Kitabı oku: «Das Meer am 31. August»
Jürgen Hosemann
Das Meer am 31. August
»du sollst nicht bedauern; wie kurz die Tage dauern die Verzauberung ist lang.«
Biagio Marin
»Alles ist einzigartig. Nichts geschieht mehr als ein Mal im Leben (…) Nichts wiederholt sich, alles ist noch nie dagewesen.«
Edmond de Goncourt / Jules de Goncourt
Wann wird das Licht kommen, und wie? Wird es sich als heller, sich ausbreitender Fleck am Nachthimmel zeigen? Oder wird es sich aufs Meer legen, ganz sanft? Wird ein Strich aus Licht plötzlich zum Horizont werden und das Meer vom Himmel trennen?
Aber das Licht kommt nicht, es ist einfach da.
Vielleicht waren es die Rufe, die mich einen Moment abgelenkt haben, dann der kleine Lastwagen der Müllabfuhr, der mit kreisenden Warnlichtern hinter mir vorbeigefahren ist. Vielleicht habe ich ein paar Sekunden zu lang überlegt, was diese Rufe bedeuten sollten und von wo und wem sie kamen, halblaut, nicht weit entfernt. Eine einzelne Stimme, als riefe da jemand sich selbst.
Als ich wieder nach dem Licht schauen will, ist es schon da. Es ist 5 Uhr 15. In einer scheinbaren Höhe von vielleicht dreißig Grad über dem östlichen Horizont … ein Streifen veränderter Farbigkeit, ins Violette oder Bräunliche spielend.
Ist das das Licht, oder bilde ich es mir nur ein? Es ist ja auch vorher nicht dunkel gewesen, im Westen der Mond, an Land die orangefarbenen Lichter der Strandpromenade. Sind nicht einfach meine Augen überfordert?
Als habe jemand das Schwarz um mich herum verdünnt. Ich möchte die Hand ausstrecken, um zu fühlen, ob die Luft nun anders ist. Ob das Gewicht der Dunkelheit abnimmt.
5 Uhr 21, jetzt deutlicher: eine schwarze, an den Rändern schwach leuchtende Scheibe, die im Nordosten über der Küste schwebt.
Etwas bewegt uns alle über die Grenze von Tag und Nacht.
Ich kann zusehen, wie die Dunkelheit sich zurückzieht, weiter an Boden verliert.
Das ist keine Scheibe, das ist der nach oben offene Himmel. Dort, wo er schon heller ist, erscheint er geriffelt wie eine Wasserfläche, über die der Wind streicht, ein zweites Meer.
Wie schnell es hell wird. Ich spüre die Drehung der Erde.
Ich kann jetzt deutlich die Küste auf der anderen Seite der Bucht sehen, ein mittleres Grau, über dem ein helleres Grau liegt. Darüber Rosa, Orange und ein fast grünlicher Ton und noch höher das in den Weltraum fliehende Schwarz.
Die Lichter von Triest wie die glimmenden Reste eines Feuers, das die Nacht über durchgebrannt hat.
Alles da?
Nur über mir hängt noch die Finsternis wie eine Regenwolke, die unten in Schleiern ausfranst. Ein schwarzer Regen aus Nacht.
Es war eine Männerstimme, die ich gehört hatte, vielleicht einer der Müllmänner, die den kleinen Lastwagen zu Fuß begleitet hatten. Aber was hatte er gerufen?
5 Uhr 45. Das Meer ist längst da. Aber ist es schon wach, schon ausgeschlafen? Oder räkelt es sich noch träge unter seiner grauen Decke?
Ein Schiff, das seinen Weg zurück in die Nacht zu suchen scheint, wie ein undeutlicher, schwach beleuchteter Traum.
Als ich an diesem Morgen ans Meer kam, war es nicht allein. Auf dem Wellenbrecher, der von der Strandpromenade etwa hundert Meter ins Wasser hinauslief, fotografierte sich ein junges Paar, das der Blitz immer wieder aus der Dunkelheit riss. Ein Jogger, der so schnell verschwand, wie er gekommen war. Und natürlich waren auch die beiden Radlader schon wach, die leuchtend und lärmend den Strand planierten und für den Tag herrichteten.
