Kitabı oku: «Ein Arzt in einer kleinen Stadt»
Ein Arzt in einer kleinen Stadt
JuIie Burow
Inhaltsverzeichnis
Erstes Kapitel.
Ankunft.
Zweites Kapitel.
Der Hauswirt.
Drittes Kapitel.
Die erste Praxis.
Viertes Kapitel.
Im Laboratorium.
Fünftes Kapitel.
Eine große Gesellschaft.
Sechstes Kapitel.
Maria.
Siebentes Kapitel.
Der Astronom.
Achtes Kapitel.
Ein Maitag.
Neuntes Kapitel.
Um Mitternacht.
Zehntes Kapitel.
Eine Familienchronik.
Eilftes Kapitel.
Ein gebroch'nes Herz.
Zwölftes Kapitel.
Mutter und Sohn.
Dreizehntes Kapitel.
Ein gebroch'nes Herz.
Fortsetzung.
Vierzehntes Kapitel.
Ein Zeuge.
Fünfzehntes Kapitel.
Vor sechszehn Jahren.
Sechszehntes Kapitel.
Aus Mariens Tagebuche.
Siebzehntes Kapitel.
Am Sterbebette.
Achtzehntes Kapitel.
Im Hirtenhause.
Neunzehntes Kapitel.
Nach fünf Jahren.
Impressum
Erstes Kapitel.
Ankunft.
Die Post brachte diesmal einen Passagier! Gerade keine häufige Erscheinung in Hermstädt, auch kuckte des Postdirektors hübsche Lulilia durch die Türritze und sah sich den seltenen Gast im Postzimmer mit neugierigen Augen an. Sie sah freilich nicht viel daran. Er trug eine Wildschur, eine Bärenmütze und einen großen englischen Comforter, der bis an die Nase hinaufging, aber die Augen mussten doch durch den Schnee, der schon seit vielen Stunden gefallen, nicht geblendet, noch auch von den vielen Hüllen verhüllt sein, denn er sah das rosige Mädchengesicht und grüßte indem er die Bärenmütze abnahm und einen hübschen Kopf voll dichter brauner Locken zeigte. Der Postsekretär im Expeditions-Büro sah auch von seinem Pulte auf nach dem Fremden und fragte höflich:
»Bleiben Sie hier, mein Herr?«
»Ja! Werde ich eine möbelierte Wohnung bekommen können?«
»Wollen Sie längere Zeit hier verweilen?«
»Für immer, mein Herr, ich denke mich hier als Arzt niederzulassen.«
»Ah so! Aber mit den Wohnungen ist es hier schlimm. Das ganze Jahr durch kommen hierher keine Fremde, die Chambergarnier bedürfen. Das Städtchen ist zu klein und abgelegen, Herr Doktor, wenn Sie aber mit geringen Bequemlichkeiten fürlieb nehmen wollen, so könnte ich Ihnen fürs Erste Zimmer und Kabinett in einem honetten Bürgerhause verschaffen.«
»Da würde ich Ihnen sehr verpflichtet sein«, sagte der junge Arzt die Wildschur ablegend.
Ein schlanker großer Mann in modischer Kleidung hatte sich aus der winterlichen Hülle entwickelt und stand aufgerichtet, eine eigentümlich anmutige Erscheinung, in der niedern Poststube. Der Postsekretär, ein ebenfalls noch junger Mann, bat ihn Platz zu nehmen, bis sein Expeditions-Geschäft geendigt, und begann ein Gespräch über das Wetter, den Weg und die Postpferde. Gedankenvoll blickte der Fremde ins Feuer, das im Ofen spielte und mit glühenden Zungen an den gewaltigen Holzkloben leckte. Sein Weg hatte ihn durch weite Forsten geführt, die sich fast bis an das Städtchen erstreckten, das sie von der Welt gleichsam abzuschneiden schienen. Durch den massenhaften Verbrauch des Holzes ward ihm die Erinnerung an die hohen schönen uralten Bäume rege gemacht und er sah im Geiste noch einmal die schneebeladenen Wipfel sich über den Weg beugen, hörte noch einmal das Rauschen des Winters in ihren Kronen.
»Wenn Sie erlauben, so will ich Sie jetzt in eine passende Wohnung führen«, sagte endlich der Postsekretär, das Expeditions-Büro schließend und die orange berändelte Mütze vom Sims nehmend.
