Kitabı oku: «Klangvolle Stille»
Julian Schwarze
Klangvolle Stille
Ein Fantasy-Roman
© edition keiper, Graz 2020
literatur nr. 30
1. Auflage Oktober 2020
Lektorat: Sigrid Weiß-Lutz
Layout und Satz: textzentrum graz
Cover und Autorenfoto: Robert Fimbinger
eISBN 978-3-902901-35-4
Für Katharina.
Mit Dank an meine Eltern und an meine Lehrer Gerhard Wilhelmer, Harald Marth und Bernadette Keiper.
Inhalt
PROLOG
1. KAPITEL
2. KAPITEL
3. KAPITEL
4. KAPITEL
5. KAPITEL
6. KAPITEL
7. KAPITEL
8. KAPITEL
9. KAPITEL
10. KAPITEL
11. KAPITEL
12. KAPITEL
13. KAPITEL
14. KAPITEL
15. KAPITEL
16. KAPITEL
17. KAPITEL
18. KAPITEL
19. KAPITEL
20. KAPITEL
21. KAPITEL
22. KAPITEL
23. KAPITEL
24. KAPITEL
25. KAPITEL
EPILOG
PROLOG
Es heißt, die Geschöpfe der großen Völker seien von den Gottheiten zu unterschiedlichen Zeiten erschaffen worden. Anfangs waren die vielen Inseln nur von Tieren bewohnt, von denen sich eine Art besonders rasch ausbreitete und bald über alle anderen herrschte – die Einhörner. Sie schlossen sich zu großen Herden zusammen und verdrängten die anderen Lebewesen aus ihren Revieren. In der Folge verschwanden auch viele Pflanzenarten und weite Steppen verwandelten sich über die Jahre hinweg in Wüstenlandschaften.
Bald würde alles nur mehr eine trockene, leblose Einöde sein.
Schließlich – es war das erste Mal in der Geschichte – beriefen die Gottheiten eine Versammlung ein. Es heißt, sie hätten über ein Jahrhundert lang beraten oder – was viel wahrscheinlicher ist – darüber gestritten, wie sie die drohende Gefahr am besten abwenden könnten.
Einige von ihnen waren der Meinung, sich aus dem Lauf der Welt heraushalten zu müssen, andere wiederum erinnerten daran, dass es ihre Pflicht als Gottheiten war, etwas zu tun.
Oros der Mächtige konnte die Mehrheit der Gottheiten dazu bewegen einzugreifen, bevor alles Leben ausgelöscht sein würde.
Die einflussreichsten unter ihnen, darunter auch Arasis der Kühne, taten sich zusammen und schufen die Magie. Es war eine Macht, die dazu dienen sollte, die Wälder zu bewahren, den noch verbliebenen Tieren eine sichere Umgebung zu gewährleisten und die Wüstenflächen wieder fruchtbar zu machen. Obwohl die Lebewesen sie kaum wahrnehmen konnten, war sie fortan allgegenwärtig wie die Luft, die Erde, das Wasser und das Feuer.
Kein Tier sollte dazu befähigt sein, Magie anzuwenden oder sie zu brechen – wie man auch dazu sagt –, denn dadurch würde es zu mächtig werden und eine neue Gefahr darstellen.
Tatsächlich erblühte das Land durch die Kraft der Magie von Neuem. Es brauchte nun keine Tiere mehr, um die Pflanzen zu bestäuben oder ihre Samen zu verteilen. Der Kreislauf der Natur wurde von der Magie im Gleichgewicht gehalten.
Langsam bildeten sich die Wüstenflächen zurück und es breiteten sich wieder Wiesen und Wälder aus, die reichlich Nahrung für die Tiere boten.
Doch bald wurde auch die Macht der Einhörner wieder größer. Sie waren ganz versessen darauf, die anderen Arten auszurotten, und so war die Vielfalt der Natur erneut bedroht.
Arasis der Kühne berief wiederum eine Versammlung der Gottheiten ein. Doch diesmal wollte er nicht verhandeln und beraten. Er bat Oros, ihn ein neues Geschöpf erschaffen zu lassen, das mächtig genug sein würde, den Einhörnern zu trotzen.
