Kitabı oku: «Ein Arzt in einer kleinen Stadt», sayfa 3

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Fünftes Kapitel.
Eine große Gesellschaft.

Unter den Familien, denen Franke Visite gemacht, war natürlich auch die des Kommerzienrats Werl. Die Häuslichkeit hatte ihm eben nicht imponiert trotz dem Reichtum, der in allen Möbeln und Geräten sich mit großer Ostentation zeigte. Die Rätin Werl, eine dicke Frau, mit einem großen, hübsch gefärbten Gesicht, fast wie das Wachsbild vor dem Laden eines Friseurs, hatte ihm viel erzählt von ihren mancherlei Körperleiden und den Bädern, die ihr verordnet worden, der Kommerzienrat hatte gar nichts gesprochen, als:

»Wie gefällt's Ihnen in Hermstädt, he? Und denken Sie gute Geschäfte zu machen in Hermstädt, he?«

Franke wusste, dass diese Familie jährlich vier große Gesellschaften gab, und es war ihm daher nicht überraschend, eine goldumrändelte Karte vorzufinden, die ihn zu einem Tee bei dem Kommerzienrate einlud.

Er stand lächelnd vor dem Spiegel und knüpfte die Schleife seines Halstuches. Der letzten großen Gesellschaft hatte er in Neapel beigewohnt. Damals ein reicher Mann an der Seite seines vornehmen Freundes. Unwillkürlich verglich er den Abend, dem er entgegenging, mit jenem. Vor seinen Augen schwebten die graziösen Gestalten, die südlichen Gesichter der schönen Neapolitanerinnen vorüber, er sah den goldenen Vollmond am tiefblauen Himmel Italiens und unterdes tobte der Sturm und raste in den Zweigen des alten Nussbaumes vor der Haustür.

Sein frühester Bekannter im Orte, der Postsekretär Walter, hatte versprochen ihn abzuholen und trat ein in seiner glänzenden, mit Gold gestickten Staatsuniform, ein hübscher junger Mann mit einem Gesicht, auf dessen belebten Zügen ein neckischer Humor funkelte.

Franke und Walter waren in den letzten Tagen sich einigermaßen nähergetreten und als der Post-Sekretär den Kreis-Physikus betrachtete, sagte er lächelnd:

»So werden Sie nicht imponieren; unsre gute Stadt verlangt den Augenschein, um an die Würde eines Menschen zu glauben. Besitzen Sie keinen Ring, keine einigermaßen kostbare Tuchnadel? Nicht einmal eine gestickte Weste?«

»Schlimm, sehr schlimm«, entgegnete er dann auf das Nein des Befragten; »aber hoffentlich haben Sie einen Vetter im zehnten Gliede, der General oder Präsident ist, oder eine Base, die etwa als Bettmeisterin oder Silberwäscherin am Hofe angestellt ist? – Alles nicht! Sie werden schwer hier reüssieren, und zumal da Sie schon so unglücklich gewesen sind, das Haus der Rätin Baum zu betreten. – Die Dame ist, müssen Sie wissen, der Stein des Anstoßes und der Ärgernis für unsre Haute volée, die man hier mit dem Ausdruck Honoratioren bezeichnet.«

»Und was«, fragte Franke mit wenig verhehltem Interesse, »ist denn der Grund, dass diese Dame hier keine Freunde hat?«

»In einer kleinen Stadt, mein Bester, sind die Gründe des Ge- oder Missfallens in ein mystisches Dunkel gehüllt. Die Rätin Baum ist eine sehr schöne Frau. Ihr Auftreten ist sehr einfach, aber sie hat hohe Bildung und steht in Verbindung mit den bedeutendsten Männern des Tages, wie ich aus ihrem Briefwechsel ersehen kann. – Sie lebt in tiefster Abgeschlossenheit, keine unsrer Damen wird je zu ihr eingeladen, nie macht sie einen Besuch und die einzige weibliche Person, mit der sie hier in freundschaftlichem Verhältnisse steht, ist meine arme Base Jakobine. Dagegen kommen viele Männer in das Baum'sche Haus und jeder, der es einmal betreten, kehrt, von dem Liebreiz und dem Geist der Wirtin angenehm angeregt, gern dahin zurück. Auch ich bin oft dort, freilich sehe ich die Frau vom Hause nicht jedes Mal, aber auch die Gesellschaft des Rates ist angenehm, er ist ein trefflicher Schach- und Trick-track-Spieler und die beiden kleinen Mädchen können schon ganz hübsch die Stelle der Mutter vertreten.«

