Konflikt stehen?

3 Hast du in der oberen Liste einen Wert entdeckt, den du gern noch mehr kultivieren würdest?

4 Könnten manche deiner Werte eine nachhaltige Entwicklung behindern? Wie oder in welchen Situationen?

c Das Wort ist ein Zungenbrecher :-), es beschreibt eine Art Gewinn- und Verlustrechnung in Bezug auf die eigenen Bedürfnisse.

d Menschen mit biosphärischen Werten sind der Ansicht, dass die Natur geschützt gehört.

3.2 Der Mensch, ein Herdentier

Werte haben nicht nur Einfluss auf das Verhalten des Einzelnen, sondern bilden auch eine sinnstiftende Legitimationsgrundlage für die sozialen Normen und damit für ein geregeltes gesellschaftliches Zusammenleben an sich. Soziale Normen sind wie Standards, Leitlinien oder Grundsätze, nach denen eine Gesellschaft oder eine Gruppe von Menschen ihr Zusammenleben ausrichtet. Sie definieren, was die Gesellschaft von uns erwartet. Sie sind die ungeschriebenen Regeln, an die wir uns halten, weil wir dazugehören wollen. Soziale Normen sagen aus, wie erwünscht ein bestimmtes Verhalten ist und welche Meinung eine relevante soziale Gruppe über dieses Verhalten hat.

Dieser Normierungsprozess beginnt schon im Kindesalter, wo uns relevante Werte und Normen über »Sozialisierungsinstanzen« wie etwa die Eltern, die Schule oder die Medien vermittelt werden. So erlernen wir bereits in jungen Jahren, dass man Bitte sagen soll, wenn man etwas möchte. Erhält man, was man will, so soll man dies mit einem Danke abgelten – so gehört sich das nun mal. Bitte und Danke zählen zu den ersten sozialen Normen, die wir hierzulande aufschnappen.

Im Lauf unserer Entwicklung übernehmen und verinnerlichen wir die gesellschaftlichen Standards immer weiter und machen sie zu einem Bestandteil der eigenen Persönlichkeit. Je älter wir werden, desto höher wird die Anzahl an Normen, und als heranwachsende Menschen passen sich die meisten von uns immer mehr der Gesellschaft und ihren Regeln an. Im Erwachsenenalter wird dann schließlich von uns erwartet, dass wir die geltenden Normen kennen und auch beachten, sodass wir in der Öffentlichkeit nicht »unangenehm« auffallen. Mit Ausnahme kleiner Abweichungen sollen wir also den geltenden Standards entsprechen und mit dem Zeitgeist und seinen Normen mitschwimmen. Wie sagte es Albert Einstein einst so schön: »Um ein tadelloses Mitglied einer Schafherde zu sein, muss man vor allem ein Schaf sein.«

Soziale Normen sind allgegenwärtig und wirken tief in uns. Wenn sie darüber hinaus durch soziale Kontrolle und Sanktionen wie Bestrafung oder Belohnung abgesichert sind, werden diese Normen und die dahinterliegenden, gesellschaftlichen Werthaltungen schnell zu einem Orientierungsrahmen für das eigene Verhalten. Denn wir wollen nicht aus der Reihe tanzen und schon gar nicht verurteilt oder ausgegrenzt werden! Stattdessen wollen wir anerkannt und geliebt werden und einfach nur dazugehören – weshalb wir uns mit der Zeit immer stärker an all die Normen der uns umgebenden Gesellschaft anpassen. Selbst wenn uns das nicht gefallen mag, macht uns genau das zu jenen Herdentieren, die wir eigentlich niemals sein wollten.

Wenn wir noch einen Schritt weitergehen, findet die sogenannte Internalisierung von Normen statt. Davon spricht man, wenn sich jemand entsprechend einer Norm verhält, ohne dabei überhaupt noch an die Sanktionen oder Folgen der jeweiligen Norm zu denken. Wir spielen einfach das Verhalten ab, das wir seit jeher gelernt und von unseren Mitmenschen kopiert haben, ohne dies jemals infrage zu stellen. Wie ein automatisches Programm oder ein Autopilot, der uns durch das Leben lenkt. Damit erleichtern wir uns zwar den Alltag und ecken vermutlich bei anderen weniger an, gleichzeitig verlieren wir aber auch die Fähigkeit, einmal kritisch auf bestimmte Entwicklungen zu blicken. Dieses bequeme Verhalten beschneidet unsere Möglichkeit, den eigenen Lebensstil zu hinterfragen oder mutig einen neuen Weg einzuschlagen. Einen Weg, der vielleicht viel authentischer wäre und sich auch in unserem tiefen Inneren stimmig anfühlen würde.