Der Fremde knöpfte den Paletot zu, übersah noch einmal seine Reiseeffekten und folgte dem gefälligen Führer in die dunkle beschneite Straße.
Ein kleines Städtchen der Mark sieht bei Nacht und Winter ziemlich dem andern gleich. Hermstädt, das die beiden jetzt durchwanderten, hatte breite Straßen, eingefasst mit niedern Häusern, zwischen denen hin und wieder ein zweistöckiges sich ganz besonders auszeichnete. Licht blickte traulich aus vielen Fenstern, vor den beiden Apotheken brannten Laternen, deren Flamme der Wind von Zeit zu Zeit flackern ließ. Vor dem Tore einer Schenke stand ein hoch bepackter Fuhrmannswagen, an dessen Deichsel ebenfalls eine Laterne befestigt war, ein großer zottelhaariger Hund lag zwischen den Rädern auf einem Strohbunde.
Der Marktplatz war groß, reinlich und von ziemlich ansehnlichen Häusern eingefasst, vor einem derselben plätscherte ein hübscher Springbrunnen, über den eine mächtige Linde und ein Nussbaum ihre kahlen von Schnee beschneiten Äste beugten, und an der Tür dieses Hauses ergriff der Postsekretär den blanken Messingklopfer und nach wenigen Minuten befand sich der Fremde unter dem schützenden Dache. Sein Führer nötigte ihn rechts in ein Zimmer, in welchem er mit einem Streichfeuerzeug ein auf dem Tische stehendes Licht anzündete, bat ihn Platz zu nehmen und ging dann nach der andern Seite des Hauses um mit der Familie Rücksprache zu nehmen.
Die Stube, in welcher der junge Arzt zurückblieb, war geräumig, grün gemalt und mit altmodischen aber kostbaren Möbeln versehen.
Es war offenbar das Staatszimmer des Hauses. Der hochlehnige Sofa war mit grauer Leinwand bedeckt, ein Kronleuchter mit glänzenden Glasketten stak in einem Sack von Gaze. Gehäkelte und filierte Decken lagen auf den Mahagoni-Tischen und Kommoden, ein Teppich von fabelhaft hässlicher Stickerei vor dem Sofa am Fußboden, und an den Wänden hingen zwei Portraits in halber Figur lebensgroß, ein Herr und eine Frau, beide im höchsten Gala einer veralteten Mode, die Dame mit Locken, wie sie Henriette Sontag in der Oper »der Schnee« zu tragen beliebt hatte, der Herr im Klappenfrack.
Der Fremde hatte das Licht ergriffen und beleuchtete die seltsamen Gesichter, die ihm beide gleich steif altfränkisch und schüchtern erschienen und ihm mit fast lebendigen Augen entgegenblickten. Es war auffallend schöne Malerei an den Bildern, die Gesichter hatten Leben, der Atlas im Kleide der Dame glänzte und die blanken Knöpfe am Rocke des Herrn schienen das Licht in der Hand des Beschauers widerzuspiegeln.
Dieser, ein nicht gewöhnlicher Gemäldekenner, fühlte sich gefesselt durch die beiden Bilder. – Er hatte große Reisen gemacht und des Schönen auf der Welt nicht wenig gesehen. Den Sommer sogar, der dem Winter voranging, welcher jetzt eisig über der Erde lag, hatte er teils in Rom, teils in Florenz zugebracht, und er war bekannt mit den meisten lebenden Künstlern. Die Art der Malerei schien ihm nicht fremd zu sein; die humoristische Auffassung der steifen altfränkischen Haltung jener beiden Personen, der belebte Blick, die freie und natürliche Haltung der Hände – alles erinnerte ihn an die Auffassungsweise eines Malers, dessen seltsamer Charakter und trauriges Geschick in ihm einst die regste Teilnahme erweckt hatten. – Seine Gedanken eilten weit weg nach Welschlands Fluren und er merkte es nicht, dass durch eine Tapetentür das Original des männlichen Portraits indes eingetreten war. Der Hausherr – und als solchen dokumentierte er sich – war zwar wohl um fünfzehn Jahre älter als sein höchst getroffenes Bild, aber er war ebenso steif, ebenso altfränkisch als dasselbe, und seine stahlgrauen Augen blickten ebenso schüchtern und klug in die Wirklichkeit als auf der Leinwand.
