Kitabı oku: «Ein Lebenstraum», sayfa 2
Drittes Kapitel.
Justizrat Delbruck biss sich in die Lippen und ein roter Fleck zeigte sich auf seiner Wange.
»Du wirst Dich an meine Freundlichkeit gewöhnen, Engelchen, und ich denke, die Zeit soll kommen, wo Du sie voll und ganz erwidern wirst. Das Glück ist ein bunter Vogel, der über uns schwebt. Seine glänzenden Federn tragen ihn gerade in eine solche Höhe, dass wir ihn sehen können; um ihn zu greifen, müssen zwei nach ihm jagen: einer, der sich noch mit Leichtigkeit in die Wolken erhebt, und ein anderer, der festen Fußes auf dem Erdboden steht und den gejagten Flüchtling mit sicherer Hand zu packen versteht; weißt Du, Lorchen, dass wir gerade so ein Paar wären?«
Er beugte sich und küsste ihren Nacken. Sie stand oder sprang vielmehr auf. Es war eine ganz unwillkürliche Bewegung und sie würde genau dieselbe gewesen sein, wenn ein Frosch die ungewöhnliche Dreistigkeit gehabt hätte, auf ihren Hals zu hüpfen. Er fasste die kleine Hand und flüsterte, ihr in die Augen sehend:
»Fürchtest Du mich, Mädchen?«
Sie nahm sich zusammen:
»Nein, lieber Onkel, Sie haben mir nur Freundliches und Gutes erwiesen, wie sollt’ ich Sie fürchten, aber ich glaub’, ich hab’ einen natürlichen Widerwillen, mich anfassen zu lassen. Es ist recht dumm von mir; aber wenn Sie es lieber sein lassen wollten, Onkelchen, es wäre so freundlich von Ihnen; sagten Sie doch neulich, als wir von Fröschen, Spinnen, Raupen und Mäusen redeten, solche Gefühle könne man nicht durch Verstandesanstrengung überwinden, sie lägen eben nur in den Nerven.«
»In der Tat sehr schmeichelhaft!« sagte Delbruck nun auch aufstehend, und ein finsterer grollender Blick fiel auf das arme Kind und durchzuckte sie bis ins tiefste Herz. Plötzlich aber und rasch sich überwindend, lächelte der Justizrat, fuhr mit dem Tuch über die bleiche Stirn und sagte freundlicher als je:
»Fort, kleines Mädchen, an Deine Stickerei jetzt, damit die Tante nicht schelte!« und als Lorchen zur Tür hinausgeschlüpft, setzte er Achselzuckend hinzu:
»Ich glaube, ich verfalle in schülerhafte Dummheiten dieser heillosen Naivetät gegenüber. Pah! Rom ist nicht in einem Tage gebaut.«
Oben in Lorchens Stübchen stand Tante Selma und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. Großer Gott! Wie war das Kind ihrer Schwester, das arme Komödiantenkind, in der Erziehung vernachlässigt! Da hing noch an der Zimmertür das weiße Gazekleidchen vom gestrigen Ball, da auf dem Stuhle lagen die Atlasschuhe, der Blumenkranz war ohne alle Sorgsamkeit auf den Tisch geworfen. In der Tat, des Zimmerchen gemalt, hätte ein hübsches Seitenstück zu dem berühmten Kupferstich »Studentenwirtschaft« abgeben und füglich die Unterschrift:
»Mädchenwirtschaft«, tragen können. Die blühenden Blumen am Fenster, der Ballputz aller Orten, ein mächtiger, mit einem weißen Tuch etwas nachlässig bedeckter Stickrahmen in der Ecke, und an der hintersten Wand das Bettchen, noch ungeordnet, so weiß aber und so umweht von einem Hauche jungfräulicher Reinheit. Die Morgen-Schuhchen vor demselben von grünem Maroquin, klein und schmal gleich Philinens berüchtigten Pantoffelchen, und auf dem kleinen Tisch am Kopfende die Bibel, in der die Bergpredigt aufgeschlagen und das schöne Wort Christi:
»Selig sind, die reinen Herzens sind«, mit einem Rotstift angezeichnet war; alles dies bildete ein Ganzes, zwar von entzückender Eigentümlichkeit, doch keineswegs geeignet, das Herz einer ordentlichen Hausfrau zu erfreuen. Die Justizrätin war aber eine solche und zwar mit allen Eigenheiten einer kinderlosen Dame, die in der Welt keine andere Sorge und Rücksicht kennt, als die für ihre Möbel und Kleider.