Soziale Normen und wie sie auf uns wirken

Du kannst dir sicher bereits vorstellen, dass die sozialen Normen auch für die Nachhaltigkeit von beachtlicher Bedeutung sind. Beginnen wir unseren Diskurs dazu am besten in einer Umgebung, die wie kaum eine andere bekannt ist für ihre sozialen Regeln und Normen: in der Nachbarschaft.

In einer Studie zum Thema Umwelt und Energie zeigte sich, dass der Vergleich mit der umliegenden Nachbarschaft einer der größten Motivationsfaktoren war, den Energieverbrauch im eigenen Haushalt zu reduzieren.52 Wenn die Menschen Informationen darüber bekamen, wie gut oder wie schlecht sie im Vergleich zu den anderen Haushalten in Sachen Energieverbrauch abschnitten, spornte sie das stark an, noch mehr Energie zu sparen. Erhielten die Leute hingegen nur Informationen darüber, wie viel Energie in kWh oder wie viel Geld sie selbst eingespart hatten, so fiel die Einsparung deutlich geringer aus.

Ähnliche Ergebnisse lieferte ein anderes Experiment zum Thema Herdenverhalten und Nachhaltigkeit. Dabei wurde untersucht, mit welchen Botschaften Hotelgäste wohl eher umweltfreundlich agieren würden.53 Es zeigte sich, dass zum Beispiel ein Schild mit der Aufschrift »Die Mehrheit der Gäste verwendet ihre Handtücher wieder« effektiver war als der klassische Appell, man möge seine Handtücher bitte öfters verwenden. Am besten jedoch schnitten jene Botschaften ab, die das Gruppenverhalten der unmittelbaren und situativen Umstände miteinbezogen, wie etwa: »Die Mehrheit der Gäste in diesem Raum hat ihre Handtücher wiederverwendet.«

Nicht nur im privaten Bereich eines Hotelzimmers, auch im öffentlichen Raum lässt sich dieses Verhalten nachweisen. So zeigte sich, dass auf öffentlichen Plätzen,54 wo schon viel Müll herumlag, die Menschen eher noch mehr Müll dazu schmissen als auf sauberen Plätzen. Die Stimme im Kopf sagt uns in solchen Fällen offenbar, dass es entsprechend der sozialen Norm wohl in Ordnung sei, seinen Dreck hier wegzuwerfen, da es die anderen ja ebenfalls tun. Umgekehrt bedeutet ein sauber gehaltener Platz, dass nichts weggeworfen werden darf, da die Leute hier ordentlich sind. Viktor Frankl scheint also recht zu behalten mit seiner These, dass Werte und Normen am besten vorgelebt werden sollten.

Der Mensch und sein Verhalten als Herdentier sind mittlerweile sehr gut erforscht. Und wenn man sich aus dieser Forschung eine Sache merken möchte, dann die, dass wir die Konformität offenbar lieben, ob wir wollen oder nicht. Es sind neben unseren Eltern und prägenden Lebensereignissen vor allem die sozialen Normen, die einen zentralen Einflussfaktor auf unser Verhalten darstellen. Dies kann sowohl positiv als auch negativ genutzt werden.

Den positiven Aspekt finden wir dann, wenn die jeweilige Norm sozial oder umweltfreundlich orientiert ist und man sich deshalb daran anpassen möchte. Ein Versuch: Häng doch an deinem Arbeitsplatz einfach mal einen Zettel auf den Kopierer mit der Aufschrift: »Zwei von drei Kollegen arbeiten papierlos.« Es sei dir versichert, dass du mit der Macht sozialer Normen eine Änderung im Papierverbrauch beobachten wirst.

Einen weiteren positiven Aspekt der Konformität kann man erleben, wenn man sich gewissen Gruppen zugehörig fühlt und dadurch eine kollektive Überzeugung der eigenen Wirksamkeit generiert. Man identifiziert sich sozusagen mit den normativen Vorstellungen einer Gruppe, und diese Normen werden dann in bestimmte Verhaltensweisen übersetzt. Denken wir nur an die Umweltschutzbewegung »Extinction Rebellion«, »Fridays For Future« oder an »Black Lives Matter«. Ihnen allen liegt eine gewisse soziale Norm zugrunde, die die Gruppenmitglieder kennen und an die sie sich im Sinne einer positiven Zukunft auch zu halten versuchen.