Als das Paar den Wellenbrecher verlassen hatte, ging ich selbst hinaus. Es war 4 Uhr 45, Ebbe, und um mich herum lag eine undeutliche Landschaft aus Sandbänken und silbern schimmernden Prielen, der Wellenschlag nicht stärker als der eines großen Sees. Der Mond, abnehmend, aber fast voll, stand noch hoch am Himmel und hatte im Westen das Wasser in eine große Eisfläche verwandelt. Ein leichter, gleichmäßiger Wind drückte aus der entgegengesetzten Richtung, wo Slowenien lag und dahinter die unüberschaubare Landmasse des südöstlichen Europas. Darüber schienen sich zwei tiefstehende rötliche Sterne langsam nach oben zu arbeiten.
Ich blieb eine halbe Stunde an der Spitze des Wellenbrechers. Vom Meer kam das konstante Motorgeräusch von Fischerbooten, deren Lichter kaum von denen der Küste im Osten zu unterscheiden waren. Am Strand fuhren pausenlos die beiden Radlader herum, ihre zahlreichen Scheinwerfer wie suchend auf den Boden gerichtet. Ich hörte deutlich das ungeduldige, fast böse Aufbrummen der Motoren, und als sie näher kamen, konnte ich die warmen Abgase riechen, die der Wind zu mir hinaustrug.
Als mir kalt wurde, ging ich langsam zum Land zurück. Auf halbem Weg lag zwischen den seitlich aufgeschütteten Felsbrocken etwas, das aussah wie ein abgefallener Auspuff oder Weltraumschrott. Der Auspuff eines Raumschiffs, frisch vom Himmel gefallen. Ich hatte das Teil beim Hinausgehen nicht bemerkt, als habe es die Nacht soeben erst freigegeben. Ich trat näher und bewegte es vorsichtig mit dem Fuß, wie etwas, bei dem man sich nicht sicher sein kann, ob es noch lebt oder irgendeine Gefahr davon ausgeht.
Allein in der Mitte des Wellenbrechers fühlte ich mich plötzlich wie ausgesperrt, als gäbe es nicht nur das Zimmer im Hotel Eliani nicht, in dem meine Frau und meine Tochter noch in tiefem Schlaf lagen, sondern als hätte ich gar kein Zuhause mehr. Als hätte ich meinen Schlüssel verloren oder sogar absichtlich weggeworfen, mit dem ich wieder in die alltägliche Welt zurückkehren konnte. Als würde ich, wenn ich irgendwann von hier wegging, niemanden mehr finden, der mir die Tür aufmachte.
Dann war das Licht gekommen.
Ist das nicht der Tag von gestern?
Irgendwie beginnt der Morgen anders, als ich erwartet habe. Am Strand, der sich links des Wellenbrechers erstreckt, geht es zu wie auf einer Baustelle: ein Lastwagen, der mit einem Greifarm den Schlick aufnimmt, den die Radlader noch immer zusammentragen … ein Traktor, der mit einem großen Rechen den Sand kämmt, der Fahrer wie unbeteiligt im fahlen Licht seiner Kabine.
Auch das Meer ist anders, als ich erwartet habe. Ich sehe eher eine hirngraue Masse, die sich langsam und brummend in sich bewegt, ein träges, riesiges Lebewesen, das seine Kräfte zu sammeln scheint und irgendwann das Land verschlingen wird, von dem aus ich es beobachte, alles Land. Ich kann seine Gleichgültigkeit spüren, sein Desinteresse an allem, was an seinen Rändern geschieht, sein Desinteresse an überhaupt allem, einschließlich seiner selbst.
Ich bin erst bis zu den Knöcheln im Tag, und dann das. Etwas hat meine schlechte Laune in mir geweckt, bevor ich selbst ganz wach bin, meine Unsicherheit, meine Ängste.
