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Teil 1 Theoretische Grundlagen

Inhaltsverzeichnis

I. Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?

II. Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO

III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts

Teil 1 Theoretische Grundlagen › I. Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?

I. Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?

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Das Recht, Beweisanträge zu stellen (§ 244 Abs. 3–6, § 245 Abs. 2 StPO), scheint ein Fremdkörper in der Verfahrenskonstruktion der Strafprozessordnung zu sein: Es bringt ein Verhandlungselement in ein Verfahren, das eigentlich auf dem Grundsatz der Inquisition aufgebaut ist. Das Beweisantragsrecht ist ein prominenter Beleg dafür, dass wir ein gemischtes Strafverfahren haben.

§ 244 Abs. 2 StPO, der die Pflicht zur Amtsaufklärung formuliert, steht in einem seltsamen Gegensatz zu den weiteren Absätzen dieser Norm. Wenn das Gericht wirklich, wie das Gesetz es befiehlt, die Beweisaufnahme „auf alle Tatsachen und Beweismittel“ erstreckt, „die für die Entscheidung von Bedeutung sind“, so scheint eine Erweiterung der Beweisaufnahme über diesen Rahmen hinaus sinnlos zu sein. § 244 Abs. 2 StPO umfasst schon nach seinem Wortlaut schlechthin alle nur denkbaren Gegenstände und Beweismittel, die als Grundlage eines Strafurteils in Betracht kommen können.

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Gleichwohl erweitert § 244 Abs. 3–5 StPO den Umfang der gebotenen Beweisaufnahme offenbar beträchtlich.[1]

Diese Vorschriften führen jenes Verhandlungselement in das Verfahren ein, welches in die Konstruktion eines Strafprozesses wie des unsrigen nicht gut zu passen scheint.

Während § 244 Abs. 2 StPO dem Gericht die Pflicht zur Sachaufklärung positiv auferlegt, formulieren die Vorschriften zum Beweisantragsrecht negativ: Sie sagen nicht, was ein Beweisantrag ist, wer ihn wann und wie stellen darf, sondern nur, unter welchen Voraussetzungen ein Beweisantrag abgelehnt werden muss, darf oder kann. Diese Vorschriften gehen also offensichtlich davon aus, dass es das Phänomen von Beweisanträgen jenseits gesetzlicher Regelung bereits „gibt“, dass ausdrücklicher rechtlicher Regelung bedürftig nur das Ablehnungsverfahren sei.[2]

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Dass die Wahrheitsfindung im Strafverfahren überhaupt von „Anträgen“ der Verfahrensbeteiligten abhängen soll, wäre in der Tat systemwidrig, wenn die folgenden wichtigen Grundsätze des Strafverfahrens wirklich ohne Einschränkung anerkannt wären:

Das Strafverfahren ist eine Veranstaltung im öffentlichen Interesse, nicht im Interesse von Verfahrensbeteiligten, auch nicht des Verbrechensopfers. Der Idee nach kann der Beschuldigte das Verfahren nicht – auch nicht durch ein Geständnis – abwenden oder abkürzen. Das Opfer ist regelmäßig in eine Zeugenrolle abgedrängt. Klageerzwingung, Privatklage und Nebenklage sind nur – teilweise – Ausnahmen, welche diese Regel bestätigen. Nicht die Parteien, sondern der Staat beginnt das Verfahren, führt es durch und bringt es zu einem Ende.

Außerdem ist das Strafverfahren dem Prinzip der materiellen Wahrheit verpflichtet. Diese „Wahrheit“ kann kein Gegenstand von „Verhandlung“ sein oder von „Anträgen“ abhängen, sie ist ein objektiv gegebenes Datum und muss mit objektiven Methoden gefunden, sie muss „erkannt“ werden.

Dies sind im Wesentlichen die Argumente und Sichtweisen der „Identitätslehre“.[3] Sie sieht die richterliche Pflicht zur Sachaufklärung und das Beweisantragsrecht als nahe verwandt bzw. identisch an und meint, dass das Beweisantragsrecht den Umfang der gerichtlichen Ermittlungspflicht nicht erweitern, sondern allenfalls konkretisieren könne.[4]

Eine solche Sicht kann das Beweisantragsrecht nur schwach begründen; es wäre nicht viel mehr als ein Anhängsel der Amtsaufklärungspflicht. Freilich ist sie nicht überzeugend: Sowohl die historische Entwicklung des Beweisantragsrechts als auch seine systematische Verankerung im richterlichen Erkenntnisverfahren legen eine andere Einschätzung nahe.

Anmerkungen

[1]

Mit zu beachten ist § 245 Abs. 2 StPO; vgl. weiterhin §§ 163a Abs. 2, 166, 219 StPO.