»Ich habe die Ehre, den Herrn Doktor Franke vor mir zu sehen«, fragte er den Gast, »unseren er warteten Herrn Kreis-Physikus?«
Der Fremde bejahte.
»Mein Neffe, der Postsekretär Walter, sagte mir, dass sie beabsichtigen, eine möbelierte Wohnung für einige Zeit zu mieten und dass er sie auf die unsrige aufmerksam gemacht habe?«
»Ich würde mich freuen, Ihr Hausgenosse werden zu können.«
»Viel Ehre, mein Herr Doktor, es steht der Sache nichts im Wege, wenn Ihnen die Gelegenheit nicht zu klein ist. Wir wohnen an der Ecke des Marktes und der Hauptstraße, ziemlich in dem belebtesten Punkte unseres Städtchens. Die Zimmer sind gelüftet und sie können, wenn dieselben sich Ihres Beifalls erfreuen sollten, gleich hierbleiben.«
Doktor Franke war dies wohl zufrieden und der Hauswirt führte ihn in ein Nebenzimmer, an das ein Schlafkabinett stieß und erklärte, dass dies die Räumlichkeiten wären, die ihm zu Gebote stünden. Man einigte sich über den Mietspreis, Feuer ward in dem Ofen angezündet, ein Dienstmädchen in reinlicher Kleidung machte sich mit Abstauben, Bett überziehen usw. eine halbe Stunde zu schaffen, dann brachte sie auf des Doktors Wunsch Teegeräte und holte sein Reisegepäck von der Post ab, und nach einer Stunde saß Franke gemütlich neben dem Ofen in seinem Schlafrocke von violettem Samt, trank Tee und blätterte in einer Zeitschrift, die er mitgebracht hatte.
Es lag eine eigene Ruhe und Behaglichkeit in der kleinen Wohnung, die der junge Doktor für den Augenblick die seine nannte. Die Reise war angreifend gewesen, der Wind pfiff in den Kaminen und rüttelte an den Doppelfenstern. Im Hause dagegen war alles still, kein Türewerfen, kein Klavierklimpern, weder Tellergeklapper noch Menschenstimmen unterbrachen die Gedanken des Fremdlings, der sich wie in einem leichten Traum befangen vorkam. Also hier sollte er sein Leben zubringen, hier in dieser Abgeschiedenheit, fern von der Bildung und dem geistigen Streben der Residenz, fern von Freunden und Bekannten, ohne Kunstgenüsse, wahrscheinlich ohne passenden Umgang, denn was konnte das Städtchen, dessen Einwohnerschaft größtenteils aus Tuchmachern besteht, ihm für Umgang bieten? Pflichten! Berufspflichten! Menschenpflichten! Harte, ungewohnte Begriffe für den Jüngling, der bis dahin in der Ungebundenheit, die der Reichtum der Jugend gewährt, gelebt hatte.
Doktor Franke war ein einziges Kind. Sein Vater galt für einen reichen Bankier, lebte in der Residenz und machte ein großes Haus. Er war von jüdischer Abkunft – man wusste nicht genau, ob er und seine Gattin sich taufen ließen oder nicht. Jedenfalls wurde der Sohn im christlichen Gymnasium unterrichtet und zur rechten Zeit konfirmiert. Der junge Franke galt für einen talentvollen Knaben, er machte den Gymnasial-Kursus in unglaublich kurzer Zeit durch, war mit siebzehn Jahren Student und hatte mit einundzwanzig sich bereits das Recht erworben, seinem Namen die Buchstaben Dr. med. vor oder nach zu setzen.