Sie waren unter diesem Gespräche an das hell erleuchtete Haus des Kommerzienrates gekommen. –

Es lag in einer Seitenstraße, die nur von den langen rauchigen Fabrikgebäuden gebildet wurde, in denen es ohne Aufhör Tag und Nacht schnurrt, das ist wirklich wunderbar und braust und zittert von der Arbeit der Dampfmaschinen und der verschiedenen englischen Spinnapparate. Eben schlug die Uhr der nahen Kirche Sechs und aus den Türen der Fabrikgebäude strömten, während zehn Minuten lang das Gerassel der Maschinen schwieg, die Tagarbeiter heraus, indes auf klappernden Holzschuhen die Nachtarbeiter eifrig hinzu eilten, um im rechten Moment an ihren Plätzen zu sein. –

Die meisten derselben waren Weiber mit bleichen aufgedunsenen Gesichtern. Sie hatten Tücher um die Köpfe gezogen, die das liederlich arrangierte Haar und zum Teil auch die zerrissene und schmutzige Kleidung verhüllten, und trugen Töpfchen mit Speisen in den Händen. An einigen Stellen mussten die beiden Gäste des reichen Fabrikherrn sich durch die zerlumpten Gruppen der Arbeiter beinahe drängen, und Flüche und nicht wenig schmutzige Worte tönten ihnen nach von bleichen und wulstigen Lippen, die vor Frost bebten. Burschen von zwölf bis sechzehn Jahren, Mädchen von unterdrücktem Wachstum und einige brutal aussehende Kerle standen an der Tür eines Gebäudes, aus der ein heißer, erstickender Dampf die Vorübergehenden mit einer Art von Pesthauch begrüßte. Es war das Trockenhaus, in dessen Vorderräumen noch einige Wollkrämpelmaschinen angebracht waren, die ebenfalls bei Nacht arbeiteten, während oben die Handweber bereits Feierabend gemacht. Dicht neben demselben bog man schief um eine Ecke und stand vor dem hell erleuchteten Palast des Kommerzienrats. –

Rechts und links neben der Haustüre hielten zwei Bronze-Figuren, in Nischen stehend, große, in blendendem Gaslicht strahlende Laternen in den Händen, welche den Eingang und die zu ihm führenden Sandstein-Stufen erleuchteten. Der Flur, mit zweifarbigen Quadern ausgelegt, schwamm in einem Meer von Licht. Blumenkübel standen trotz des eisigen Winters, der durch das geöffnete Haustor hereinwehte, auf den Treppen-Absätzen, ein Diener in krebsroter Livree öffnete die Türe eines Garderoben-Zimmers und gab den beiden Gästen für ihre Mäntel Nummerkarten. Eine Minute darauf standen sie in dem schon ziemlich gefüllten Saale. Franke musste sich sagen, dass das Ganze glänzender, ja auch geschmackvoller arrangiert sei, als er es vermutet.

Wirt und Wirtin erfüllten ihre Obliegenheiten mit möglichster Grazie. Der Kommerzienrat fragte jeden mit breitem Lächeln:

»Wie gefällt es Ihnen bei mir, he?« und die Kommerzienrätin, in einer Pariser Haube und einem Blondenkleide, erzählte von einigen Gesellschaften in Berlin, bei denen die Prinzen zugegen gewesen und sich viel mit ihr unterhalten hätten. Die Hauptzierde der Gesellschaft waren die vielen blühend hübschen Mädchen, unter denen des Postmeisters reizende Lätitia ziemlich den ersten Platz einnahm. Gleich nach dem Tee wurden lebende Bilder aufgestellt, und zwar hatte die Frau Kommerzienrätin einige Blätter aus den hübschen Fleurs animées dazu gewählt.