Auf der anderen Seite können tief sitzende und vom Mainstream bisweilen hochgehaltene Normen und Standards aber auch einen negativen Einfluss auf unser Verhalten ausüben. So hat man etwa festgestellt, dass junge Mädchen auf den Fidschi-Inseln drei Jahre nach Einführung des Fernsehens begonnen haben, sich stärker mit ihrem körperlichen Erscheinungsbild zu beschäftigen und sich mehr mit anderen zu vergleichen.55 Darüber hinaus hat sich gezeigt, dass auch die Essstörungen dieser Gruppe dramatisch zunahmen.

Ebenso interessant ist der Einfluss sozialer Normen in Bereichen des Studiums. Wie in Ausbildungen generell der Fall, hat auch jede Studienrichtung ihre eigenen Normen und Regeln. So wird es Untersuchungen zufolge Jura-Studierenden in den USA während des Studiums förmlich abtrainiert, sich um andere zu sorgen oder für das Gemeinwohl einzustehen.56 Im Gegenzug dazu werden extrinsische Werte aktiviert und das eigene Aussehen nimmt an Bedeutung zu. Weiters deuten die Studienautoren darauf hin, dass die vielen berufsbezogenen Probleme – von Depressionen über exzessiven Konsum bis hin zum Mangel an ethisch-moralischem Verhalten – womöglich mit dem Ablauf des Rechtsstudiums selbst zu begründen sind.

Was bedeuten diese Beispiele nun für die Macht sozialer Normen in Bezug auf unsere Gesellschaft? Betrachten wir doch nur ein paar der gängigen Beschreibungen unserer westlichen Welt, wie Leistungsgesellschaft, Konsumgesellschaft, Überfluss-, Wegwerf- oder Wohlstandsgesellschaft. Welche sozialen Normen kommen darin zum Ausdruck? Welche Werte sind uns als Bevölkerung dadurch wohl wichtig? Was macht solch eine gesellschaftliche Ausrichtung mit uns als Individuen? Und was denkst du, ist das Ergebnis von all dem, was wir bisher zum Thema Werte und Normen gehört haben?

In einer konsumorientierten Welt wie der unsrigen scheint es die Norm zu sein, die Quelle des Glücks und den Sinn des Lebens in äußeren und materiellen Dingen zu suchen. Das würde so natürlich kaum jemand zugeben. Wenn wir in unseren Firmenseminaren die Leute fragen, was ihnen im Leben wirklich wichtig sei, so kommen »Familie«, »Freunde« und »Gesundheit« als häufigste Antworten. Doch sehen wir uns diese Antworten etwas genauer an. Bedenken wir einfach mal, dass trotz rückläufiger Zahlen ein Viertel aller unselbstständig Beschäftigten mit Vollzeitjob im Schnitt auf mehr als acht Überstunden pro Woche kommt.57 Oder dass freie Dienstnehmer im Mittel mehr als 45 Stunden pro Woche arbeiten und sich gleichzeitig die Mehrheit der in Teilzeit Beschäftigten eine Aufstockung ihrer Stunden wünscht.e

Wenn wir dann noch hinzunehmen, dass wir jede Woche durchschnittlich acht bis zehn Stunden in Verkehrsmitteln verbringen, so stellt sich die Frage, wann denn bitte Zeit ist für die scheinbar so wichtigen Werte wie Familie oder Freunde.58 Weiterhin sei zum wiederholten Male gesagt, dass sich eine dauerhafte Überforderung in der Arbeit auch nicht mit dem Wert Gesundheit vereinbaren lässt. Belügen wir uns also selbst, wenn wir Familie, Freunde und Gesundheit als hohe Werte nennen? Nicht unbedingt. Doch unsere sozialen Normen wollen uns glauben machen, dass man seiner Familie etwas bieten muss, um geliebt zu werden, dass unsere Freunde unseren Status schätzen und dass unser Körper auch mit 50 noch so aussehen sollte, als hätten wir im Jungbrunnen gebadet. So rackern sich viele von uns Tag für Tag ab, für materielle Güter, Aussehen und Dienstleistungen. Und übersehen dabei, dass anstelle von »Familie, Freunde und Gesundheit« die Werte »Leistung und Status« das Steuer übernommen haben. Sie definieren ihr »gutes Leben« dann gern über ihren Besitz anstatt etwa darüber, wie sie sich fühlen oder wie sehr sie sich selbst verwirklichen können. Je mehr man hat, desto wertvoller ist man. Je mehr man leistet, desto mehr Anerkennung verdient man. Das sind nur ein paar unserer kollektiven Glaubenssätze. Erfolg wird noch immer im Außen gemessen, und so sind es vor allem die materiellen Güter, die den Grad des Erfolgs anzeigen sollen. Jede geschickte Werbekampagne greift auf diese sozialen Normen zurück und versucht uns einzureden: Sei jung! Sei schön! Sei erfolgreich!