Auf der Universität hatte er die Bekanntschaft eines den vornehmsten adeligen Familien Altpreußens angehörenden Jünglings gemacht, und Franke und der Graf Gräben beschlossen ihre Reise zusammen zu machen. Die Väter hatten nichts dagegen. Herr Franke fühlte sich jedenfalls geschmeichelt durch die vornehme Freundschafts-Verbindung seines Sohnes, während Gräbens Vater Wohlgefallen an dem jugendlichen, sehr hübschen, munteren und witzigen Gefährten des seinigen fand. So durchstreiften die Jünglinge zusammen Deutschland, England und Frankreich, bestiegen zusammen die Alpen, lebten drei bis vier Winter miteinander in Rom, Florenz oder Neapel. Schifften sich nach Algier ein und durchzogen Griechenland, waren einen Sommer lang in Spanien und einen andern in Schweden. Sie hatten sechs Jahre auf ihren Reisen zugebracht und fest beschlossen, noch einen Abstecher nach Amerika zu machen. Da wurden eines Tages in Spalato Frankes Wechsel nicht mehr honoriert und am nächstfolgenden brachte die Post ihm die Nachricht, dass sein Vater bankerott gemacht. Sechs Stunden darauf mit dem nächsten Bahnzuge kam ein Brief seiner Mutter, der erste, den er sich erinnern konnte von dieser Dame, die immer noch sehr elegant und sehr schön war, erhalten zu haben. Es war schwer bei den Eigentümlichkeiten ihrer Orthographie und Handschrift den Sinn desselben zu entziffern, dennoch fasste ihn Franke nach einigem Studium auf – sein Vater hatte sich den Hals abgeschnitten! –
Von seinem Reisegefährten, der ihn herzlich bedauerte, borgte Franke sich das Geld zur Heimkehr. Als er in Berlin anlangte, war sein Vater begraben, sein Vaterhaus in der Stadt und die Villa im Tiergarten bereits verkauft und seine Mutter wohnte zur Miete in zwei kleinen Zimmern in der Taubenstraße. –
Seine Mutter! War die alte, zusammengefallene Frau im schlumpigen Kattun-Überrock wirklich seine Mutter? Ein und dieselbe Person mit der stattlichen feinen Dame, die er in Seide und Blonden, oft strahlend von Edelsteinen zu sehen gewohnt war? – Sie war es, kein Zweifel, sie machte noch die alten Sprachfehler, sprach noch so rasch, so unzusammenhängend wie sonst und überhäufte ihn noch wie sonst mit Liebkosungen und Liebesworten! – Die Persönlichkeit war dieselbe, nur die Übergoldung der Statue war vom Wetter des Geschicks abgeschlagen worden.
Franke war ein Mann und bewährte sich als solcher, indem er sich von dem Wechsel seines Schicksals nicht niederschlagen ließ. Er litt darunter, aber er fasste sich und übersah seine Lage mit ruhigem Blick. Sein Reichtum und alle Vorteile, die er ihm gewährt hatte, war ihm geraubt, seine Jugend, seine Gesundheit, seine Kenntnisse waren ihm geblieben; Mut und Kraft wollte er sich selbst bewahren. Er fühlte, dass die Verpflichtung, seiner Mutter ein sorgenfreies Alter zu sichern, auf ihm lag. Er hatte Tausende, viele Tausende mit jugendlicher Sorglosigkeit verschleudert, nie war der Gedanke ihm aufgestiegen, dass er jemals auf seine eigene Kraft allein gewiesen werden könnte und er wusste nicht, wie weit diese Kraft möglicherweise reichen könne.
In der Residenz zu bleiben hielt er für untunlich. Hier hatte man seine Familie als reiche Leute gekannt, mehr als ein nur mäßig Bemittelter hatte die Frucht seiner Ersparnisse durch den Bankerott seines Vaters hier verloren. Der Gedanke, Leuten zu begegnen, die in ihm den Sohn eines Mannes kannten, der sie um das Ihrige gebracht, war ihm unerträglich. Der Anblick des Hauses, in dem er als Kind gespielt, in dem an jedes Winkelchen sich für ihn Erinnerungen knüpften, erregte ihm peinliche Schmerzen. Auch würde er in der Residenz schwerlich so bald ärztliche Praxis erworben haben, und von dieser musste er leben und eine Mutter ernähren. Fort musste er und die Nachricht, dass das Kreisphysikat in Hermstädt erledigt sei, machte ihn zuerst auf das Örtchen, dessen Namen er bis dahin nicht gekannt hatte, aufmerksam. Er schlug Meinekes Geographie auf und fand da folgende Notizen:
»Im Regierungsbezirk Frankfurt a. O. Hermstädt an der schiffbaren Nelze, mit 5000 Einwohnern und bedeutenden Tuchmanufakturen. Betriebsames Städtchen inmitten bedeutender Forsten, in der Nähe eine Glashütte, mehrere Braunkohlengruben und eine große Steingutfabrik. Bekannt wegen der nahe gelegenen Weinberge, auf denen ein trinkbarer Landwein erzeugt wurde, treibt auch einigen Seidenbau.«
Diese Nachrichten waren jedenfalls nicht zurückschreckend. Franke bewarb sich um die Stellung. Er hatte sein Staatsexamen vor Jahren in allen Branchen der Medizin und Chirurgie aufs Glänzendste gemacht. Seine Zeugnisse waren brillant – mehr als einer der Männer, die über die Vergebung jener Stelle zu schalten hatten, war einst Gast an den glänzenden Tafeln seines Vaters gewesen. Man konnte sich, indem man das Gesuch des Sohnes unterstützte, auf kostenfreie Weise gewisser Verpflichtungen entledigen. – Enfin: Doktor Franke bewarb sich um das Kreis-Physikat in Hermstädt und erhielt es! –
So war er denn hier. Den Kopf in die Hand stützend überließ er sich teils flüchtigen Erinnerungen, teils überlegte er Pläne für die Zukunft. Sein Gehalt war gering, nur Taler im Jahre – so viel hatte er als Jüngling in einem Monate zu verzehren gehabt und während seiner Reisen war er selten damit ausgekommen. – Franke, obgleich im Überfluss erzogen, kannte dennoch den Wert des Geldes. Selten wird man einen von Juden abstammenden Menschen finden, bei dem dieser sehr wichtige Teil der Erziehung gänzlich vernachlässigt wäre. Der Eigentumssinn wird bei den Juden früh geschärft. Große Fehler hängen mit demselben zusammen, aber auch große Tugenden, es kommt nur darauf an, wie er geleitet wird. Ehrlichkeit, Fleiß, Ordnung, Sparsamkeit stehen auf einer Seite im Zusammenhange mit dem Eigentumssinn und gründen sich zum Teil auf richtige und verständige Schätzung vom Werte des Geldes. Habsucht, Betrügerei, Geiz und Geldgier haben ihren Grund in der Überschätzung des Geldwertes, Verschwendung und Liederlichkeit in der Unterschätzung desselben.
Franke wusste, dass er von seinem Gehalt, auch wenn er noch so sehr sich beschränkte, nicht als Mann vom Stande leben könne, dass er auf ärztliche Praxis gewiesen sei, um sich das tägliche Brot, seiner Mutter ein geschütztes Alter zu schaffen. Welche Aussichten eröffneten sich ihm hier für seine Wirksamkeit? Das war die Frage, die sich in seinem Kopfe wälzte.
Er kannte nichts und niemanden in dem kleinen Städtchen. Außer dem Reisekoffer, der vor ihm stand und der eleganten Tasche von buntem Plüsch, die daran lehnte, konnte er hier nichts sein Eigentum nennen. Da stand er, arm, freundlos, fremd, die Nacht und der Winter draußen waren passende Sinnbilder seiner Gegenwart, aber in seinem Herzen war's licht und warm wie in dem Zimmer, das ihn freundlich herbergte.
»Ich will mir Bahn brechen«, dachte er, »haut doch der Pflanzer sich seinen Weg durch die Ranken des Urwaldes; wer seine Kraft kennt und braucht, kommt überall durch.«
Draußen rief der Wächter zehn Uhr ab, der Brunnen rieselte und rauschte ein Wiegenlied für den müden Mann, der sich zum Kampfe mit dem Leben rüstete.
Zweites Kapitel.
Der Hauswirt.
Der Wintermorgen sah glänzend hell in das Fenster des Zimmers, in dem Doktor Franke beim Kaffee saß. Er hatte sich den kleinen, schweren Mahagoni-Tisch ans Fenster gerückt und betrachtete die trübe Aussicht über ein Schneefeld, dessen Horizont der Wald begrenzte. Ein blauer dampfender Streif bezeichnete den Flussarm, der hier vorüberfloss. Weit hinaus bis ans Ufer standen eigentümliche Gerüste zum Ausspannen und Trocknen der fertigen Tücher bestimmt, sogenannte Tuchrähme, und darneben sah man in der ganzen Länge derselben blaugrünes Spargelkraut mit roten Beeren aus dem Schnee ragen.
Meisen, Goldammer und Spatzen pickten daran und hüpften dann um die einzelnen Pflanzen her, zierliche Spuren ihrer Krallchen in der Schneedecke zurücklassend. Franke hatte sich auf seinen Reisen zum Beobachter der Natur gebildet. Ihm entging kein Punkt auf dem reinen und belebten Bilde vor seinen Augen.