Die Kostüme hatte die reiche Dame in Berlin anfertigen lassen und die jungen schönen Mädchen sahen reizend genug aus als Rosen, Korn- und Mohnblumen. Postsekretär Walter hatte bei dem die Distel zeigenden Tableaux die Rolle des Esels übernommen und sah mit seinem grauen Frack, der roten Halsbinde und den gelben Handschuhen unwiderstehlich komisch aus. Später tanzte man und Franke als ein gewandter und ziemlich unermüdlicher Tänzer hatte sehr bald bei den anwesenden jungen Damen und deren Müttern Gnade gefunden. –

Es war ein Hauptaugenmerk des jungen Arztes, sich die Gesichter und Namen der Anwesenden einzuprägen. Er musste sich sagen, dass nach allem, was er hier sah, sich echte Originalität mehr in dieser kleinen Welt als in der Residenz entwickle. Fast jeder der Gäste im Hause des Kommerzienrats hatte seine kleine Absonderlichkeit, besonders unter den Männern. – Zwei davon fielen ihm gleich anfangs sehr auf. Der eine, ein Mann von Mittelgröße, mit einer eigentümlich keck in die Welt schauenden Nase, und einem Bändchen des roten Adlerordens im Knopfloch, der andere sehr groß, sehr hager und bis oben hinauf zugeknöpft, so dass man von seiner Wäsche nichts gewahr werden konnte, als ein sehr kleines Stückchen Hemdkrause, das zwischen dem zweiten und obersten Knopfloch wie neugierig hervor sah. Postsekretär Walter, den er nach diesen beiden fragte, nannte ihm den ersten als den pensionierten Ober-Registrator Semmler; den zweiten als den gleichfalls pensionierten Major von Meinhard. Beiden hatte er bereits Besuche gemacht, aber nur die weiblichen Familienglieder gesprochen, und er ließ sich daher den Herren vorstellen, da ihm Walter auseinandersetzte, dass beide Männer sich in der letzten Zeit einen nicht unbedeutenden Namen in der gelehrten Welt durch ihre gemeinschaftlichen astronomischen Forschungen gemacht hatten. Um eilf Uhr ging man zu Tische. Es war an kleinen Tafeln gedeckt und das Walten eines Freundes führte ihn an einen Tisch mit der schönen Lätitia und zwei Fräulein von Meinhard, beide so rosige, schlanke und zierliche Mädchen, als Norddeutschland sie nur hervorzubringen vermag. Die Champagner-Stöpsel knallten, die jungen Mädchen lachten. Franke im Gefühl seiner Jugend, Gesundheit und Kraft vergaß die Schmerzen der letzten Vergangenheit und fühlte sich so angeregt und so fröhlich als in Neapel. Er war nicht mehr der reiche Erbe; in einer großen Stadt wäre er ein sehr unbedeutendes Individuum gewesen; hier machten ihn sein Rang als Arzt und sein jugendlich hübsches Äußeres zu einer hervorragenden Persönlichkeit. Er fühlte sich bevorzugt, geehrt, ja sogar ein wenig umschmeichelt, und empfand ein recht inniges Behagen. Es ist ja gleich viel, ob man in Rom, Neapel oder Hermstädt Liebe und Wohlwollen erweckt, der Besitz dieser Güter ist eigentlich doch das beste Glück des Menschen.

Nach Tische trat Franke mit Lätitia zu einem Walzer an. Sie waren ziemlich das letzte Paar und er führte seine schöne Dame zu einem Ecksofa, das die vor ihm stehenden Tänzer verdeckten, sich dort neben ihr niederlassend. Es war drückend warm im Saale und Franke hatte eine Orange in den Händen behalten, die er zerlegte und auf einer Schale seiner Tänzerin darbot. Sie nahm lächelnd ein Stückchen und sagte, bevor sie es an die Lippen brachte:

»Ich fürchte nicht, Herr Doktor, dass Sie die bösen Künste bereits erlernt haben, die man in Ihrem Hause treibt.«

»In meinem Hause? Weshalb, mein Fräulein, treibt man dort böse Künste?« fragte er scherzend dagegen.

»Ei, wissen sie das nicht? Ihr Haus ist seit Jahren sehr im Verruf; denn zwei Mordtaten sind dort vorgefallen und noch nicht aufgeklärt. Es ist das wohl schon lange her, aber das Andenken an so was erhält sich für immer.«

»Das ist interessant und schauerlich, mein Fräulein«, entgegnete Franke lächelnd, »das alte Haus mit der freien Aussicht und den freundlichen hellen Stuben sieht gar nicht aus, als ob jemals etwas Böses oder Seltsames dort geschehen sein könnte.«

»Und doch, und doch!« flüsterte das junge, rosige Mädchen mit ernsthaftem Kopfnicken.