Oder nervt dich einfach das Dröhnen der Fischerboote, die irgendwo da draußen herumkreuzen? Die Dieselschwaden, die schwer über dem Wasser zu liegen scheinen, und der faulige Geruch dessen, was die Ebbe am Strand freigelegt hat?
Das ist das Meer?
Ein Licht wie das eines Büros, in dem ich zu lange gesessen habe.
ich beginne den missglückten tag
Was hast du denn erwartet, eine unbeschädigte Stille und Luft wie gerade entstanden, frisch wie soeben verdunstetes Wasser?
Enttäuscht dich das Meer? Hält es nicht, was es versprochen hat, was du dir versprochen hast?
Oder war ich vielleicht einfach zu früh aufgestanden? War ich vorhin, noch im Eliani, auf irgendeine Weise falsch aufgewacht, und würde ich es jetzt noch einmal richtig machen müssen? Es kommt mir vor, als hätte ich den Tag nicht ordnungsgemäß betreten … oder zu früh. Als befände ich mich noch in einer Zone, die weder zum Schlaf noch zum Tag gehört, oder zu beidem – so wie der Saum des Meeres weder Wasser noch festes Land ist.
Auf dem Weg von unserer Unterkunft zum Strand war ich nur einem einzigen Menschen begegnet, und das war der Nachtportier des Hotels Metropole, der mit kleinen, eckigen Bewegungen um die draußen aufgestellten Tische herumfegte, als gehörte er noch in meinen Traum. Sonst hatte ich niemanden gesehen, und niemand hatte mich gesehen. Wie abgenagt hatten die kleinen Straßen im gelben Licht der Laternen gelegen. Vermutlich war ich in Wirklichkeit noch immer im Eliani und träumte.
Da, wo ich lebte, war der Tagesbeginn anders, aber wie? Seit Jahren wurde ich meistens am frühen Morgen wach, aber hatte ich je genau hingeschaut? Ich hatte dem Hellwerden so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wie meinem täglichen Weg zur Arbeit. Nie sah ich, wie es über den Bäumen und Hochhäusern, die ich von unserer Wohnung aus sah, hell wurde, ich sah immer nur, dass es hell war. Und bestenfalls der wie Rauch über der Stadt abziehenden Nacht hinterher.
Und hier?
Überrascht es dich, dass es jetzt hell ist?
5 Uhr 30. Auf der Promenade der erste Radfahrer, schnell wie eine Erscheinung.
Aber der Tag zögert.
Das Morgenlicht flackert noch, als könnte es jederzeit wieder ausgehen.
Ein aus Helligkeit und Dunkelheit gemischtes Licht.
Eine Welt des Halbschlafs, die ich nicht stören will und höchstens auf Zehenspitzen betreten.
Die Dinge wissen noch nicht, ob sie endgültig aus der Finsternis hervortreten oder sich wieder in sie zurückziehen sollen, wie das Schiff, das sich weit draußen beeilt, in die Nacht, in die Vergangenheit zurückzukehren.
Es gibt noch dunkle Ecken, wo sich die Nacht hält.
Die Schirmpinien schlafen noch und die Häuser an der Promenade. Ist es an mir, jedes einzelne Ding in meiner Reichweite zu wecken? Aufwachen, Mülleimer und Münzfernglas! Aufwachen, Pizzeria Vistamare, Ristorante Adriatico, Bar Max’in, Terrazza al sul!
Ein Schlauchboot ist schon wach, das mit dem sägenden Geräusch seines Außenborders sehr schnell hinausfährt.
Eine einzelne, leise Schreie ausstoßende Möwe ist schon wach, dann eine zweite, dritte, vierte, als habe die erste sie geweckt.
Der Wind ist schon ein bisschen wach, oder er hat gar nicht geschlafen und ist jetzt müde.
Ein paar Geräusche sind wach, noch kann man sie auseinanderhalten, eins nach dem anderen: erst das Klappern der Müllmänner, dann das Klopfen von Joggingschuhen auf der Promenade. Wie bei der Vogeluhr, wenn im Morgengrauen die Stimmen der Singvögel nacheinander einsetzen.