Es war von einer eigentümlichen Schönheit, obgleich man es weder großartig, noch üppig, noch milde nennen konnte. Dicht unter seinem Fenster war ein kleiner, mit einem Staketenzaun eingehegter Fleck, offenbar ein Blumengärtchen. Hin und wieder ragten einzelne Büschchen aus dem Schnee hervor, eine kleine Türe führte ins Freie. Fliederbüsche bildeten an einer Seite eine Laube, die im Sommer wohl still und grün sein mochte; an der Mauer des Hauses zog sich ein Spalier empor, wahrscheinlich für eine jetzt am Boden unter Moos schlafende Weinranke. Die Aussicht aus diesem Fenster erschien dem Doktor unendlich anziehender als die im andern Zimmer auf den Marktplatz, welche jenen Charakter der Stille und Öde hatte, der so häufig den kleinen deutschen Landstädtchen eigen ist. – Franke hatte seinen Hauswirt bitten lassen, auf kurze Zeit bei ihm einzutreten und Herr Senator Wallfeld erschien alsbald in sehr sauberem Hausanzuge und erkundigte sich, wie sein Gast geschlafen. Der Doktor nötigte ihn zum Sitzen und bat ihn, ihm mit seinem freundschaftlichen Rate und seiner Weltkenntnis an die Hand zu gehen.
»Ich bin fremd hier, geehrter Herr«, sagte er, »und muss mich dem Publikum, dem ich über den Hals geschickt werde, nach Kräften zu empfehlen suchen. Würden Sie die Güte baden, mich, so viel als dies notwendig, mit den hiesigen Verhältnissen bekannt zu machen?«
»Mit dem größten Vergnügen, Herr Doktor: Sie müssen aber bedenken, dass ich selbst ein zurückgezogener Mann bin, der die bissigen Honoratioren nur wenig kennt. Ich war Färber beim Herrn Kommerzienrat Werl, der die große Tuchfabrik hier anlegte, und kam von jeher wenig in Gesellschaft. Meine selige Frau« – hier blickte er auf zu dem Bilde – »war wie ich, wenig für großen Umgang, und meine Schwester ist auch nicht dafür. Indes man kennt die Leute doch so dem Namen nach und ich weiß Ihnen ungefähr zu sagen, wo Sie werden Visiten machen müssen.«
Er nannte nun eine Reihe von Personen und Familien und es war ziemlich das Verzeichnis der Honoratioren, das wir aus Kotzebues »Deutschen Kleinstädtern« kennen. Da waren Titel, lang wie der Johannistag und bedeutungslos wie eine Glasscheibe. Franke schrieb sie in sein Taschenbuch und versah diejenigen, welche sein Wirt ihm als ganz besonders wichtig bezeichnete, mit einem Kreuzchen. Franke erkundigte sich dann nach einer passenden Restauration, nach Wäscherinnen und all den hundert Menschen und Dingen, ohne die ein Mann nun einmal seine Junggesellen-Wirtschaft nicht beginnen kann.
Herr Senator Wallfeld zeigte sich in jeder Beziehung als ein gefälliger und freundlicher Wirt und der erste Weg, den Doktor Franke machte, als er im schwarzen Frack, mit weißer Halsbinde und weißen Glacéhandschuhen seine Visiten zu machen begann, war daher in das Familienzimmer des Senators. Eine sehr sanfte Stimme rief auf sein Klopfen »Herein« und Franke sah sich im nächsten Moment einer eigentümlichen und überraschenden Erscheinung gegenüber. War die Dame alt oder jung? Unmöglich konnte man das entscheiden. Sie trug sich nonnenhaft, ihr Haar war unter einer dicht anliegenden Haube so verhüllt, dass nur ein Streifchen, kaum einen Finger breit, über der sehr hohen Stirne sichtbar blieb.
Ihre Augen, sehr hellblond, waren von den langen dunkeln Wimpern fast immer verdeckt, wenn sie sie aber aufschlug, so strahlte darin ein Glanz, der seltsam mit dem bleichen, feinen, gänzlich farblosen Gesichte kontrastierte, in dem nur die schmalen Lippen eine hochrote gerade Linie bildeten. Franke musste sich unaufhörlich besinnen, wo er schon in seinem Leben Züge diesen ähnlich gesehen hatte. Selbst als die Erscheinung, mit dem Versprechen den Senator zu rufen, schon lange verschwunden war, stand sie ihm noch deutlich vor Augen, sonderbarer Weise gepaart mit der Erinnerung an ein helles, mit Weinlaub umsponnenes Fenster, durch das Italiens Sonnenschein hineinblickte, in ein kleines Zimmer.