»Ich war damals vielleicht noch nicht auf der Welt oder doch noch ganz klein und unsereinem erzählt man solche Dinge nicht ordentlich. Du bist ein junges Mädchen, sagt der Vater, wenn ich ihn darnach frage, um alles zu wissen – noch viel zu jung, und Mama sagt: Christum lieb haben ist besser, denn alles wissen. Aber man hört denn doch so dies und das über die Schauergeschichten, die sich in der Welt zutragen.«

»Und was haben Sie denn gehört, Fräulein, über die Schauergeschichten in meinem Hause?«

»Ja, Herr Doktor, gerade nicht viel, nichts Genaues, unsre alte Kinderfrau erzählte mir davon, aber ich weiß, die lügt wie gestochen.«

»So, so«, entgegnete Franke lächelnd.

»Ja, aber wahr ist's doch, seh'n Sie, der Vater und die Frau des Senator Wallfeld sind vergiftet in einer Nacht. Herr Wallfeld versteht allerhand Gifte zu machen und seine Schwester hat ihm ein Päckchen mit einem schrecklichen Gift heimlich genommen, das hat er vermisst, und die beiden Leichen haben alle Zeichen der Vergiftung an sich getragen, und in derselben Nacht ist ein naher Verwandter spurlos aus dem Hause verschwunden. Ja, und die Schwester, die Jakobine Wallfeld, hat Jahre lang im Gefängnis gesessen, o es ist eine ganz schreckliche Geschichte.«

»So scheint es«, sagte Franke nachdenklich.

Das bleiche Gesicht Jakobinens stand plötzlich vor ihm, es war ihm, als suche er den sanften, resignierten und schmerzvollen Blick, den sie bei ihrem kurzen Zusammentreffen auf ihn heftete. Hinter diesen Zügen eine Meuchelmörderin zu vermuten, schien ihm an Wahnsinn zu streifen und doch war der eigene Bruder nicht frei vom Verdacht, das hatte er aus den Worten des Ratsherrn nur zu gut herausgehört, aber Frau Baum, diese feste, stolze und edelherzige Frau, hatte die Freundschaft und den Glauben an die Angeschuldigte bewahrt, ihm war dies hinreichend, um ebenfalls an ihre Unschuld zu glauben. Jakobine Wallfeld erschien ihm als eine Märtyrin und es war ihm einen Moment lang, als ob es sein eigentlicher Lebensberuf sei, das Geschick dieses armen Wesens aufzuklären. –

»Ja aber wenn Sie so dasitzen wollen und die Tour verpassen, Herr Doktor, so erzähle ich Ihnen gar keine Geschichten mehr, weder schöne noch schreckliche«, sagte Lätitia, und erweckte mit diesen Worten den Träumer zur Einsicht in die Gegenwart.

Franke sprang auf, schlang seinen Arm um die jugendliche Gestalt und schwang sich mit ihr in die Reihen der Tänzer. Die Töne eines echten deutschen Walzers trugen ihn wie auf Flügeln durch den Saal, noch einmal und noch einmal flog er mit ihr die Runde durch und als er sie endlich zu ihrem heimlichen Plätzchen zurückführte, sagte sie lächelnd:

»Wahrhaftig, Sie sollen sich nur erst gar nicht für einen Arzt ausgeben. Welcher vernünftige, rechtschaffene Doktor walzt seine Patienten schwindsüchtig?«

Franke fand keine rasche Erwiderung auf dies Wort der jungen Dame, er tat daher das Beste, lächelte und sagte, sie sei wunderschön in der Aufregung des Tanzes. Eine halbe Stunde darauf, saß er im Cotillon neben einem Fräulein Meinhard auf derselben Stelle und hielt mit der jungen Dame lachend Zwiesprache über die vielen welkenden Blumen und die herabbrennenden Kerzen im Saale, und als Sträußchen und Orden verteilt waren, mit welchen letzteren die jungen Schönen seiner neuen Heimat seine ganze Brust dekorierten, als Bonbons geknallt hatten, und die bunten Kleinigkeiten eines Christbaumes verteilt waren, fand er sich allein, in seinen Mantel eingehüllt, den Kopf voll von hundert seltsamen Gedanken, in der schneeigen Straße zwischen den Fabrikgebäuden.