»Lorchen! Mädchen! Um Gottes willen, Kind! Kind! Was soll daraus werden?« sagte sie zu der Eintretenden im Tone eines wahren Seelenschmerzes.
»Ich kann gar nicht anders, ich muss Dich sehr schelten, obgleich Du das Kind meiner einzigen verstorbenen Schwester bist, wenn Du nicht anders, ordentlicher, viel ordentlicher wirst.«
Die Tochter des Schauspielers blickte mit höchster Verwunderung um sich, sie wusste ganz und gar nicht, wie sie es machen sollte, ordentlicher zu sein.
Mit vieler Geduld zeigte Tante Selma ihr nun, in welcher Weise sie ihr Ballkleidchen falten und in ein feines bläuliches Tuch eingeschlagen, in ein Gefach des Schrankes legen müsse, sie bog die Zweige des Rosenknospenkranzes zurecht und tat ihn in den dazu passenden Karton, stäubte die Schuhe aus und hüllte sie ebenfalls in Papier, und sie tat dies alles mit dem Geschick und der Zierlichkeit einer Pariser Kammerjungfer. Lorchen sah zu und wenn sie überhaupt mit einem Gedanken an die ganze Prozedur dachte, so war es der, welchen das französische Sprichwort ausdrückt:
»Tant de bruit pour une omelette!«
Wie klein und wie kleinlich erschien ihr der Eifer und das Bestreben der Tante, diesen Sachen Dauer zu geben. Es schien ihr, als ob alles um sie her keine andere Bestimmung habe, als dem Augenblick und seiner Eingebung zu dienen. Eine Freude, die nicht gleichsam aus den Wolken auf sie nieder taute, war ihr keine Freude, und die Vorbereitungen für das tägliche Leben kamen ihr wie etwas zweckloses vor, weil dies alles sich ja durchaus finden müsse, weil es ja das Unerlässliche, das sich von selbst Verstehende sei. Als die Justizrätin fertig war, klopfte sie völlig zufriedengestellt dem jungen Mädchen auf das Köpfchen und sagte ganz erheitert:
»So musst Du es machen, Lorchen, gerade so wie jetzt; dann werden sich Deine Sachen lange erhalten. Wer seine Kleider ehrt, den ehren sie wieder. Immer wohlgekleidet sein, ist ein großer Vorzug an einem Mädchen, eine Tugend, eine wahre Kunst sogar. Weißt Du, dass ich mein gestriges amaranthfarbiges Kleid schon so lange habe, als ich verheiratet bin? Es war anfangs rosa, ein schöner, schwerer Stoff; als ich’s müde und matt getragen, ließ ich’s färben und moirieren und nun – aber Kind, wo hast Du die Blumen her?«
Lorchen erzählte und die Tante schüttelte den Kopf.
»Die kann kein anderer Mensch als Kandern geschickt haben, Herr von Kandern, weißt Du, mit dem Du den zweiten Walzer tanztest. Ich erzählte ihm, dass Du – hm! Lorchen, besser ist’s am Ende doch, wenn wir ihm die Blumen abschicken.«
»O nein, Tante Selma, bitte, nein! nein! Die Blumen sind so himmlisch schön, bitte, gestatte mir, sie zu behalten. Es ist, als wenn mit ihnen der ganze Frühling eingezogen wäre, als wenn der Schnee draußen nur zum Spaß fiele und der Sommer mir hier im Herzen wohne.« –
»Frau Justizrätin, der Fleischer«, sagte die Köchin, den Kopf durch die Tür steckend. Tante Selma schlüpfte hinaus, ihre häuslichen Geschäfte zu besorgen. Die Blumen waren von ihr vergessen!
Viertes Kapitel.