[2]

Dass es auch anders geht, zeigen die Vorschriften der §§ 163a Abs. 2, 166, 219 StPO.

[3]

Vgl. etwa Wessels JuS 1969, 3; Julius NStZ 1986, 62.

[4]

Vgl. zum Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht: Schulenburg Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozess, S. 28 m.w.N.; Tenorth-Sperschneider Zur strukturellen Korrespondenz, S. 16/17.

Teil 1 Theoretische Grundlagen › II. Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO

II. Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO

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Historisch und in längeren Zeiträumen betrachtet, ist die Geschichte des Beweisantragsrechts die seiner Verstärkung. Einschränkungen dieses Rechts, die es erst in jüngster Zeit gegeben hat, beruhen auf ökonomischen und justizpolitischen Gründen:

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Das Beweisantragsrecht verdankt sich, wie viele andere Grundsätze unseres heutigen Strafverfahrens (etwa das Prinzip der Öffentlichkeit), dem Gedankengut der Aufklärung. In das reine Inquisitionsverfahren des gemeinen Rechts hätten Beweisanträge der Verfahrensbeteiligten nicht gepasst. Gestaltung und Fortgang des Verfahrens lagen in den Händen des Inquirenten, der Beschuldigte hatte kein Recht auf Intervention und Mitgestaltung des Verfahrens. Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess versprach sich die Aufklärung des Sachverhalts von einer regelgeleiteten Suche nach Wahrheit. Das Strafverfahren war eine Veranstaltung unter Fachleuten mit dem Beschuldigten als Objekt der Ausforschung. Dabei hätten die Öffentlichkeit, die Beteiligung von Laien und ein Beweisantragsrecht nur stören können.

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Nicht die Hoffnung, man könne die Wahrheit besser finden, sondern die Entschlossenheit, die Rechtsstellung des Beschuldigten zu verbessern und das Strafverfahren öffentlicher Kontrolle zugänglich zu machen, steuerte die Reform des Strafprozesses in den Partikularrechten[1] des 19. Jahrhunderts. Das Veränderungsinteresse der Aufklärung war in diesem Bereich ein politisches, nicht ein erkenntnistheoretisches. Der Beschuldigte bekam die Möglichkeit, sich am Verfahren aktiv zu beteiligen. Er konnte Beweispersonen vorladen und hatte auch das Recht, die Beweisaufnahme mit eigenen Anträgen zu beeinflussen – freilich nur im Rahmen der Sachaufklärungspflicht des Gerichts.[2]

Dies war das Ende des reinen Inquisitionsprozesses. Das Recht des Beschuldigten, sich an der Wahrheitssuche zu beteiligen, hatte zwar nur eine unterstützende Funktion, weil Methoden und Grenzen dieser Suche der Beurteilung des Gerichts unterlagen. Die Verfahrensordnungen gingen aber nicht mehr davon aus, dass das Wissen um den richtigen Weg zur Wahrheit ausschließlich beim Gericht liegt. Die aktive Beteiligung des Beschuldigten konnte die Erkenntnismittel zumindest dadurch verbessern, dass sie sie vervollständigte.

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Die Strafprozessordnung von 1877 hat das Beweisantragsrecht in bescheidenem Umfang gesetzlich begründet und dabei eine Unterscheidung eingeführt, die auch für spätere Gesetzesänderungen verbindlich blieb: die Unterscheidung zwischen Verfahren vor dem Amtsgericht und der landgerichtlichen Berufungsinstanz einerseits sowie vor höheren Gerichten andererseits. Im ersten Verfahrenstyp hatte das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen (§ 244 Abs. 2 StPO a.F.) und durfte Beweisanträge ohne Begründung ablehnen (§ 243 Abs. 2 StPO a.F.). Das in erster und letzter Tatsacheninstanz zuständige Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die Beweisaufnahme auf alle präsenten Beweismittel zu erstrecken (§ 244 Abs. 1 StPO a.F.).[3] Der Gesetzestext lautete:

§ 243

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder wenn die Vornahme einer Beweishandlung eine Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich macht.

(3) Das Gericht kann auf Antrag und von Amts wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen.

§ 244

(1) Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung einzelner Beweise kann jedoch abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte hiermit einverstanden sind.

(2) In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Landgerichten in der Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.

Damit waren Beweisanträge, ihre abgestufte Wirkung und die Bedeutung präsenter Beweismittel anerkannt. Und für die Ablehnung eines Beweisantrags musste zumindest eine gewisse Förmlichkeit beachtet werden, – auch wenn das Gesetz für den zwingend vorgeschriebenen Beschluss und seine etwaige Begründung keine inhaltlichen Vorgaben enthielt.