Die Räder und Walzen schnurrten und rasselten, trübes Lampenlicht schimmerte durch die geschlossenen Laden und in der großen Pforte in mitten der Gebäude lehnte an einem Pfosten eine in Pelze gehüllte Gestalt, der Fabrikwächter.

»Was ist die Uhr«, fragte Franke im Vorübergehen.

»Fünf vorbei, bald Morgen, Gott sei Dank«, sagte der Mann mit einer tiefen, dumpfen Stimme.

Der Hund zu seinen Füßen knurrte und Franke eilte an ihm vorüber in sein Haus, wo eine unsichtbare Hand ihm öffnete.

»Sie wacht«, dachte der junge Arzt, »früh und spät wacht sie – unglückliche Jakobine!« –


Sechstes Kapitel.
Maria.

Einladung folgte jetzt auf Einladung für Doktor Franke. Aber auch seine Praxis fing an sich zu heben. Ehe noch der Frühling kam, konnte er übersehen, dass er in Hermstädt sein täglich Brot finden würde. Sein täglich Brot, wie es der unbemittelte Beamte in unserem Vaterlande isst. Er musste Berechnungen anstellen, wie viel er für jeden besondern Zweig der Lebensbedürfnisse etwa zu verwenden haben würde. Er fing an sich daran zu gewöhnen, auf den Geldwert einer Sache Rücksicht zu nehmen, bevor er sie als eine Notwendigkeit für sich betrachtete. Im Sommer wollte er eine Wohnung mieten, die ihm verstattete, seine Mutter zu sich zu nehmen.

Jakobine, für die er eine unglaubliche Teilnahme empfand, hatte er noch nicht ein einziges Mal gesprochen. Mit seinem Hauswirt und dem Postsekretär Walter stand er auf freundschaftlichem Fuße und im Hause der Rätin Baum war er ein stets gern gesehener Gast. –

Sein Leben war just nicht unfreundlich, aber als eine Fortsetzung seiner Jugendjahre betrachtet, war es unsäglich dürftig. Er selbst fühlte dies kaum. Eine eigentümliche Ader des Glückes hatte sich ihm eröffnet in dem Umgange mit der Frau, die er am Krankenbette ihres Gatten zuerst gesehn. Der Rat Baum war genesen; freilich schien bei diesem Manne jedes Genesen von seinem entsetzlichen Übel nur eine Gnadenfrist zu sein, da der Grund desselben nicht gehoben wurde. Er selbst hatte dringend gewünscht, seinen Arzt kennenzulernen, und so war denn Franke in den näheren Umgangskreis der Familie gezogen worden. Wer wie Franke im Reichtum erzogen ward und seine Jugend auf Reisen zubrachte, kennt eigentlich wenig vom Leben in der Familie. Bei seinen Eltern war jeder seinen eigenen Weg gegangen, andre Familien hatte Franke nur im Gesellschaftsputze gesehen, im Hause der Frau Baum sah er daher zuerst ein Familienleben. Wenn er in der Abendstunde hineilte, heimelte ihn schon das Licht an, das in vollem Strom, nur gedämpft von den niedergelassenen Gardinen, durch die glänzenden Fenster strahlte. Viertelstundenlang konnte Franke unter diesen Fenstern stehen und dem Stimmengeflüster oder dem Gesang lauschen, der zu ihm herab tönte. Wenn er dann eintrat, wehte ihm Hyazinthen-Duft mit Frühlingshauch entgegen und beim Schein der Lampe am runden Familientisch saß Maria zwischen ihren beiden Kindern, ihrem Gatten gegenüber, der entweder mit einem Bekannten irgendein Zugspiel spielte, oder las, oder auch sich mit einer mechanischen Arbeit beschäftigte. Maria selbst hatte stets eine nützliche Arbeit vor und verstand derselben einen Anstrich von Zierlichkeit und Nettigkeit zu geben, der Auge und Herz erfreute.

Wenn sie so dasaß, eifrig an einer Nätherei arbeitend, vor sich das aufgeschlagene Arbeitskästchen von Polixander, in dem jedes einzelne Gerät schon von dem eigentümlichen Geiste der Besitzerin Zeugnis abzulegen schien, war es Franke zumute, als ob er einen Blick in eine vom mildesten Mondlicht erhellte Landschaft täte, alles so sanft, so rein, so still, und doch lässt das Bild die Vermutung zu, dass eine andere Beleuchtung es in noch strahlenderer Schönheit zeigen könne.