Wir Autoren sind immer wieder schockiert darüber, dass diese Strategie noch immer funktioniert, und es macht uns traurig, dass vor allem junge Menschen diesem Wahn oft anheimfallen: wie viele Menschen sich etwa bereits in jungen Jahren einer Schönheitsoperation unterziehen; wie viele sich hohe Kredite aufnehmen, nur um sich ein teures Auto leisten zu können; und wie viele es als ihr höchstes Ziel ansehen, um jeden Preis reich zu werden, ohne je einen Gedanken darüber zu verlieren, was wahres Glück für sie bedeuten könnte.

Diese Entwicklung ist sowohl auf individueller als auch auf gesellschaftlicher Ebene sehr bedenklich. Wann werden wir endlich aufhören, diesen sogenannten »Idealbildern« hinterherzulaufen? Wann beginnen wir, zukunftsfähige Werte und Normen für uns zu etablieren und damit auch geistig in einem neuen Jahrhundert anzukommen?

Wenn wir die Zukunft auf positive Weise gestalten wollen, so müssen wir uns über die Wirkung von sozialen Normen Gedanken machen. Es ist wichtig, individuelle wie kollektive Werthaltungen zu thematisieren, ihren Einfluss auf eine nachhaltige Entwicklung zu verstehen und letztlich Wege und Methoden zu finden, diese im Sinne der Zukunftsfähigkeit, Verantwortung und Lebensfreundlichkeit auf breiter Basis zu verändern. Nur wenn uns bewusst ist, wie uns Werte und Normen am Weg in eine zukunftsfähige Gesellschaft hindern bzw. fördern, können wir in Sachen Nachhaltigkeit auch wirklich etwas verändern.

e Daten aus dem Jahr 2014.

3.3 Wie Werte die Nachhaltigkeit bremsen

Welche individuellen und kollektiven Werthaltungen hindern uns bisweilen daran, in eine wirklich lebenswerte Zukunft zu gelangen? Welche Grundüberzeugungen und Annahmen über das Leben stehen uns im Weg?

Wir haben schon angedeutet, dass manche unserer Werte eher zu einem nachhaltigen Verhalten führen als andere. Aber Vorsicht! Wir möchten nicht den Eindruck erwecken, dass einige Werte deshalb besser sind als andere oder dass gewisse Werte per se schlecht seien. Nein! Auch extrinsische und materielle Werte können uns im richtigen Verständnis einen guten Dienst erweisen. Es wird nie eine Gesellschaft geben, die frei von extrinsischen und materiellen Werten ist. Solange der Mensch Nahrung, Wasser und Luft zum Überleben benötigt, so lange werden auch äußere Werte eine Rolle spielen. Und so hat aus unserer Sicht natürlich jeder Mensch, der sich beispielsweise an Werten wie Leistung, Konkurrenz oder Macht orientiert, dieselbe Lebensberechtigung wie jedes andere Wesen auch, und das steht völlig außer Frage. Wir wollen also niemanden diskreditieren.

Was wir aber tun wollen, ist, manche unserer althergebrachten Werte auf ihre negativen Auswirkungen hin zu erörtern, um im Anschluss die Frage zu stellen, wie sich diese im Sinne der Zukunftsfähigkeit transformieren lassen.

Wie man den Status quo erfolgreich konserviert

Wenn man als Österreicher die Tradition infrage stellen will, hat man »nicht alle Tassen im Schrank«. In der schönen Alpenrepublik wird Tradition großgeschrieben, und wer sich dagegenstellt, begeht gesellschaftlichen Selbstmord. 2011 noch wünschten sich laut Gallup-Umfrage 17 Prozent der Bevölkerung einen Kaiser zurück.59 Auch wenn die Mehrheit des Landes mit derartigen Traditionen abgeschlossen hat, so hält sie an anderer Stelle umso vehementer daran fest.