Vierzehn Tage später saß Lorchen am Fenster der Wohnstube. Vor ihr stand der Stickrahmen, aber sie hatte sich nur über denselben gebeugt und betrachtete das Blumengewinde, das ihre Hand in der Tat mit Geschmack und Geschick auf dem dunkeln Grunde hervorgerufen hatte. Wie wenig glich es dem, was sie hatte arbeiten wollen. Wie ein Blütenstrauß aus Edensgarten hatte ihr die Zeichnung vorgeschwebt, als sie sie mit wenigen Kreidestrichen auf das Tuch geworfen. Jetzt sah sie Wollfäden grob und bunt, nur wenn sie weit zurücktrat, fand sie in dem vollendeten Werk einen Schimmer von dem, was sie zu schaffen sich vorgesetzt hatte. Sie seufzte leise.
»Ist es mit allem so, was man im Leben auszuführen versucht? Wie oft von meiner frühsten Kindheit an, ist mir’s wie heute gegangen?« –
Lorchen war eine geschickte und geniale Zeichnerin, und Stickereien von ihr in bunter Wolle und Seide waren vor Jahren schon in einer Kunstausstellung gewesen, mit einem daran gehefteten Zettel:
»Angefertigt von der zehnjährigen Leonore Arnold, Tochter des Schauspielers Arnold in Breslau.«
Sie gedachte jener Tage und das Bild ihres Vaters trat plötzlich mit einem Glanz vor ihre Seele, der ihr geistiges Auge blendete.
Sie hatte ihm lange, lange nicht geschrieben, seit dem Tage vor dem Balle nicht, sein letzter Brief lag noch unbeantwortet in ihrer Brieftasche. – Zwar kannte sie ihn auswendig, aber dennoch las sie ihn wieder, und jedes Wort regte von neuem das leise Bangen in ihr auf, das in ihrem Herzen blühte, aber wie die Orchis und die Viole seinen Duft nur in Nacht und Einsamkeit verstreute. Sie las:
»Leonore! – Wie mir das seltsam, fast schaurig ist, Deinen lieben Namen hier auf das Papier zu schreiben, und mir und Dir zu versichern, dass diese Zeilen für Dich bestimmt sind. Mein Kind! Geliebtes Herz, das noch vor so kurzer Zeit neben mir stündlich ein neues Blatt einer Gold- und Purpurblüte entfaltete, wo weilst Du nun? O dass die Erinnerung an mich Dir keine Trauer verursachte, dass Du glücklich und zufrieden in Verhältnissen lebtest, die Deiner Lebens-Entwickelung zuträglicher und natürlicher sind, als die an der Seite Deines Vaters. Ich stelle mir das Haus Deines Onkels dem sehr ähnlich vor, in welchem Deine Mutter einst erblühte, und Deine Tante Selma war damals, als eine tiefe glühende Leidenschaft Deine Eltern vereinigte, ihrer schlichten, freundlichen Mutter so ähnlich, als ein sechszehnjährig Mädchen einer fünfzigjährigen Matrone nur sein kann, und die Frau ist’s ja, die dem Hause seinen Geist, seine Färbung gibt.
Möchtest Du, mein süßes Kind, eine wahre Tochter sein. Lerne von ihr die Seligkeiten und Pflichten der Tochter einer wackern Bürgerfamilie. Deine Mutter verstand und übte sie auch und es war ihr heiligster Wunsch, sie Dich zu lehren.
Deine Mutter. Still’ Erinnerung, lerne schweigen, bebendes Herz! Deine Mutter war eines jener engelhaften Wesen, die nur durch eine einzige Schwäche ihre irdische Abkunft dokumentieren, durch ihre Schwäche gegen den Mann, den sie mit ihrer Liebe beglücken. O meine Leonore, nie genug kannst Du das Andenken an Deine Mutter ehren, nie genug es in Deinem Herzen befestigen. Wenn Du dort, in dem Kreise, wo Du jetzt lebt, ein hartes und liebloses Urteil über sie hört, so möge es Dich eine Wahrheit lehren, die das junge Herz sich nie früh genug zu eigen machen kann, die Wahrheit nämlich: dass im Kreise der Gewöhnlichkeit kein ungewöhnlich erhabener Charakter seine Anerkennung findet. Im Hause Deiner Großeltern existierte einst ein wohlgetroffenes Bild Deiner Mutter, frage danach und suche es Dir zu verschaffen, Du hast wohl ein Recht auf das heilige Andenken.