Und so kamen die Arasien in die Welt. Sie waren groß gewachsen, hatten breite Schultern und kräftige scharfe Zähne, und ihre Aufgabe war es, über die Wälder zu wachen.
Da sie aufrecht auf ihren Hinterbeinen standen, hatten sie ungewöhnlich kräftige Schenkel und waren sie ausgezeichnete Läufer, was ihnen zugute kam, wenn sie den Einhörnern entkommen oder sie gar jagen wollten. Anfangs verwendeten sie Prügel und Steine als Waffen.
Sie verfügten auch über einen ausgesprochen feinen Geruchssinn und waren klug und lernfähig. So entwickelten sie auch die Fähigkeit, sich mit Lauten und Rufen zu verständigen, wie es die Tiere nicht vermochten.
Sie lebten in Wäldern oder Höhlen, wobei die Frauen das Heim hüteten und die Männer auf die Jagd gingen. Die Frauen genossen einen überaus hohen Stellenwert, weil sie es waren, die neues Leben hervorbrachten, und da die Arasien nicht an die Gottheiten glaubten, vergötterten sie ihre Frauen.
Dennoch waren sie ein kriegerisches Volk, wie auch Arasis selbst eine kriegerische Gottheit war, und sie begannen die Einhörner nicht nur zu vertreiben, sondern sie auch gezielt auszurotten.
In den meisten Geschichten heißt es, dass diese so faszinierenden Tiere in jener Zeit ausstarben. Dennoch tauchten in späteren Zeiten hier und da noch ein paar ihrer Art auf. Vielleicht hatten die Einhörner sich in irgendein sicheres Land zurückgezogen, vielleicht waren sie auf eine andere Insel geflohen, vielleicht war es ihnen auch nur gelungen, sich vor den Arasien zu verstecken.
In der Natur kehrte wieder Frieden ein und die Tiere standen unter dem Schutz der Arasien.
Arasis wurde als Held gefeiert. Er gewann an Ansehen und selbst Oros neigte sein Haupt vor ihm. Doch vergaßen die Gottheiten darauf zu achten, was in den Ländern der großen Insel weiter geschah.
Die Arasien waren als Krieger geschaffen worden und so lag es in ihrer Natur, Konflikte durch Kampf zu regeln. Es kam dazu, dass sich das Volk in einzelne Clans aufsplitterte, doch selbst innerhalb dieser Gruppen herrschte keine Einigkeit, sodass sich einzelne Familien aus der Gemeinschaft zurückzogen.
Es folgten viele Schlachten zwischen den Familien und den Clans. Hauptsächlich kämpfte man um Gebiete und Ländereien, denn je größer das eigene Reich war, umso sicherer konnten die Familien leben, umso mehr Nachkommen wurden geboren und zu Kriegern ausgebildet.
Diese Kriege führten zu einem Streit unter den Gottheiten. Man gab Arasis die Schuld am kriegerischen Verhalten seines Volkes, doch eine noch weitaus größere Gefahr als die Arasien stellte die Magie dar, die nun nicht mehr zu bändigen war, auch nicht von den Gottheiten selbst. Sie war allgegenwärtig, eine unsichtbare Macht, die sich erst dann entfalten sollte, wenn Gefahr bestand, dass die Natur aus dem Gleichgewicht kommt.
Behemus, eine Gottheit, die Arasis um seinen Ruhm beneidete, schuf heimlich ein weiteres Volk, die Bettas, die fern der großen Insel hoch im Norden bei den Hohen Bergen lebten. Es waren sehr kleine Wesen mit langen knochigen Armen und kurzen Beinen mit langen Zehen.
Ihre Haut war von gräulicher bis bläulicher Farbe. Zwei leuchtende Augen stachen aus dem Kopf hervor, Mund, Nase und Ohren waren klein und kaum zu sehen.
Sie waren ausgezeichnete Kletterer und herrschten recht bald über die Hohen Berge, doch ihre wahre Stärke lag in der Fähigkeit unscheinbar zu sein.