Mariens Gatte war ein Mann wie tausend andre. Franke konnte keine einzige Eigentümlichkeit an ihm bemerken, außer die traurigen und schrecklichen, die er bereits kannte. Bisweilen merkte man es ihm an, dass er getrunken hatte, dann war sein Auge glänzend oder matt, je nach dem Stadium des Rausches, seine Stimme stockte oder zitterte, sein Gang war unsicher und seine Behauptungen wurden mit einer Art von brutalem Trotz aufgestellt.

In solchen Stimmungen widersprach Maria ihm nie, sondern ging auf seine oft widersinnigen Ideen mit der Milde ein, die eine Mutter gegen ein krankes oder blödsinniges Kind zeigen würde. Selbst der Ton ihrer Stimme hatte dann etwas Beruhigendes und Baum pflegte gewöhnlich sich bald zurückzuziehen und seine Gäste der Unterhaltung seiner Gattin zu überlassen.

Dr. Franke hatte mehr als jeder andere gewisse Berührungspunkte mit Maria. Ein Arzt ist fast immer einigermaßen Freund der Familie, in der er einen Kranken behandelt, und das traurige Geheimnis, das er mit Marien teilte, gründete wohl einige Vertraulichkeit zwischen ihnen beiden. Nicht selten richtete sie eine rasche heimliche Frage an ihn, die Möglichkeit eines Rückfalls und die zweckmäßigste Behandlungsweise dabei betreffend, oder einen Blick des Einverständnisses, der mehr als einmal ein schnelleres Pulsieren des Blutes in den Adern des jungen Arztes erregte.

»Welch’ eine Frau«, sagte er sich selbst an jedem Abende, da er ihr ruhiges und edles Tun von Neuem beobachtet hatte, und ein Gefühl setzte sich in seiner Brust fest, das er ähnlich nie an sich selbst gekannt, noch auch an andern zu sehen Gelegenheit gehabt hatte.

»Liebe ich sie«, fragte er sich dann und er verneinte diese Frage mit großer Entschiedenheit.

Liebe, die Liebe, welche er bis jetzt kannte, war ein Gefühl, das der hohen Achtung, die Maria ihm einflößte, fast entgegengesetzt erschien. Alle Frauen, die er noch geliebt, waren Wesen, deren Gedankenwelt er bedeutend unter dem Niveau der seinigen gefunden, deren Willenskraft er nicht der Rede wert geschätzt. Schönheit hatte ihn angezogen und er hatte eine Zeitlang in dem Bewusstsein, der Mittelpunkt der Gedanken dieses oder jenes reizvollen Weibes zu sein, ein gewisses Glück gefunden und dieses hatte gewährt, bis ihm die Anforderungen der Geliebten an sein Herz und seine Zeit lästig, ihre Capricen langweilig geworden waren. –

Maria erschien ihm nicht wie ein Weib, wenigstens anders als alle Weiber, die er bis jetzt gekannt, und doch musste er sich sagen, dass in dem Wesen der schönen und edlen Frau eine echte weibliche Würde und Milde lag. Es war an einem Abend, da Herr Baum sich wieder in einem bedeutenden Grade der Trunkenheit befunden und nach einigen liebreichen Worten seiner Gattin taumelnd das Zimmer verlassen hatte. Schon vorher hatte Maria, den Zustand ihres Mannes erkennend, ihren beiden kleinen blassen Mädchen die Erlaubnis gegeben, ein eben in Hermstädt befindliches Puppentheater unter dem Schutze Walters zu besuchen. Als Herr Baum auf sein Zimmer gegangen, befand sich Franke mit seiner Gattin allein. Das Zimmer war von der Lampe mild erhellt.

Ein aufgeschlagener Flügel stand an der Wand, Rosendüfte durchzogen den traulichen Raum. Franke saß Marien zur Seite, das volle Licht der Lampe bestrahlte ihr schönes Gesicht und schuf einen glänzenden Reflex auf dem glatt gescheitelten reichen Haare.