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Eine solche Konstellation – Anordnung eines Verfahrens zur Ablehnung von Beweisanträgen ohne Enumeration der Gründe, welche eine Ablehnung rechtfertigen – ist eine gute Ausgangsbedingung für die Herausbildung von Richterrecht, sie ruft es geradezu herauf. Das Reichsgericht hat seine Chance genutzt. Dogmatisch verankert in dem Revisionsgrund, die Verteidigung sei durch die Ablehnung eines Beweisantrags unzulässig beschränkt worden (heute § 338 Nr. 8 StPO), haben die Senate schrittweise ein System (allein) zulässiger Ablehnungsgründe entworfen, welches dann später[4] in die StPO eingefügt werden konnte.

Die Geburt eines formalisierten Beweisantragsrechts lässt sich gleich im ersten Band der Amtlichen Sammlung des Reichsgerichts studieren.

Die Entscheidung des I. Strafsenats vom 12.1.1880[5] fußt noch auf der damals nicht in Frage gestellten Überzeugung, dass die Ablehnung eines Beweisantrags nur im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegen könne, lässt aber schon Schwierigkeiten mit der Regelung zur Beachtung präsenter Beweise erkennen:

„Allein nicht jede Ablehnung eines Beweisantrags über einen Punkt, der für die Entscheidung wesentlich sein kann, ist darum als unzulässige Beschränkung der Verteidigung anzuerkennen. Das trifft nicht nur dann zu, wenn der Antrag aus richtigen Rechtsgründen abgelehnt ist, sondern auch dann, wenn ihm ohne Rechtsirrtum für den konkreten Fall die Erheblichkeit abgesprochen ist. Dass über den Umfang der Beweisaufnahme das Gericht zu befinden und von ganz zwecklosen Erhebungen Umgang zu nehmen hat, liegt so sehr im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet, dass es einer ausdrücklichen Aufnahme dieses Grundsatzes in der Strafprozessordnung gar nicht bedurfte, er ist aber auch als in den §§ 219 und 243 Satz 2 enthalten anzusehen und im § 244 Satz 1 nur insoweit verlassen, dass die vorgeladenen Zeugen etc. regelmäßig sämtlich zu vernehmen sind, hinsichtlich der abgelehnten also dem Angeklagten nur die eigne Ladung offen gelassen ist, keineswegs nach § 245 Satz 1 ihm das Recht auf Aussetzung der Hauptverhandlung durch die Befreiung der Beweisanträge von bestimmten Prozessstadien ganz allgemein gewährleistet ist“ (S. 62).

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Kurze Zeit später gelingt dem II. Strafsenat in seinem Urteil vom 6.2.1880[6] die Begründung des Verbots der Beweisantizipation, welches später für die Konstruktion des Beweisantragsrechts von grundlegender Bedeutung werden sollte.[7] Das Schwurgericht hatte es abgelehnt, nach der Einvernahme eines Zeugen einen weiteren Zeugen zu befragen, welcher der Aussage des ersten Zeugen widersprechen würde. Der Senat präzisiert, dass das Schwurgericht damit die Aussage des ersten Zeugen für so überzeugend erachtete,

„dass eine davon abweichende Aussage des (zweiten Zeugen) keinen Glauben verdienen würde. So verstanden beruht jener Grund auf einem Rechtsirrtum, indem dabei außer Acht gelassen wird, dass – von Ausnahmefällen abgesehen, die dann stets einer besonderen Begründung bedürfen – regelmäßig erst nach der vor dem erkennenden Richter stattfindenden Vernehmung sich beurteilen lässt, welchem von zwei sich widersprechenden Zeugen mehr Glauben geschenkt werden kann“ (S. 190).

Damit war entschieden, dass dem Gericht vorgängige Bewertungen einer Beweisaufnahme verwehrt sind: dass es die Beweisaufnahme also erst einmal durchführen muss, bevor es ihren Beweiswert einschätzt. Der Senat hatte den ersten Pflock eingeschlagen, an welchen das Ermessen des Gerichts bei der Ablehnung von Beweisanträgen gebunden war, und er musste dazu argumentativ nicht weit ausholen; eine einfache Logik reichte hin: Eine Beweiserhebung darf nicht deshalb unterlassen werden, weil man ihr Ergebnis schon zu kennen glaubt.

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Die allmähliche Ausformung des Beweisantragsrechts durch die Rechtsprechung wurde von Gesetzesänderungen begleitet, welche dieses Recht zuerst begründeten und ausbauten, dann aber wieder beschnitten und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges ganz beseitigten. Die wechselvolle Geschichte des Beweisantragsrechts zeigt, dass dieses Institut ein sensibler Indikator für Liberalität und Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens ist und dass seine mächtigsten Feinde in einer einseitigen Politik effektiver und funktionstüchtiger Strafrechtspflege, verbunden mit einer Geringschätzung von Beschuldigtenrechten, zu sehen sind.