Behemus hatte die Bettas nur zu einem Zweck geschaffen: Sie sollten die Arasien überlisten, sich in ihre Dörfer einschleichen und die Frauen abschlachten, denn ohne sie würde es keinen Nachwuchs mehr geben.
Die Bettas sollten über das große Meer kommen und den Norden der größten Insel erreichen, auf der die Arasien lebten. Doch dieser Plan scheiterte.
Oros der Mächtige erfuhr von Behemus’ Absicht, und in seiner Wut löste er auf See einen heftigen Sturm aus, doch wenngleich dieser von zerstörerischer Kraft war, so konnte er den Bettas doch nichts anhaben, denn ihr Überlebenswille war zu stark. Sie schafften es, sich auf eine kleine Insel zu retten.
Die Gottheiten verbannten Behemus daraufhin aus ihrem Reich. Oros ließ nun aus den Tiefen der heiligen Quelle im Westen der großen Insel seine eigene Schöpfung steigen: die Oronin. Auch sie waren kleine Wesen mit spitzen Ohren und einem starken Willen. Und wenn sie auf den ersten Blick auch hässlich wirkten, so verbarg sich tief in ihrem Inneren eine unübertreffliche Schönheit. Sie bewegten sich mit großer Eleganz und waren geschickter als alle anderen Lebewesen.
Oros hatte jedoch nicht bedacht, wie die Arasien reagieren würden, wenn sie auf die Oronin stießen.
Natürlich betrachteten die Wächter der Wälder das neue Volk als einen Feind und sie begannen, die Oronin zu jagen und zu hetzen. Die kleinen Kreaturen waren gegen die großen Krieger machtlos, da Oros ihnen keine zusätzlichen Fähigkeiten gegeben hatte, die sie gegen die Arasien einsetzen hätten können.
Aus dem Hass zwischen Arasien und Oronin entstand der längste Krieg zwischen zwei Völkern, der bis zum heutigen Tage andauert.
Da die Arasien den Oronin überlegen waren, zog sich Oros’ Volk nach Norden an die Küste zurück, wo sie sich ansiedelten und auf die Ankunft der Bettas warteten.
Über Jahre und Jahrzehnte hinweg geschah nichts. Einige der Gottheiten hofften bereits, die Bettas wären wieder zu den Hohen Bergen zurückgekehrt, doch sie irrten sich.
Behemus, der nach seiner Verbannung als Sterblicher wiedergeboren worden war, führte sein Volk zum Osten der großen Insel, von wo aus sie unbehelligt nach Westen weiterzogen, den Arasien entgegen.
Wie die einstige Gottheit es beabsichtigt hatte, erwies sich sein Volk als den Arasien überlegen. Sie waren zu klein und zu geschickt, um entdeckt und gejagt zu werden. Doch eines Tages gelang es einem der großen Clananführer, Behemus zu überlisten und ihn zu töten.
Mit einem Schlag war der Wille der Bettas gebrochen, es war, als stünden sie unter einem Bann. Vielleicht aus Angst, da sie nun erkannt hatten, dass selbst der mächtige Behemus ihnen unterlegen war, schlossen sie sich den Arasien an.
Die Kunde von Behemus’ Tod erreichte auch die Oronin, die nun in Scharen von Norden in die Gebiete der Arasien einfielen und die anderen Völker bekämpften.
Auch unter den Gottheiten brach ein Streit aus. Man gab Oros und Arasis die Schuld an den Missständen. Zugleich war es nun kein Geheimnis mehr, wie man neue Völker erschaffen konnte. Renetus der Radikale schuf die Renz, große, zottelige Bestien. Wie die Arasien standen auch sie auf ihren Hinterbeinen und hatten die Pranken für Waffen aller Art frei, doch waren sie nicht als Wächter und Bewahrer geschaffen worden, sondern als Monster mit gewaltigen Stoßzähnen und einem riesigen Maul.