Tradition hat viele gute Seiten, und um den Wert mancher Dinge zu erkennen, ist oftmals Zeit – und somit eine gewisse Konservierung – notwendig. Gleichzeitig gibt es Traditionen, die die Wende zu einer naturverbundenen Gesellschaft stark behindern. Bevor wir diese für den D-A-CH-Raum (Deutschland, Österreich, Schweiz) aufzeigen wollen, beginnen wir mit ein paar Traditionen aus dem Ausland. Denn dann fällt es bekanntlich leichter, auch in den eigenen Sumpf zu blicken.

Die Traditionelle Chinesische Medizin, kurz TCM, ist mittlerweile in vielen Teilen der Welt bekannt. Auch wenn sie von schulmedizinischer Seite gern belächelt wird, haben sich Methoden wie Akupunktur, Shiatsu, Qigong oder die chinesische Ernährungslehre im Westen stark verbreitet. Viele Bereiche dieser Tradition können als sehr hilfreich und wertvoll erachtet werden. Dennoch gibt es wie bei jeder jahrtausendealten Tradition Dinge, die veraltet sind. Ein Beispiel: Seit Jahrhunderten werden in der TCM Nashornhörner und Tigerknochen als Heilmittel verwendet. Und obwohl führende TCM-Mediziner längst davon abraten, hat sich diese Tradition in der Bevölkerung fortgesetzt. Auch das Handelsverbot von 1993 konnte nur bedingt Abhilfe schaffen, da die Produkte danach auf dem Schwarzmarkt vertrieben wurden.60

Seit 2018 sind der Handel und die Verwendung beider Produkte wieder bedingt erlaubt, was die Situation verschlimmert hat. Sofern man in China diese Tradition nicht ändert, wird sie wohl nur durch das Aussterben der jeweiligen Art beendet werden. Bei einer Bevölkerung von 1,4 Milliarden Menschen gegenüber weltweit rund 4000 Tigern und 30.000 Nashörnern ist dies nur eine Frage der Zeit – oder eben der Werte.

Nicht nur in der Medizin, auch für künstlerische Zwecke sind tierische Materialien in China sehr beliebt. 2006 wurde etwa die Elfenbeinschnitzerei zum nationalen Kulturgut erklärt mit der Begründung, dass es eine jahrtausendealte Tradition sei. Zigtausende Elefanten mussten schon ihr Leben lassen für Schmuck und kunstvolle Statuen. Erst als der Staatschef selbst zum Gegner von Elfenbein wurde, kam es 2018 zum Handelsverbot.61 Unterstützt von großen Marketingkampagnen mit Beteiligung nationaler Prominenz könnte der Anstoß zu einem Wertewandel hier wirklich funktioniert haben. Laut Umweltverbänden sinkt die Zahl der Elfenbeinverkäufe, allerdings von einem hohen Niveau ausgehend.

Tierhörner als Kunst und deren Knochen als medizinische Heilmittel? Das klingt doch nach frühem Mittelalter! So oder ähnlich sehen das sicher viele hier bei uns in Mitteleuropa. Und dass bei dieser Geschichte die Chinesen eine tragende Rolle spielen, passt auch perfekt ins Bild. Vor kaum einer anderen Kultur hat der Westen im vergangenen Jahrzehnt mehr Ängste geschürt als vor dem Land der Mitte. Anstatt diese Ängste aber zu befeuern, möchten wir vielmehr einige Parallelen zwischen fernöstlichen und heimischen Traditionen ziehen.

Nehmen wir als erstes Beispiel den Steinbock zur Hand. Kein anderes Tier verkörpert den Alpenraum so stark wie dieser prächtige Bock, den man hierzulande quasi als zweites Wappentier ansehen könnte. Erste Höhlenmalereien existieren aus der Jungsteinzeit, und heute nennen unsere Kinder den Steinbock meist als ersten Vertreter bei der Frage nach heimischen Wildtierarten.f Seine Symbolträchtigkeit kam dem Steinbock selbst aber weniger zugute. Wegen seiner angeblich magischen Kräfte wurde er vor hundert Jahren fast ausgerottet. Die Jagd nach ihm und seine »Verwendung« waren damals Tradition. Die Hörner galten als Statussymbol, das Blut sollte gegen Harnkrankheiten helfen, und seinen Gedärmen, wie dem Magen, wurden Heilkräfte gegen Durchfall, Grippe bis hin zu Depressionen nachgesagt. Da halfen auch die bereits Anfang des 17. Jahrhunderts ausgesprochenen Bejagungsverbote nichts.