Eine Joggerin ist schon wach, mit kurzen Trippelschritten folgt sie der Rundung der Promenade, als müsse sie jeden Meter nutzen.
Ich bin wach, überwach, während sich die Welt um mich herum noch aus einem schweren Schlaf befreien muss, beschäftigt mit einem langsamen, weichen Erwachen.
Und wie der Schlaf zieht sich auch das Meer noch immer zurück. Ein Ozean des Schlafs.
Um zehn vor sechs erlosch die Beleuchtung der Promenade hinter dem Strand. Ein Vogel schlug, ein kurzes, heftiges Aufschnattern. Zwei Minuten später ging auch die Beleuchtung der Promenade rechts des Wellenbrechers aus. Meine Augen reagierten so träge, dass ich noch in der Sekunde danach das Licht sah.
Als die Reinigungsfahrzeuge abrückten, erschien der Strand trotz der langen Reihen von Sonnenschirmen, Liegen und Badekabinen völlig leer. Als müsste man jeden Augenblick damit rechnen, dass sich dort etwas ereignete. Alles schien vorbereitet, aber wofür? Es gab auch keine Zuschauer, außer mir war niemand da, der sich dafür interessierte. Zeit breitete sich vor mir aus, saubere, unbeschriebene Zeit. Der Tag würde sich hier ereignen.
Aber es beginnt nur der Tag neu und nicht dein Leben!
6 Uhr 1, das Geräusch rutschender Badeschlappen. Zwei Frauen, eine kleine rundliche in einem tiefblauen Bademantel und eine hagere im Kleid. Die rundliche schlittert schnell die Schräge am Wellenbrecher hinunter, streift den Mantel ab, unter dem ein roter Badeanzug zum Vorschein kommt, und ist im nächsten Moment schon im Wasser, die andere stochert noch ein bisschen den Strand entlang, dann ist sie auch drin. Ein paar kräftige Stöße, und sie ist weit draußen, die Rundliche ist schon gar nicht mehr zu sehen.
Dem Meer ist kalt, es hat eine Gänsehaut. Es sieht aus, als ginge ein unsichtbarer Regen darauf nieder, der Millionen kleiner Krater hinterlässt.
Ich gehe langsam wieder den Wellenbrecher hinaus und erschrecke, als ich die Frau im roten Badeanzug auf dem Rücken treiben sehe. Auf einem Felsbrocken liegt der blaue Bademantel sorgfältig zusammengefaltet, er kommt mir jetzt vor wie die Spur eines Verbrechens.
Es wird wieder dunstiger, schon ist die Küste auf der anderen Seite der Bucht schlechter zu erkennen, es wird kühler und feuchter. Der Tag möchte sich noch einmal umdrehen und weiterschlafen. Oder ist der Tag schon vorbei, und ich habe es nicht gemerkt?
Mir gefällt die Vorstellung, dass sich die Sonne aus der Tiefe des Meeres nach oben arbeitet, um irgendwann, bald, die Wasseroberfläche zu durchbrechen. Dann würde der Tag kommen. Oder würde sie es sich noch einmal anders überlegen? Aber eins ist sicher, die Sonne wird hier nicht über dem Meer aufgehen. Sie hält sich noch irgendwo hinter den slowenischen Bergen verborgen, als bereite sie eine Überraschung vor.
Der Tag lässt auf sich warten, wie ein Zug, der angekündigt ist und doch nicht kommt. Was soll man tun? Den nächsten nehmen?
Fängt der Tag jetzt an? Es ist hell, ein leichter Wind geht, und überall in den Ritzen regt sich das Leben – aber ist das schon der Tag?
Die Zeit vor Sonnenaufgang erscheint mir jetzt wie der Vorspann eines Films: Die Atmosphäre ist schon da, aber man würde erst am Ende wissen, was die Bilder bedeuten. Jedes Ding ist noch allein mit sich und scheint sich still vorzubereiten auf die Rolle, die es an diesem Tag spielen wird. Ich kann zusehen, wie alles um mich herum seinen Platz einnimmt.