Die Renz zogen in Rudeln durch die Ländereien, mordeten und plünderten. Wenngleich sie niemals so stark waren wie die anderen großen Völker, konnten sie in kleinen Gruppen über all die Jahre hinweg überleben und werden noch heute als Bestien gefürchtet.
In vielen Geschichten steht geschrieben, dass Riefus, der Sohn des Behemus, sich für die Verbannung und den Tod seines Vaters rächen wollte. Deshalb schuf er das mächtigste aller Völker, jenes, das den anderen überlegen war, weil es sich der Sprache bedienen und Handel betreiben konnte.
Er war der Erste, der sein Volk, die Menschen, nicht nach sich selbst benannte und nicht wie die anderen Gottheiten nach Perfektion strebte. Die Menschen waren voller Fehler und Schwächen, doch er stattete sie mit der Fähigkeit aus, einander zu verzeihen, sich zu irren und auch das Scheitern zuzulassen.
Es waren die Menschen, die Liebe empfinden konnten, es waren die Menschen, die unter Kummer litten. Und dennoch wurden sie zum mächtigsten aller Völker, denn sie betrieben Handel und errichteten eine soziale und politische Struktur.
Viele Gottheiten rätselten über Riefus’ Vorgehensweise, sie misstrauten ihm, sie vermuteten einen tückischen Plan. Auch konnten sie sich nicht erklären, wie ein Volk so voller Schwächen so mächtig werden konnte.
Am wahrscheinlichsten allerdings gilt, dass Riefus nicht nach Rache trachtete, vielmehr wollte er die Taten seines Vaters wieder gut machen und die anderen Gottheiten die Kunst des Verzeihens lehren.
Ein ganzes Jahrhundert lang standen die Völker einander im Krieg gegenüber. Als fast schon der gesamte Westen der größten Insel von den Menschen beherrscht wurde, geschah etwas, was sich keiner der Gottheiten – selbst Riefus nicht – erklären konnte: die Verschmelzung zweier Kreaturen durch Magie.
Über dieses Ereignis gibt es zahlreiche Aufzeichnungen, zumal die Menschen der Schrift mächtig waren.
Ein junger Menschen-Mann war einst bis zum See im Herzen des westlichen Teils der großen Insel vorgedrungen, wo er auf eine Oronin-Frau traf. Die beiden Geschöpfe wurden von Liebe zueinander erfasst und ihre Körper verschmolzen durch Magie miteinander. Zwei Seelen waren nun in einem Körper gefangen. Auch das Aussehen dieser neuen Kreatur hatte sich verändert.
Ein neues Volk war entstanden. Weitere Menschen-Männer gerieten in den Bann der Oronin-Frauen, und als jene Verschmelzungen, jene Kreaturen – wie auch immer man sie nennen mag – in die Dörfer der Oronin kamen, sprang die Magie, die in den Geschöpfen steckte und die Seelen an einen Körper band, auf die Oronin über und veränderte auch sie – ohne dass es zuvor zu einer Verschmelzung zweier unterschiedlicher Völker gekommen war.
Über Generationen hinweg hatten sich die Oronin verändert, und ihr Aussehen glich zunehmend dem der Menschen. Sie waren in etwa gleich groß, und wenn sie in einen Umhang gehüllt waren, sahen sich die beiden Völker zum Verwechseln ähnlich. Nur ihre Gesichter waren unterschiedlich geformt. Die Elfen – wie das neue Volk nun genannt wurde – hatten spitze Ohren, einen schmalen Kopf und kühle Augen. Sie waren auch sehr schlank und wendig, waren schnelle Läufer, konnten gut mit Waffen umgehen und hatten einen scharfen Blick.
Von ihren Fähigkeiten her waren die Elfen den Menschen weit überlegen. In ihnen schlummerten starke Kräfte. Sie waren die Einzigen, die die Magie zu bändigen und zu ihrem Vorteil einzusetzen wussten. Diese Fähigkeit ging über all die Jahre und Generationen hinweg zwar langsam verloren, doch in späterer Zeit gelang es erstmals auch den Menschen, Magie zu brechen und einzusetzen.