Leonore! Könnte ich Dir nur eins und das Eine fest einprägen, so fest, dass es in Deinen jetzigen Umgebungen durch keine Formen und Rücksichten verdunkelt und übertüncht würde. Die Liebe ist des Weibes höchste Vollendung, ihre einzige Lebensbestimmung, der Inbegriff aller ihrer Tugenden. Halte an diesem Grundsatze fest in allen Lebensverhältnissen, lass’ Dich nicht blenden durch sophistische Reden von Pflichten, die das Herz nicht begreift. Sei immer wahr gegen Dich selbst, und Du wirst den Mut haben, auch wahr gegen die Welt zu sein. Die Menschen der Alltagswelt sind mit ihren Aktionen und Reden von Tugend und Trefflichkeit viel mehr Schauspieler, als wir, die wir die Bühne zum traurigen Lebensberuf gewählt haben. –
Aber was will ich nur, mein Kind, welchen Predigerton nehme ich gegen Dich an? Sei unerfahren glücklich, gläubig froh, das ist die beste, die einzige Weisheit Deiner Jahre und Deines Geschlechts. Wenn Du Dich nach mir bangen solltest, so denke, dass, ob ich Dir auch fern bin, Dein Vater doch lebt und Dich liebt.
Arnold.«
Die Kleine faltete den Brief zusammen und legte ihn in ihr Kästchen.
»Armer, lieber Vater«, dachte sie, »von einem Leben, von seiner Gesundheit schreibt er kein Wort. Ich denke aber, nun wird Tante Selma auch endlich erlauben, dass ich ihm antworte. – Das Bild meiner armen Mutter findet sich nicht! Wo es nur ein mag? – ›Die Liebe soll des Weibes höchste Vollendung sein‹ – was meint er nur damit? Was ist Liebe überhaupt?«
Die Justizrätin war ins Zimmer gekommen und besah ernsthaft Lorchens Stickerei.
Das junge Mädchen hob das Köpfchen zu der Schwester ihrer Mutter empor und fragte, dem Strom ihrer Gedanken Worte gebend:
»Tante Selma, was ist Liebe?«
»Gott steh’ mir bei!« entgegnete die wackere Frau, »hat man jemals im Leben so etwas von einem fünfzehnjährigen Mädchen gehört!«
»Aber Tantchen, mein Vater schreibt doch –«
»Ich wollte, Dein Vater schriebe lieber gar nichts, als solchen Unsinn. Es ist eine Sünde und Schande.«
»Aber Tantchen, Du kannst mir doch wenigstens sagen, was Liebe ist, und wäre sie auch das Schrecklichste auf der Welt. Ich weiß doch, was Stehlen ist und Morden, und in der letzten Woche beim Konfirmations-Unterricht hat uns der Herr Superintendent auch erklärt, uns Mädchen allein und den Knaben wieder allein, was Ehebrechen ist, warum soll ich denn nun nicht wissen, was lieben ist?«
Die Justizrätin nahm mit zwei Fingern einige Staubkörnchen und Wollfädchen von der vollendeten Stickerei und sagte:
»Ach lieben! Lieben ist dummes Zeug. Arme Mädchen überhaupt müssen gar nicht von lieben reden, es schickt sich nicht, und daraus kommen dann solche Romanengeschichten, wie die mit Deiner sel’gen Mutter. Wenn einmal ein anständiger Mann nach Dir kommt, Lorchen, ein Mann, der sein Brot hat, der es ehrlich meint und zu Deinem Stande passt, den kannst Du dann lieben in Gottes Namen, ich liebe meinen guten Justizrat auch, bei einer verheirateten Frau ist das Pflicht und Schuldigkeit. Junge Mädchen denken nicht an solche Dinge. Geh’ in Onkels Zimmer und stäube die Möbel ab, Onkel will, dass Du das tust und nicht der Schreiber.«
»Kann ich nicht warten, Tantchen, bis der Onkel im Geschäftslokal ist?«
»Häusliche Arbeiten müssen immer zur rechten Zeit getan werden. Punkt zehn Uhr muss Onkels Zimmer ganz aufgeräumt sein, ein Viertel auf elf beginnt eine Empfangszeit!«
Die Kleine nahm die verschiedenen Wischtücher und Federbesen, welche bei der Justizrätin zum Abstäuben gebraucht wurden und ging mit jenem leisen Grauen, das sie durchaus nicht überwinden konnte, wenn sie gezwungen war, mit dem Onkel allein zu sein, an ihr Geschäft.