Weder die Schweiz noch Frankreich, Deutschland oder Österreich zählten um 1900 auch nur einen einzigen Alpensteinbock.62 Lediglich im italienischen Gran Paradiso, dem privaten Jagdrevier von König Vittorio Emanuele III., konnten unter strenger Bewachung von bewaffneten Schutzmännern etwa hundert Steinböcke erhalten werden. Da der König dem Schweizer Bundesrat allerdings keine Tiere für die Wiederansiedelung abgeben wollte, mussten andere Maßnahmen ergriffen werden. Entgegen dem Wert der Ordnung engagierten die Schweizer verschiedene Wilderer, die 1906 im Jagdrevier einbrachen, die ersten drei Kitze stahlen und in die Schweiz lieferten. Viele weitere folgten, und eben dieser Mut, entgegen den gesetzlichen Regelungen und Werten zu handeln, hat dem Steinbock das Fortbestehen gesichert. Später erklärte sich dann auch der König bereit, Tiere für die Wiederansiedelung bereitzustellen. Und so können wir im Alpenraum heute wieder auf eine Population von etwa 40.000 Tieren blicken.

Die Jagd zählt aus der Sicht des Menschen zu einer der ältesten Traditionen überhaupt. Neben dem Nahrungsmittel Fleisch lieferte sie uns über Knochen und Felle auch die Materialien für Kleidung, Werkzeuge oder Kunstobjekte. Und wer weiß, ob unsere Spezies überhaupt überlebt hätte, wären wir nur Sammler geblieben.

Gleichwohl ist die Jagd im 21. Jahrhundert längst keine Tradition mehr in dem Sinn, dass sie unser Überleben sichern muss. Es ist wohl eher so, dass sie mittlerweile dem Leben auch gefährlich werden kann. Während wir vor hundert Jahren den Steinbock fast ausgerottet haben, ging es im letzten Jahrzehnt dem Seeadler an den Kragen. Auch er, das offizielle Wappentier Österreichs, wäre schon ausgestorben, hätten diverse Umweltverbände nicht massive Schutzmaßnahmen ergriffen.

Jede Tradition, so auch die Jagd, muss ihre eigenen Praktiken reflektieren, wenn sie ihre Werte auch im Sinn eines größeren Ganzen hochhalten möchte. Wer Jagd betreibt, um die Wildbestände auf einem für den Wald gesunden Maß zu halten, kann sich sowohl Jäger als auch Heger bzw. naturverbunden nennen. Wer allerdings Hirsche schießt, um sich deren Geweihe als Statussymbol an die Wand zu hängen, ist geistig eher noch im Mittelalter verankert. Wäre dieser Jemand in China geboren, würde er wohl auf einem Elfenbeinstuhl sitzen und sein Gewissen mit zerriebenen Tigerknochen zu heilen versuchen.

Die Technik wird’s schon richten?

Ein Wert, der bei uns im Westen sehr stark mit dem Wohlstand einherzugehen scheint, ist der technische Fortschritt. Technik begeistert, und es gibt heutzutage wohl kaum einen Bereich mehr, wo uns die Technik nicht auch das Leben ein großes Stück erleichtert hat. Nichtsdestotrotz ist der technische Fortschritt sehr oft mit der Ausbeutung von Ressourcen verbunden. Dass er auch unser soziales Miteinander stark verändert, ist beim Blick auf die digitalisierte Welt nicht neu, aber nicht Thema dieses Buchs. Deshalb wollen wir ihn hier einmal über ein Beispiel unter die Lupe nehmen, das für manche womöglich neu ist. Die folgende Geschichte zeigt uns bestens, warum wir auch im technisch-wissenschaftlichen Bereich unser gesamtes Welt- und Wertebild ändern müssen, um als Gesellschaft zukunftsfähig zu werden.

Als die beiden Wissenschaftler Alfred Sallmann und Rudolph Pfister in den 1960er-Jahren in der Schweiz die chemische Verbindung Diclofenac synthetisierten, war dies ein großer Erfolg.63 Vermutlich taten sie ihre Arbeit aus Leidenschaft und in dem guten Glauben, der Welt einen Gefallen zu tun. Viele Menschen würden dem wohl beipflichten, denn Diclofenac hilft bei Fieber, Entzündungen oder auch Rheuma.