Die Elfen erlernten bald die Sprache und Schrift der Menschen, und nach einigen Jahrzehnten entwickelten sie sogar eine eigene Sprache, die den Menschen teils immer noch fremd und unverständlich ist.
Der Name der Oronin geriet bald in Vergessenheit, wie auch einige wenige ursprüngliche kleine Oronin selbst – welche nun in den Geschichtsbüchern als »Elfchen« bezeichnet wurden.
Der zunehmende Wohlstand der Elfen führte zu einem weiteren Krieg – angestiftet von den Weisen der Menschen –, und bald waren all die großen Völker miteinbezogen. Bestehende Bündnisse wurden zerschlagen und neue geschlossen. Kaum jemand konnte den Überblick bewahren. Und während die Arasien erneut gegen die Menschen kämpften, zogen sich die Elfen nach Norden und Osten zurück.
Jene von ihnen, die im Norden blieben und den Oronin am nächsten verwandt waren, errichteten inmitten eines Waldes eine kleine Stadt. Sie mussten ständig auf der Hut sein und sich vor feindlichen Truppen verstecken.
Andere, die schon zuvor nach Osten gezogen waren, hatten es besser getroffen. Sie errichteten eine große Stadt nahe den Bergen, wo sie sich fern vom Feind weiterentwickeln konnten. Ihr Gesicht bekam mit der Zeit eine rundlichere Form und auch das Haar, das einst schwarz war, nahm einen leicht rötlichen Farbton an.
Einige wenige waren schon Jahre zuvor nach Südosten weitergezogen, außerhalb jener Gebiete, die in den Landkarten der Menschen erfasst waren. Bald gerieten diese Elfen in Vergessenheit und man hörte lange Zeit nichts mehr von ihnen.
Ein Jahrhundert später – im Norden war die kleine Stadt bereits zu einer recht großen angewachsen, und im Osten war Alphradon zur Hauptstadt der Elfen mit dem Königssitz ernannt worden – tauchte jedoch ein neuer Volksstamm der Elfen auf. Sie nannten sich Nalabin, die Elfen aus dem Süden. Ihre Verwandtschaft zu den Nalyot-Stämmen, die von der Gottheit Nalyos geschaffen worden waren, stand außer Zweifel: Die dunkle Haut, die feinen Sinne und ihr Geschick im Umgang mit dem Bogen und Wurfmessern war ihnen gemeinsam. Dennoch blieben sie Elfen wie die Oronin und die Sofra, wie die Elfen im Nordosten nun genannt wurden.
Der Krieg vereinte das Elfenvolk und ihre drei Stämme erneut, wobei die Sofra zum größten Stamm anwuchsen.
Die Jahre verstrichen und die Völker entwickelten sich weiter. Hatten die Arasien einst noch mit Steinen und Speeren gekämpft, so trugen sie nun geschmiedete Klingen und schwere Rüstungen. Ähnliches traf auch auf die Bettas zu, wobei diese bis heute kaum Waffen tragen.
Die Menschen hatten ein gewaltiges Reich mit mehreren großen Städten gegründet, das sich über den gesamten westlichen Teil der Insel erstreckte. Man nannte es das Westliche Reich.
Die stärkste Entwicklung hatte vermutlich das Elfenvolk durchgemacht. Zwar gab es abgesehen von ein paar kleinen Ansiedlungen am Hafen nur zwei nennenswerte große Städte – Dagorra im Westen, inmitten des Westlichen Reichs, und Alphradon im Nordosten –, doch lebte das Volk in größerem Wohlstand als jedes andere.
Die Elfen hatten nicht nur gelernt, Sprache und Schrift zu gebrauchen, Häuser zu errichten, Steine ineinander zu verkeilen, das Eisen zu schmieden, sie waren auch wahre Meister in der Anwendung von Magie geworden.
Einen großen Niedergang mussten die Renz erleben. Sie waren das einzige Volk, dass sich nicht die Sprache der Menschen aneignen konnte, der einzig nennenswerte Fortschritt war, dass sie nun Hacken, Äxte und Breitschwerter statt Holzprügel trugen.