Fünftes Kapitel.
Den 17. Februar war Leonorens Geburtstag, der erste, den sie fern vom Vater erlebte, der ihn stets zu einem Festtage für sein Kind gemacht. Bis zum vorigen hatte sie die Schule besucht und eine Schar lustiger Altersgenossen hatte mit ihr an dem fröhlichen Tage gespielt und sie beschenkt. Im Hause des Onkels wusste niemand davon. Die Tante war auf kurze Zeit verreist, sie machte einen Besuch bei einer der reichen adeligen Familien, deren Mandatarius Justizrat Delbruck war. Lorchen hatte ihr den ganzen Schmuck einpacken müssen. Die vielbewunderte Uhr mit dem Emailgehäuse und der Erbsenkette, auch die Brosche, die wie eine gelbe Weintraube mit goldenem Blatt aussah und das Johannisbeeren-Ohrgehänge. Die Kleine hatte alle diese Herrlichkeiten beim Packen zum ersten Mal in den Händen gehabt und mit aufrichtigem Entzücken bewundert. Der Onkel, der dabei gestanden, hatte sie leise flüsternd gefragt, ob sie auch so schöne Ohrringe haben wolle?
»Ich habe ja keine Ohrlöcher, Onkelchen«, antwortete sie lachend, »und zudem in meinen eigenen Ohren könnte ich die reizenden Dingerchen gar nicht sehen und ich sehe sie sehr gern. Sie gefallen mir über alles, denn sie erinnern mich an die Zeit, da meine sel’ge Mutter lebte und ich noch ganz, ganz klein war. Da hing ich mir auch bald Kirschen, bald Johannisbeeren so um die Ohren, dass sie unter dem Ohrläppchen gerade wie solche reizende Bommelchen aussahen.«
Der Onkel hatte bei diesen Worten sein allerhässlichstes Gesicht gemacht, das Gesicht, bei dem es Lorchen immer ganz kalt über die Haut lief.
Am Geburtstagsmorgen stand sie vor dem Spiegel und betrachtete ihr eigenes Gesichtchen. Es sah so traurig aus, dass sie selbst darüber hätte weinen können. Sie war so allein auf der Welt! Wie weit entfernt war sie vom Vater! dem einzigen Menschen, der sie recht lieb hatte, und die Mutter! O wie lange, wie lange schon schlief die den ewigen Schlaf! Sechszehn Jahre war sie alt. Ein ganz, ganz erwachsenes Mädchen. Was kannten und verstanden andere schon in dem Alter? – Kochen und Glätten, und Französisch und Oberhemden nähen. Lorchen kannte nichts als bunt sticken und Tante Selma sagte ihr jeden Tag, dass das für ein Mädchen gar nicht notwendig sei. Auch zeichnen kannte Lorchen allerdings, sie porträtierte mit bunter Kreide recht gut und hatte besonders das merkwürdige Glück, jedes Gesicht so zu treffen, dass man es auf der Stelle erkannte, und sie bossierte auch in Wachs und Ton. Seit sie aber fünf Monate bei Tante Selma war, wusste Lorchen recht gut, dass das alles gar nichts sei, und ein ordentlich genähtes Hemde viel mehr für den Wert und die gute Erziehung eines Mädchens spreche.
Sie ging ans Fenster, ein eisiger Regen schlug gegen dasselbe und die Tropfen blieben in Form kleiner Dolche und Nadeln auf den Scheiben kleben. Ein garstiger Südwestwind fegte die Straße hinauf und ließ die vom Schneewasser gebildeten Pfützen ordentlich Wellen schlagen. Wo der Schnee noch nicht zerschmolzen war, sah er wie schmutziger Sand aus, tausend Füße hatten ihn zerstampft und zertreten, und wie die Erde, so trug auch der Himmel sein hässlichstes mistfarbigstes Kleid. O einen Sonnenblick, einen einzigen Sonnenblick, Lorchen hätte für einen lachenden Sonnenstrahl einen Strahl ihres Blutes geben mögen. Sie lehnte die Stirn an die Scheiben und weinte, das Herz erzitterte in ihrer jungen Brust unter den Tränen, wie eine knospende junge Birke erzittert unter dem Schauer eines Gewitterregens. Sie setzte sich, um recht ausweinen zu können, auf den Lehnstuhl der Tante, der am Fenster stand, und drückte die heiße Stirn in seine weichen Kissen, und da geschah ihr, was Kindern oft zu geschehen pflegt, sie weinte sich in den Schlaf.