Ihre Augen waren auf ihre Handarbeit gerichtet, aber Franke konnte bemerken, dass die feine weiße Hand, die die Nähterei hielt, bebte. Ein Gefühl unsäglichen Mitleids überrieselte sein Herz, wie eine weiche warme Flut. Er fühlte, dass Mariens Augenlider von Tränen schwer waren, obschon er es nicht sah, und leise seine Hand auf die ihrer Hände legend, die eifrig den Faden auszog und diese zarte warme Hand festhaltend, sagte er mit einer von Rührung bebenden Stimme:

»Maria, bedürfen Sie eines Freundes?«

Sie sah rasch und plötzlich zu ihm auf. Der Stahlglanz ihrer Augen war von einer Träne getrübt, die sich an der Wimper sammelte und dann, eine glänzende Perle, über die bleiche samtartige Wange rollte. –

Einem Impulse nachgebend, dem er nicht widerstehen konnte, beugte er sich schnell zu ihr nieder und trank in einem leisen Kuss den Tropfen, der aus der tiefsten Seele eines Wesens quoll, das vom Weibe nur die schöne Gestalt – keine seiner sonstigen Schwächen zu besitzen schien.

Sie legte mit einer einfachen und ganz natürlichen Bewegung ihren Arm auf die Lehne des Sofas, auf dem sie saß und bildete so eine leichte Schranke zwischen sich und ihm, die er zu überspringen nicht wagte, obgleich sie von seiner augenblicklichen Verirrung weiter keine Notiz zu nehmen schien.

»O Doktor«, sagte sie dann nach einem kurzen Schweigen, »Sie machen mir ein großes, großes Erbieten; was könnte ich in meiner, so eigentümlich schmerzlichen Lage wohl mehr und inniger wünschen, als einen Freund.«

Er blickte sie an, ohne sie noch weiter mit einem Finger zu berühren.

»Und wollten Sie, könnten Sie mir das erhabene Glück, die hohe Ehre gönnen, Ihr Freund zu sein?« fragte er mit fester Stimme.

»Sie haben Recht – es ist eine Ehre, der Freund eines Weibes zu sein, das den schweren Kampf mit dem Leben und seinen Verhältnissen kämpft; der Freund einer rechtschaffenen Frau muss seiner eignen Ehrenhaftigkeit und der Achtung seiner Umgebungen vollkommen sicher sein; er muss ein Mann sein und sich als solcher bewährt haben. Ob es aber ein Glück ist, ach lieber Franke, daran zweifle ich sehr. – Was kann Ihnen meine Freundschaft geben und wie viel dürfte sie von Ihnen fordern!«

»Fordern Sie, fordern Sie, teure Maria; es gibt kein Opfer, das ich Ihrem Glücke, Ihrem Frieden nicht mit Freuden brächte.«

Sie lächelte durch ihre Tränen.

»Ich bin wohl eine Törin«, sagte sie dann, »dass ich mich einem Gefühle hingebe, welches jedenfalls nicht ganz gefahrlos ist, der Freude an die warme Teilnahme eines gebildeten und guten Menschenherzens. Aber nicht wahr, lieber Doktor, Sie sehen in mir hoffentlich etwas Besseres als bloß eine leidlich hübsche Frau, Sie fühlen, dass ich ein Mensch sei, ein leidender, kämpfender, strebender Mensch, der sein Kreuz auf sich genommen nun mutig und hoffend den Weg zum Tempel des Friedens angetreten hat.« –

»Ich verstehe Sie nicht ganz, meine herrliche Freundin«, entgegnete er, »aber ich fühle, dass Sie ein Wesen sind, des Glückes ebenso bedürftig als würdig, und dass es eine Seligkeit sein muss, Ihnen von dem Glücke, das das Schicksal Ihnen versagte, ein Fünkchen geben zu können.«

Sie hatte wieder zu arbeiten begonnen und erhob bei seinen Worten ihren Blick von Neuem zu ihm. Ein göttliches Licht strahlte darin.

»Das ist ein schönes Wort, was Sie mir sagen, mein lieber Freund, des Glückes so würdig als bedürftig sein. Der ist nicht unglücklich, Franke, der des Glücks würdig blieb, und auch ich bin es eigentlich nicht, ich bin nur schwach und ermüde bis weilen bei der Last, die ich heimlich trage und die in der Tat doch eine recht schwere ist. Aber auch hier erkenne ich den Finger Gottes. Er, der die Last nach der Kraft abmisst, Er wusste, dass ich ermüden würde ohne eine Hilfe, und da gab Er mir in dem Arzt, dem ich gezwungen vertrauen musste, den Freund, der mir gern und liebevoll tragen hilft.«

Sie sagte das so einfach und doch war in jedem ihrer Worte etwas, das Frankes Herz wie ein elektrischer Schlag traf. Über jedes hätte er sich einen Kommentar erbitten, jedes einzelne noch Stunden lang mit ihr besprechen mögen.