Über die beiden anderen, jüngeren Völker, die Nalyot und Pütuv – geschaffen von der Gottheit Pütus – findet sich in den Aufzeichnungen kaum etwas. Sie waren zwar nach dem Ebenbild der Menschen erschaffen worden, doch zogen sie sich recht bald in den Süden zurück.
Es ist ungewiss, wie viel von diesen Geschichten der Wahrheit entspricht. Doch der Gedanke, dass jedes große Volk direkt von einer der Gottheiten geschaffen wurde, klingt durchaus überzeugend. Vor allem auch deswegen, weil ihre Schöpfungen der Beweis dafür sind, dass selbst sie nicht perfekt waren, dass selbst sie Fehler machten und einander bekriegten.
Vermutlich haben sich die Gottheiten schon vor langer Zeit, nach der Erschaffung der letzten Völker, zurückgezogen und kümmern sich kaum noch um die Geschehnisse auf den Inseln.
Auch ohne das Einschreiten der Gottheiten hat sich vieles verändert. Die Holzhütten wichen Lehmhütten und diese wiederum Steinhütten, Straßen wurden gebaut, verbreitert und auf den wichtigen Handelswegen sogar gepflastert.
Diese Blütezeit des Westlichen Reichs fand jedoch bald ein Ende. Die Machtverhältnisse ordneten sich neu und während der Wohlstand des gemeinen Volkes stetig sank, gelang es der einflussreichen Bevölkerungsschicht ihre Reichtümer zu vermehren und immer mächtiger zu werden.
Seit vielen Jahren regiert nun ein mächtiger Herrscher, Kaiser Mandossar, das Westliche Reich. Sein Schwert, eine magische Klinge, die stets den Weg zu ihrem Herrn zurückfindet, hat ihn unbezwingbar gemacht. Einst war er ein weiser und gütiger Herrscher gewesen, doch getrieben und zerfressen von Ehrgeiz – und Scham – ist er zu einem grausamen und rücksichtslosen Tyrannen geworden, der sein Volk leiden lässt und mit krankhaftem Eifer Jagd auf die anderen Völker macht. Er nimmt ganze Arasienstämme gefangen und sperrt sie in seine Kerker. Die wenigen Renz, die noch durch das Land streiften, wurden entweder getötet oder zu bezahlten Schergen des Kaisers.
Einzig die Elfen waren noch unbehelligt geblieben – doch vermutlich nur deshalb, weil sie in den Wäldern im Norden nahezu unauffindbar waren.
Im Osten grenzte ein weiteres Menschenreich an jenes des Kaisers. Man nannte die Bürger Kollahns auch oft die Ostmenschen oder Menschen aus dem Osten.
Sie waren politisch unabhängig – ob sie nun gegen den Kaiser, oder gegen die Elfen waren oder sich mit dem einen oder anderen verbündet hatten, weiß keiner mehr so genau, zu lange schon lebten sie zurückgezogen.
Inzwischen war eine Zeit angebrochen, in der die Menschen im Westlichen Reich in großen Städten lebten, die Straßen waren verdreckt und stanken bestialisch. Viele Bürger erkrankten und starben bald darauf. Jene Heiler – in den meisten Fällen waren es Frauen –, die nicht dem Kaiser dienten und auf die Wirkung von Kräutern vertrauten, verschwanden ganz plötzlich und tauchten wenige Tage später tot in einem der verdreckten Flüsse oder in den nahen Wäldern auf.
Bildung war nur den reichen Bürgern zugänglich, Gelehrte gab es nur wenige und sie bevorzugten es, ihre Schüler einzeln zu unterrichten.
Das Geschäft mit der Prostitution blühte auf, Frauen wurden nun wie Waren gehandelt und mussten zugleich hohe Steuern an den Kaiser abliefern.
Es herrschte eine grausame Ungerechtigkeit. Öffentliche Hinrichtungen standen an der Tagesordnung, Anhörung oder Verteidigung gab es keine.
Und nahe einer solchen Stadt im Norden der großen Insel lebte ein Einsiedler, verborgen im Wald.