Die schweren Flechten sanken allmählich tiefer und tiefer in ihre Stirn und zogen die Nadeln mit sich. Das lange Haar löste sich auf, rieselte in weichen Wellen um Schläfe und Schulter und lag in üppigen Ringeln ihr im Schoße. Die kleinen Händchen ruhten geöffnet auf der Seitenlehne des Stuhles, unter den geschlossenen Lidern drangen noch einzelne Tränenperlchen hervor und rollten langsam über die Pfirsichwange. Lorchen schlief fest und träumte süß, obgleich sie weinte. Ihr war’s, als ob die Wolken am Himmel verschwänden und die Sonne in aller Klarheit auf die niederlächle. Aber ihr Strahl hatte nichts Blendendes; mit offenen Augen konnte sie ins göttliche Sonnenantlitz schauen und da sie recht hineinblickte, war’s gar nicht die Sonne, sondern ein liebes, schönes Menschengesicht, das mit dem Ausdruck liebevoller Teilnahme sich über sie beugte. Augen, sanft und kühn, tauchten ihren leuchtenden Strahl in die ihrigen und frische Lippen näherten sich ihrer Stirn wie zu einem Kusse. Sie wollte sich verschämt abwenden, aber wie sie im Schlafe sich mühte, den Kopf zu bewegen, zerriss sie seine bleierne Fessel und sah hell erwacht in ein bekanntes schönes Menschengesicht. Baron Sigmund von Kandern beugte sich über die Stuhllehne und der Ausdruck seiner samtschwarzen Augen war ganz so liebreich, als er Lorchen im Traum erschienen. Sie erschrak auch eigentlich gar nicht, und nur als Kandern sichtlich errötend von ihr wegtrat, fühlte sie in ihrem Herzen einen leisen süßen Schauer, ob aber vor Freude oder Schreck, das hatte sie nicht entscheiden können und wenn ihr Leben davon abgehangen.
»Ist der Justizrat Delbruck zu sprechen?« sagte nach einer Pause von mindestens zehn Minuten Herr von Kandern endlich.
Lorchen antwortete kein Wörtchen, sondern klingelte und trug der eintretenden Christiane auf, den Herrn hinaufzurufen. Einige Minuten später stand dieser im Zimmer und sah auf die beiden Anwesenden mit einem Blick, unter dessen Eisspitze Kandern seine Ruhe und Sicherheit wiederfand und Lorchen in ein angstvolles Starren verfiel.
»Das Fräulein ist wahrscheinlich unwohl, Herr Justizrat«, sagte Kandern, »ich fand sie auf diesem Stuhle mit aufgelöstem Haare eingeschlafen und leise im Schlafe weinend.«
»Was fehlt Dir, Leonore?« fragte der Hausherr mit einem neuen Dolchblick auf das Mädchen.
»Ach Onkelchen, mir fehlt nichts, eigentlich nichts, ich weinte nur weil – weil ich heute sechszehn bin und – und keine Mutter mehr habe, und der Vater nicht geschrieben hat – und ich – –«
Hier brach von neuem ein Strom von Tränen gewaltsam aus ihrer Brust hervor, sie schlug die Hände vor die Augen und ließ sich in den Stuhl niedersinken, ohne das Schluchzen bemeistern zu können.
»Ach Dein Geburtstag ist heute, Mädchen«, sagte der Justizrat es versuchend, ihre Hand von den Augen zu entfernen. »Sieh! Sieh! Und den wird man ja wohl zelebrieren müssen.«
Kandern hatte anfangs diesen kleinen Umstand überhört, ein unsägliches Mitleid mit dem verwaisten jungen Mädchen, das ihm neben dem übel berüchtigten Onkel wie ein Vögelchen neben einer Klapperschlange erschien, erfüllte seine Brust, und er wusste es dem Justizrat Dank, dass er des Geburtstages erwähnte. Sein Geschäft mit Delbruck währte nur kurze Zeit und er flog eiligst in seinem Gig durch die schmutzigen Straßen von Laden zu Laden, etwas recht Schönes für Leonoren auszusuchen, hundertmal die Ärmlichkeit und Erbärmlichkeit des kleinen Nestes verwünschend.