Eine der beiden Frauen kommt aus dem Wasser, frierend und froh, in einer Aureole feiner Tropfen. Die andere, die mit dem abgelegten Bademantel, ist noch drin und winkt aus der Ferne.
Das Gefühl, sich im ersten Kapitel eines Romans zu befinden, von dem man noch nichts weiß.
Hebt sich jetzt der Vorhang über der Wirklichkeit?
Es war Viertel nach sechs, als ein Mann sein Fahrrad auf den Wellenbrecher schob und langsam zu mir herauskam. Er stellte das Fahrrad ab und entlud den Gepäckträger: ein Taucheranzug, Schwimmflossen, eine Harpune wie aus einem James-Bond-Film. Die Harpune war ein chromglänzender Speer in einer Abschussvorrichtung, lang wie ein ausgestreckter Arm. An ihrem Ende hatte die Abschussvorrichtung einen Pistolengriff, das Metall schimmerte anthrazit.
Der Mann setzte den Pistolengriff an seinen Körper und spannte mit beiden Händen die Stahlfeder, die den Speer herausschleudern würde. Der Speer war hinten an einer Schnur befestigt, die von einer Rolle an der Unterseite der Abschussvorrichtung lief. Als die Harpune gespannt war, legte der Mann sie vorsichtig auf eine der Betonstufen, die an einer Stelle ins Wasser führten. Es war eine einfache, aber tödliche Waffe, und ich merkte, wie mir die in ihr gesammelte Kraft der gespannten Stahlfeder unheimlich war.
Ich fragte den Mann auf Englisch, was er mit der Harpune erlegen wolle. Er merkte, dass ich aus Deutschland kam, und antwortete: Goldbrasse, Seebarsch, Oktopus oder gar nix. Dann zuckte er mit den Schultern und lachte. Sosehr mir die Vorstellung, dass sein Unterwasserspeer einen Oktopus traf – oder eher durchquerte –, missfiel, so gefiel mir doch seine Antwort, am meisten natürlich das »gar nix«. Morgens um halb sieben den Garnix zu erlegen schien ihm Freude zu machen.
Der Mann zog sich jetzt bis auf die Badehose aus, er war nicht besonders groß, aber kräftig gebaut, und mit seinem kurzgeschnittenen roten Bart und dem ebenfalls rötlichen Brusthaar sah er aus, wie ich mir einen Krieger der Langobarden vorstellte. Ich wusste, dass sich dieser germanische Stamm von der Elbe aus auf den Weg gemacht hatte und zur Zeit der Völkerwanderung über das heutige Friaul bis ins tiefste Italien vorgestoßen war. Waren seine Vorfahren hier hängengeblieben, oder war er, wahrscheinlicher, einfach ein kleiner, gedrungener Meeresgott, der seinen Dreizack irgendwann gegen die effizientere Harpune getauscht hatte?
Der Mann öffnete eine große Plastikflasche, schüttete den Inhalt über sich und begann sich damit einzureiben. Bier, sagte er, gibt nix Besseres – mir wurde schon vom Zusehen kalt. Auf diese Weise eingeölt, stieg er mit den Beinen voran in den Taucheranzug, der dabei quietschende Geräusche von sich gab; auf dem Boden schäumte das Bier. Schon steckte der Mann bis zur Hüfte in dem Anzug, der Rest hing ihm wie eine abgestreifte Haut vom Rücken. Er verwandelte sich immer mehr in ein Meereswesen, denn der Anzug war mit einem Tarnmuster aus verschiedenen dunklen Grüntönen bedruckt, das an eine Unterwasserlandschaft denken ließ.
Dann hatte der Mann auch seinen Oberkörper in den Anzug gezwängt. Er vollführte ein paar Drehbewegungen aus der Hüfte und schlenkerte seine Arme, bis sein Körper die zweite Haut ausgefüllt hatte und alles saß. Zuletzt zog er sich mit dem flitschenden Geräusch von gespanntem Gummi die Kapuze über den Kopf und legte sich einen Gürtel um, an dem Bleiplatten und ein Messer befestigt waren. Auf dem Beton des Wellenbrechers lagen jetzt noch seine Taucherbrille und die Flossen, die mir überproportional lang vorkamen, wie die eines Kampfschwimmers.