Aufgrund der positiven Ergebnisse begann man später, diese Arznei auch in der Tiermedizin einzusetzen. Vor allem in Indien fand das kostengünstige Medikament ab den 1990er-Jahren regen Absatz in der Anwendung bei Kühen. Und bei über 300 Millionen Kühen ist das natürlich jede Menge Diclofenac. Da Rinder in Indien aus Glaubensgründen nicht geschlachtet werden, verenden sie meist irgendwo auf Feldern oder in freier Natur. Tausende Jahre lang stellte dies kein Problem dar, denn die Kadaver wurden von einem Millionenheer an Geiern entsorgt. Durch die Einführung der Arznei waren die Kadaver der Kühe aber plötzlich mit Diclofenac belastet, was bei den Geiern zu einem tödlichen Nierenversagen führte. Innerhalb von Jahrzehnten starben je nach Art zwischen 97 und 99 Prozent der indischen Geier aus.64 Da half es auch nicht mehr, dass beginnend mit 2006 in Pakistan, Nepal, Bangladesch und Indien Verbote für die Arznei ausgesprochen wurden. Für die mehr als vierzig Millionen Geier, die bis dahin verendet waren, kam diese Maßnahme zu spät.

Das Problem zog noch weitere Kreise. Seitdem die Geier verschwunden sind, fressen Ratten und Hunde die Rinderkadaver. Da jene Tiere mit dem Stoff weniger Probleme haben, führte dies zu einem erheblichen Anstieg in deren Population. Dadurch wiederum stieg die Anzahl an Hundebissen und gleichzeitig die Zahl der Todesfälle durch Tollwut. Schätzungen nationaler Naturverbände zufolge kostete das Geiersterben 34 Milliarden Dollar und 47.000 Menschenleben. Da stellt sich die berechtigte Frage, ob Diclofenac noch immer als »kostengünstig« bezeichnet werden kann.

Auch wenn diese Geschichte für sich sprechen sollte, würden wohl manche noch immer ganz technokratisch argumentieren, dass die Inder ihre Rinderkadaver einfach »zeitgemäß« entsorgen müssen. Dem kann man auch ganz technokratisch kontern: Ein einzelner Geier erbringt durch seine Fressgewohnheiten eine sogenannte Entsorgungsleistung von 9200 Euro jährlich. Die Aufzucht und Bewahrung der Geierbestände ist somit deutlich günstiger als der Bau von Krematorien. In einem Land mit einem jährlichen BIP pro Kopf von ca. 2000 Euro ist dies ein entscheidender Faktor. Man könnte jetzt natürlich noch meinen, die Inder sollten Teile ihres Glaubens reflektieren. Angesichts der vielen Probleme durch verrottende Rinderkadaver ist dies womöglich kein schlechter Tipp. Gleichzeitig ist aber auch unsere westliche Wissenschaft dazu angehalten, die eigenen Werte und Überzeugungen infrage zu stellen, denn die Inder hätten kein Diclofenac, wenn wir es nicht auf dem ganzen Globus verbreitet hätten. Zudem ist Diclofenac seit 2014 auch in der EU als allgemeine Tiermedizin zugelassen – und könnte somit auch bald die wenig verbliebenen Geierbestände in Europa gefährden. Alles in allem sind also auch wir keine Weltmeister im Reflektieren unserer Werte!

Zweifelsohne bietet uns der technische Fortschritt zahlreiche Möglichkeiten auf dem Weg in die Zukunft und kann für uns alle ein Segen sein. Viele Innovationen haben uns als Menschheit vorangebracht und werden dies auch weiterhin tun. Doch wie jeder andere Wert muss auch dieser die Natur und sein Umfeld in jeder Hinsicht mit bedenken. Gerade das Beispiel aus dem pharmazeutischen Bereich sollte uns zeigen, dass es im Bereich der Naturwissenschaft eine gänzlich neue Herangehensweise an Forschung und Entwicklung benötigt. Wissenschaftlich ist dieser interdisziplinäre und als systemisch bezeichnete Ansatz längst beschrieben. Gelehrt und umgesetzt wird er trotzdem noch immer viel zu wenig. Dafür braucht es eben, nicht zuletzt, eine Änderung in unseren Wertvorstellungen.

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