Lorchen aber setzte sich nieder, als sie allein war, und schrieb an den Vater:
»Ich habe so lange und so sehr geweint, mein Vater, bis ich einschlief, weil ich heute an meinem Geburtstage keinen Brief von Dir erhalten. – Ach, ich bin traurig, ich fürchte, Du bist krank, denn vergessen hast Du Dein Kind nicht, Deine Leonore, die Tochter Deiner Anna.
Ich darf Dir nicht oft schreiben, mein Vater, Du weißt das ja schon. Man hasst und schilt Dich hier und möchte mich glauben machen, es sei gut für mich, wenn ich Dich verleugne. Sie haben ja keine Kinder, Onkel Delbruck und Tante Selma; können sie da wissen, wie Vater und Kind mit Herz und Leben ineinander gewachsen?
Man sagt, ich würde hier gut erzogen. Tante Selma ist eine ganz musterhafte Frau und sie zeigt mir alles und lehrt mich, was sie selbst kann. Ich bin nur etwas ungeschickt und unachtsam und die Tante ist nicht so sehr geduldig. Ich habe schon sieben Oberhemden genäht, die Tante selbst meint, für eine Anfängerin mache ich es ganz gut und bei der Wäsche verstehe ich schon alles. – Es ist ausnehmend schön im Hause der Tante, alles hat sie am Schnürchen, und in der Putzstube, die im Winter aber gar nicht geheizt wird, sind Palisander-Möbel mit Perlmutter ausgelegt und Vorhänge von Tüll und Seidendamast. Ich denke aber manchmal an unsere kleinen Zimmerchen mit gemieteten Sachen und wie Du immer zu sagen pflegtest: Lorchen, Du hat das Talent Deiner Mutter geerbt, jeden Raum wohnlich und gemütlich zu machen. – Im Winter sitzt Tantchen, wenn nicht Gesellschaft sich angemeldet hat, in einem ganz kleinen Stübchen und da wird auch gespeist. Sie liebt keine Zimmerblumen, hat kein Vögelchen, keinen Hund – ach Väterchen, was macht nur unser lieber guter Allard? – Ich träumte einmal, er sei tot und konnte mich lange, lange nicht beruhigen. Du hast nun wieder eine Frau, mein Vater, pflegt sie Dich auch gut, wenn Dein Herzkrampf eintritt? Grüß sie von mir, sie ist gewiss gut, weil sie Dich lieb hat.
Ich bin eine schlechte Briefschreiberin, mein Vater, mein Herz ist so voll, so voll, ich hätte Dir ganze Geschichten, nein, Bücher zu erzählen und in der Feder da friert’s ein. Manchmal find’ ich Gedichte in Onkels Bibliothek, von denen mir’s vorkommt, als hättest Du die für mich oder ich für Dich gemacht, Gedichte so voll Sehnsucht nach dem entfernten Geliebten, dass ich nur ›Vater‹ zu dem Worte beizudenken habe, um es ganz und gar passen zu lassen. O Du lieber, Du teurer Vater, schreibe mir nur bald, damit ich Deiner Gesundheit wegen mich nicht ängstigen darf. Gott segne Dich! Ich küsse jeden Finger Deiner schönen bleichen Hand und jede Locke Deines lieben Hauptes, ach, wer mag Dir jetzt schmeicheln, da Dir so fern, so fern ist Deine Leonore.«
Sie war eben fertig geworden, als der Onkel eintrat. Christiane folgte ihm mit Kuchen und Kaffeegerät. Alles sah festlich aus und Lorchen fühlte wohl die große Freundlichkeit, die darin lag, dass er, der Geschäftsmann, der sich fast nie die Zeit nahm, mit der Tante Kaffee zu trinken, jetzt ihr, dem Kinde, eine seiner kostbaren Stunden schenken wollte; aber wirklich, sie hätte ihm das Opfer gern erlassen, sie war im Grunde nicht so ungern allein, der Onkel war viel zu klug für sie und zudem hatte sie die törichte, aber unüberwindliche Furcht, dass er ihr die Hand aufs Knie, auf den Nacken, unters Kinn legen würde.
Sie saßen noch nicht fünf Minuten zusammen, als Baron Kandern gemeldet wurde.