Ich wünschte ihm viel Glück, aber das schien er durch die eng anliegende Kapuze schon nicht mehr zu hören. Es war 6 Uhr 33, als er die Harpune nahm. Ich hatte erwartet, dass er einfach ins Wasser springen würde, aber er stieg vorsichtig zwei Stufen hinunter, als habe das Anschleichen an seine Beute schon begonnen.
Im Wasser löste er sich sofort auf. Ich sah noch ein paar Sekunden das leuchtend rote Ende seines Schnorchels, dann verlor ich auch diesen winzigen Punkt aus den Augen, und obwohl er ohne Pressluftflaschen tauchte, sah ich ihn nicht wieder an die Oberfläche kommen.
Wird die Sonne uns heute finden?
Den Tag kommen lassen. Das Meer kommen lassen.
Alles sehen. Alles ist gleich wichtig.
Nicht denken.
6 Uhr 33, die Sonne geht auf, jetzt.
Kann ich jetzt sehen, wo ich bin?
Es war nur ein Zufall, der uns nach Grado geführt hatte. Wir waren in Mailand und Venedig gewesen, jetzt wollten wir noch ein paar Tage ans Meer. Grado lag mitten darin, auf einer langgestreckten Sandbank, die mit dem Festland über einen Damm und eine Landbrücke verbunden war. Zwischen der Sandbank und dem Festland lag die Lagune, ein Labyrinth Hunderter Inselchen, das bei Ebbe weitgehend trockenfiel. Die Lagune war ein vielgepriesenes Ökosystem, das eine Fülle seltener tierischer Arten beheimatete, auf deren Bekanntschaft ich allerdings in den meisten Fällen keinen Wert legte. Tatsächlich kam mir die giftig-salzige Lagune mit ihren Quallen, Krabben, Stechmücken und wuchernden Tamarisken eher unheimlich vor, angenehm höchstens, wenn man ein Kormoran war und sich für Fische begeisterte. Ich hatte eher eine innere Abneigung verspürt und zugleich eine geheime Faszination. Die Lagune erschien mir wie eine riesige Falle, ein Missverständnis des offenen Meeres.
Die Stadt selbst war im 2. Jahrhundert vor Christus gegründet worden, vermutlich als Kriegshafen für die römische Flotte. Nach dem Niedergang des Römischen Reichs hatte der Ort für Hunderte von Jahren unter der Herrschaft Venedigs gestanden, bevor er 1815 dem Habsburgerreich zugeschlagen wurde. Die Österreicher hatten einen Deich und eine Sardinenfabrik gebaut und gegen Ende des 19. Jahrhunderts aus dem Fischerort im Friaul ein kaiserlich-königliches Seebad gemacht. Heute gab es hier gut achttausend Einwohner, von denen sich die, die nicht dem Fischfang nachgingen, um die Touristen zu kümmern schienen, die immer noch vor allem aus Österreich kamen.
Für mich war der Ort auf den ersten Blick eine milde Enttäuschung gewesen … vielleicht hatten wir etwas anderes erwartet. Es gab nichts zu sehen, oder wir hatten jedenfalls nichts von dem gesehen, was es zu sehen gab, nur Fußgängerzonen mit Sitzbänken und Blumenkübeln, eine hübsche Langeweile. Das, was es zu sehen gab, war seltsam steril, selbst das Alte war wie neu. Die kleine città vecchia war so herausgeputzt, dass sie mir künstlich vorkam wie eine Opernkulisse. Selbst der anderthalb Jahrtausende alten Basilika SantʼEufemia hatte man das Alter gründlich wegretuschiert. Es entsprach alles nicht so richtig meinem Italienbild, und offenbar war ich einer jener Reisenden, die lieber das sehen wollten, was sie sich vorgestellt hatten.
Es war ein Zufall, dass wir hier gelandet waren. Vermutlich gab es allein in Italien hundert andere Orte, von denen ich ebenso hätte aufs Meer schauen können.