Sie war indes aufgestanden und an das geöffnete Klavier getreten.

Er hatte sie noch nie musizieren gehört, und als sie leicht mit den Fingern über die Tasten glitt, war es ihm, als ob er zum ersten Male in seinem Leben Musik höre.

Sie spielte eine ernste, choralartige Weise und sang dann mit einer reinen, vollen Altstimme:

»Sei still, o Herz! Lern’ endlich, endlich schweigen,

Gib auf die Hoffnung, wahre Dir den Mut;

Du wirst umsonst Dein zuckend Beben zeigen,

Ein Lächeln nur erregt Dein rinnend Blut.

Es wogt der Menschenstrom an Dir vorbei

Dir ist kein Freund, kein liebender dabei.

Du hast geliebt! Du konntest einst entsagen,

Dein höchstes Heiligtum war Deine Pflicht.

Jetzt lerne einsam auch das Leben tragen,

Sei treu Dir selbst, Herz, und verzage nicht.

Sei treu, die Pflicht war Deines Lebens Stern,

So folg’ ihm denn und folg’ ihm froh und gern.

Zwar sind sie fern, die einst Dich ganz verstanden,

Es brachen Bande, die Du fröhlich schlangst,

Doch ist Dir noch die alte Kraft vorhanden

Mit der Du eisern einst Dich selbst bezwangst.

Was Du vermissest, ist ja nur das Glück,

Glückseligkeit trotzt jeglichem Geschick.

Verzage nicht, schau auf in jene Ferne,

Wo Sonnen sich um Sonnenbälle dreh'n,

Du wirst auf einem dieser gold'nen Sterne

Was Du geglaubt, gehofft, verwirklicht seh'n.

Der Erde nur gehöret ird'scher Schmerz,

Schau auf zum Licht, gedrücktes Menschenherz.« –

Sie schloss und stand auf, ein sanftes Lächeln, das fast etwas Kindliches hatte, schwebte über dem schönen Gesicht, als sie Franke die Hand reichend sagte:

»Nun, auf mein heutiges Gefühl passt das Lied, das ich sonst so gern sang, nicht mehr, denn ich habe ja nun einen Freund und kann das Glück genießen, mich auszusprechen und selbst auszuweinen.«

»Aber um Gotteswillen Maria«, sagte er mit bebender Angst, »gewähren Sie mir nur die eine Gunst, mir zu versprechen, dass, wenn der Anfall Herrn Baums sich erneuert, Sie seinen Rasereien nicht allein die Stirn bieten wollen.«

»Es kann mir nur ein Trost sein in jenen Stunden des Jammers, die gewiss wiederkommen werden, einen Freund zu haben, der mir mit teilnehmendem Herzen beisteht«, entgegnete sie mild, »aber Sie dürfen es mir glauben, lieber Franke, ich laufe meinem Gatten gegenüber keine Gefahr. Der Ton meiner Stimme, mein Blick üben auf ihn immer gleichen Einfluss, er mag gesund oder krank sein. Er hat mich so lieb und ist für die Erfüllung meiner Pflichten so dankbar, dass ich alles über ihn vermag, nur nicht ihn von dem Laster heilen, dem er seit seiner Jugend wahrscheinlich schon frönt und das ihn einem frühen und schrecklichen Ende entgegenführt.«

In diesem Augenblick hörte man die Klingel der Haustür, die Kinder kamen die Treppe hinaufgesprungen und hingen sich an den Hals der Mutter und Franke sah zum ersten Male, dass beide die Züge, das Auge, das Lächeln der Mutter hatten, nur dass ihre Gesichter übel gefärbt und die Züge wie zu eng angelegt erschienen. Draußen rief der Wächter die zehnte Stunde ab, und Franke nahm seinen Hut, küsste Marias Hand und ging nach seiner Wohnung.

Aus Jakobinens Fenster, das er jetzt schon kannte, schimmerte der bleiche Schein ihrer nimmer erlöschenden Kerze. –


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