Herr Wallfeld weckte ihn aus seinen Träumen, nötigte ihn auf das harte, altmodische Sofa und begann ein Gespräch über Alltagsgegenstände. Franke hörte kaum darauf und konnte sich nicht zurückhalten endlich zu fragen, wer die Dame gewesen.
Er täuschte sich nicht, wenn er zu bemerken glaubte, dass die gefurchte Wange seines Wirtes bis zur Schläfe errötete, als er antwortete:
»Meine Stiefschwester Jakobine.«
Nach einigen Augenblicken des Schweigens, in denen er mit sich zu kämpfen schien, setzte er hinzu:
»Ein sehr unglückliches Geschöpf, dem man um schwerer Leiden willen viele Sonderbarkeiten übersehen muss. Sie ist überdies fast immer krank und ich freue mich schon, Hilfe für die Arme so in der Nähe zu haben.«
»Hat Ihre Frau Schwester früher Reisen gemacht?« fragte Franke weiter.
Der Hausherr drehte am Knopfe seines Rockes:
»Sie hat das Weichbild unserer Stadt nicht überschritten und ist, verzeihen Sie es schon, Herr Doktor, in ihrer Seltsamkeit und ihrem Unglücke kaum ein Gegenstand für unsere Unterhaltung.«
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte Franke mit Herzlichkeit, »wenn ich ahndungslos einen schmerzlichen Gegenstand berührt habe. Ich kenne die Verhältnisse Ihrer Frau Schwester gar nicht.« –
»Sie ist unverheiratet!« –
»Nun Ihrer Fräulein Schwester. Das schöne Gesicht der Dame schien mir bekannt und es war mir zumute, als müsste ich dasselbe irgendwo in Italien gesehen haben.«
Die Stirne des Hausherrn war finster geworden.
»Das ist unmöglich, mein Herr – ganz unmöglich – sie müsste denn«, setzte er leise vor sich hinmurmelnd hinzu, – »als spukendes Gespenst dort gewesen sein.«
Dann, sich wieder an Franke wendend, sagte er unter sichtlichem Kampfe mit sich selbst:
»Sie sind ein einzig Kind, mein Herr, Sie können daher nicht wissen, dass in großen Familien, ich meine in solchen, die aus vielen Geschwistern bestehen, sich meistens ein Unglückskind befindet, ein solches, das zum Elend, vielleicht zur Schmach der Übrigen da zu sein scheint; ein solches ist Jakobine. Ich habe sie nach dem Tode meiner Gattin bei mir, sie führt meinen Haushalt – irgendwo muss sie sein – am wohlsten wäre ihr im Grabe. Ich selbst mag und will Ihnen nichts mehr von dem beklagenswerten Geschöpfe sagen, zeitig genug wird man Ihnen ihr Geschick in diesem kleinen Orte erzählen. Sie brachte Unehre in eine ehrbare Familie. Sie hat gelitten und gebüßt; Gott sei ihr gnädig! Ich als Bruder kann am wenigsten das Schlimmste von ihr glauben. Sonst ist sie wenig sichtbar; es ist der Unstern, der über allem waltet, was mit ihr im Zusammenhange steht, dass sie Ihnen fast im ersten Moment Ihrer Anwesenheit vor die Augen kommen musste.«
Senator Wallfeld wischte sich nach diesen Worten die bleiche Stirne. Er hatte in heftiger, aber unterdrückter Aufregung und mit hörbarem Beben der Stimme gesprochen und Dr. Franke war nicht wenig betreten über seinen Missgriff, als auch von Teilnahme erfüllt und neugierig gemacht durch die Worte seines Hauswirtes. Er konnte sich nicht helfen, die dunkle Erinnerung, dass er diesen Zügen schon einmal im Leben und zwar in Italien begegnet sei, ließ sich nicht verbannen und er überließ es der Zeit, das Rätsel, das ihm gleich beim Eingange in seinen Lebensberuf entgegenkam, zu lösen.