Um 6 Uhr 25 – der Taucher war mit seinen Vorbereitungen fast fertig gewesen – hatte sich am Himmel über dem slowenischen Festland, scheinbar nicht sehr hoch über dem Horizont und genau über einem auffallenden langgestreckten Bergmassiv, das an einer Stelle scharf abbrach, eine Kette von vier leuchtenden waagerechten Streifen gebildet. Von dem Pier, der, hundert Meter von meinem Wellenbrecher entfernt, ins Wasser hinauslief, stiegen Möwen auf, die im Gegenlicht schwarz wie Krähen aussahen. Fünf Minuten später waren die leuchtenden Streifen wieder verblasst, und eine intensivrote Hintergrundstrahlung ließ den Bergrücken dunkel und deutlich hervortreten.
Dann schien der Berg unmittelbar vor seiner Abbruchkante plötzlich aufzubrechen, und weißglühende Lava floss aus seinem Inneren.
Ich schloss geblendet die Augen.
Es war jetzt hell, aber war es auch hell genug, um mich selbst zu sehen? Was machte ich hier? Ich hatte mir vorgenommen, mich einen Tag und eine Nacht ans Meer zu setzen und mir alles zu merken, was geschah, und auch wenn nichts geschah, wollte ich es mir merken. Ich brauchte Ruhe und war überzeugt davon, dass man eine Reise machen konnte, ohne sich von der Stelle zu rühren. Nicht ich würde mich bewegen, sondern das Meer, auch wenn es im Moment nicht daran dachte. Das Problem war, dass es leider nicht den Eindruck machte, als würde es mir in den nächsten Stunden mehr von sich verraten. Wenn ich Pech hatte, würde es ungefähr sein, als würde ich einen Tag neben einer wenig befahrenen Straße verbringen, eintönig.
Ich will das Meer sehen, auch wenn es mich nicht sehen will.
Ich war immer gern ans Meer gefahren, und fast immer hatte ich dort das Gefühl, richtig zu sein … als ob da etwas auf mich wartete und immer warten würde. Ich dachte nicht darüber nach, was wohl das Letzte sein mochte, was ich vor meinem Tod sehen würde, aber die schwache Hoffnung, dass es das Meer sein könnte, gefiel mir.
Bis es so weit war, reichte es mir, am Meer das zu finden, was Millionen anderer Menschen dort auch suchten. Darüber hinaus hatte ich einige eher poetische Vorstellungen, wie die Idee, dass das Meer einen mit allen Menschen in Verbindung treten ließ, die gleichzeitig an seinen Ufern saßen, überhaupt mit allen Menschen, die man in seinem Leben kennengelernt hatte. Ich hatte die Hoffnung, dass sich in der Leere und Weite die Gedanken und Phantasien besonders gut ausbreiten konnten und dass man, weil nichts den Blick verstellte, hier alles sehen konnte. Dass mit etwas Glück das Meer einer jener Orte war, an denen der Blick, vom Wasserspiegel reflektiert, auf einen selbst zurückfallen würde.
Eine Frau, die an der Nordsee wohnte, sagte mir einmal, sie erzähle alle ihre Sorgen und Nöte dem Meer. Ich fragte sie, was das Meer dazu sage. Nichts, sagte sie, das ist ja das Gute. Wollte ich das auch machen?
Wie schnell jetzt das Licht in den Morgen strömt. Ist das der Tag? Das Sonnenlicht weckt die Dinge endgültig. Als wäre alles ringsum in der Nacht erst errichtet worden und alles noch neu und unbenutzt und auch das Meer frisch aufgefüllt. Die ganze Welt aufgeräumt.
Und da?
Ein Frachtschiff im Westen, mit grauem Rumpf und einem weißen Hochhaus am Heck, so nahe, dass ich mich frage, wann es gekommen ist und warum ich es bisher nicht bemerkt habe. Wie soeben von den Sonnenstrahlen dorthin gemalt … als sei ohne das Schiff mein Bild vom Meer nicht komplett. Es scheint sich nicht von der Stelle zu rühren.
Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.