Die Visiten nahmen Zeit weg. Überall ward der junge Arzt angenommen. In vielen Häusern setzte man ihm Frühstück vor, überall dehnte sich auf Veranlassung der Bewohner sein Aufenthalt weit über die üblichen Visitenmomente hinaus, überall fragte man ihn nach seinen Reisen, seinen Familienverhältnissen und vor allem nach seinem Urteil über seinen neuen Wohnort, das freilich nur noch ein sehr unmotiviertes sein konnte. –
Nur in einem einzigen Hause wies man ihn mit einem »Nicht zu sprechen« ab, und diese einzige Ausnahme erregte natürlich sein Interesse in gewissem Grade. In seinem Notizbuche fand er über die Familie: »Rat Baum im Herrschaftshause am Wall« und daneben ein Kreuzchen. In der Tat, das Haus, welches der Rat Baum bewohnte, führte seinen Namen mit gutem Rechte. Ein schönes, palastartiges Gebäude, massiv und mit zwei Flügeln, die einen Hofraum einschlossen, dessen vierte Seite eine Staketenwand von einem sehr großen Garten schied. In den Seitenflügeln wohnten andere Familien, solche Leute, von denen zwölf ein Dutzend ausmachen. Doktor Franke hatte sich auf seinen vielen Reisen gewöhnt, die Personen nach ihren Kleidern, Möbeln, Geräten, nach ihrer nächsten Umgebung zu schätzen. In ganz Hermstädt hatte er nicht eine einzige Familie gefunden, die in dieser Taxation vollwichtig erschienen wäre.
Nicht zusammenpassende Mobilien, geschmackloser Putz, ungemütliche Zimmer, kalte Putzstuben und unsaubere Wohnräume.
Nur im Rat Baum'schen Hause, von dem er freilich nur den hohen gewölbten Flur und ein freundliches Vorzimmer gesehen, gefiel es ihm. Ein gewisser Geist gemütlicher Häuslichkeit schien dort seinen Wohnsitz aufgeschlagen zu haben. Franke hatte gefunden, dass da, wo die Stühle so wohlgeordnet stehen, wo die Blumen so gepflegt erscheinen, wo die Kupferstiche an den Wänden so im richtigsten Lichte hängen, stets Familienglück im Innersten des Hauses zu wohnen pflegte und er trat aus dem Herrschaftshause am Wall, den Hut in der Hand und ein gewisses Gefühl der Teilnahme im Herzen.
Abends kam sein Hauswirt zu ihm und brachte ihm drei für ihn eingegangene Briefe. Der erste war von seiner Mutter, wie er an den langen, und nach den verschiedensten Seiten ausgeschweiften Buchstaben erkannte. Der zweite von Gräben und der dritte von dem Rechtsanwalt der Konkursmasse seines Vaters.
Er legte sie alle drei über Seite und erzählte lächelnd dem Senator von seinen verschiedenen Erlebnissen, auch von dem hübschen Hause am Wall. Sein Wirt hatte sich zu ihm gesetzt und ihm anfangs bloß höflich, dann lächelnd zugehört.
»Ich kenne die wenigsten der Personen, die Sie besucht haben; meine Verhältnisse schließen mich zu sehr von allen diesen Leuten ab; nur die Familie Baum ist mir bekannt. Sie ist hier nicht besonders beliebt, aber die Urteile einer kleinen Stadt sind nicht immer weise. Richten Sie sich nicht ganz nach denselben, Herr Doktor. Ich für mein Teil habe namentlich gegen Frau Baum große Verpflichtungen, es ist eine edle, hochherzige Dame, wenn auch vielleicht in ihrem Auftreten etwas exzentrisch – etwas, nun Herr Doktor, etwas anders wie alle Leute.«
»Nun ich werde sie ja wohl später noch kennenlernen.« –
»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Die Dame lebt sehr abgeschlossen in ihrem Familienkreise. Sie hat zwei liebe Kinder, zwei Mädchen, die sie selbst unterrichtet, dazu ist ihre Haushaltung nicht klein. Gesellschaften gibt die Familie gar nicht, Fremde finden selten, fast nie Zutritt; wem es aber gelingt, einmal festen Fuß dort zu fassen, der wird gleichsam Familienglied und ist sicherlich beneidenswert, obgleich ihm dadurch beinahe die andere Geselligkeit in unserem Städtchen verschlossen wird. Auch ich komme häufig dorthin. Die Frau Rätin war vor Jahren unsre Nachbarin und ist jetzt noch meine werte Freundin. Sie hat mir viel Liebes und Gutes erwiesen, mir und manchem andern«, setzte er mit einem Seufzer hinzu.
»Und der Rat Baum?« fragte der Doktor.