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Das Gesetz zur Abänderung der StPO vom 22.12.1925[8] weitete das Beweisantragsrecht erheblich aus, indem es dem Gericht nur noch bei Privatklagesachen gestattete, den Umfang der Beweisaufnahme von sich aus zu bestimmen (§ 245 Abs. 2 StPO a.F.). Die erste Einschränkung[9] erfolgte bald und war nicht mehr als eine absehbare Randkorrektur: präsente Beweise durften abgelehnt werden, wenn sie der Prozessverschleppung dienten (§ 245 Abs. 1 Satz 1 StPO a.F.).

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Schon von ganz anderer Qualität war die Einschränkung des Beweisantragsrechts in der Verordnung des Reichspräsidenten auf dem Gebiete der Rechtspflege und der Verwaltung vom 14.6.1932[10], welche den Tatrichter am Amtsgericht sowie in Berufungssachen am Landgericht von der Erhebung präsenter Beweise freistellte und den Umfang der Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts zurückgab; damit blieb von einem Recht, einen Beweis zu beantragen, nicht mehr viel. Schon aus der Konzentration dieser Gesetzesänderung auf bestimmte Gerichte lässt sich ablesen, dass dieser Schlag gegen das Beweisantragsrecht nicht aus grundsätzlichen, sondern aus ökonomischen Motiven geführt wurde. Es war die wirtschaftliche Not der Zeit, welche eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren nahe legte.[11] Diesem Ziel standen natürlich die Interventionsrechte des Beschuldigten, insbesondere das Beweisantragsrecht, im Wege; diese Rechte können das Verfahren verzögern und verteuern.

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Dass in den ersten Jahren nach 1933 die „Gleichschaltung“ der Justiz noch nicht vollständig gelang, dass vielmehr Reformbestrebungen aus der Weimarer Zeit noch eine Chance hatten, lässt sich auch im Beweisantragsrecht studieren. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935[12] sah zwar eine Pflicht zur Erhebung präsenter Beweise nicht vor, übernahm aber für große Teile der Strafrechtspflege die vom Reichsgericht entwickelten Grundsätze zum Beweisantragsrecht. Vor dem Amtsgericht und dem Landgericht in Berufungssachen stellte das Gesetz die Beweisaufnahme in das Ermessen des Tatrichters. Für die anderen Tatgerichte wurden jedoch die möglichen Ablehnungsgründe für Beweisanträge formalisiert. Diese Formalisierung entsprach der Regelung, wie sie § 244 Abs. 3 StPO heute vorsieht. Der Gesetzestext erhielt folgende Fassung:

§ 244

(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.

(2) Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist.

§ 245

(1) In Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz darf das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält. Dies gilt auch in anderen Verhandlungen für den Beweis durch Augenschein oder durch Sachverständige.

(2) Im übrigen kann in der Verhandlung vor den Gerichten, bei denen nach dem Gesetz allgemein die Berufung ausgeschlossen ist, die Erhebung eines Beweises nur abgelehnt werden, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, wenn wegen Offenkundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.

(3) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses.

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Es überrascht nicht, dass das Beweisantragsrecht unter der nationalsozialistischen Rechtspolitik nicht überleben konnte; es passte nicht zu der harmonistischen Verkleisterung, die vorgaukelte, dass alle Beteiligten gemeinsam nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren suchen sollen. Unter der Flagge der „Vereinfachung“ der Strafrechtspflege wurde das Beweisantragsrecht durch die Verordnung vom 1.9.1939[13] und durch die Verordnung vom 13.8.1942[14] ausradiert. Es begann mit der Aufhebung des Verbots der Beweisantizipation, was dem Beweisantragsrecht das Rückgrat brach. Ob der Richter einem Beweisantrag folgte, wurde in sein freies Ermessen gestellt; eine Ablehnung wurde erlaubt, wenn die Beweiserhebung nicht erforderlich war. 1942 folgte dann auch noch die Beseitigung des Rechts auf unmittelbare Ladung.[15]

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Das „Vereinheitlichungsgesetz“ vom 12.9.1950[16] führte die Absätze 3–6 des § 244 StPO und damit das Beweisantragsrecht wieder ein. In § 245 i.V.m. § 220 StPO wurde die unmittelbare Ladung von Zeugen und Sachverständigen durch den Angeklagten normiert. Das Strafprozessänderungsgesetz vom 19.12.1964 dehnte § 166 StPO auf Vernehmungen durch die Ermittlungsbehörden aus (§ 163a Abs. 2 StPO) und das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 fasste § 245 StPO neu, indem es Beschränkungen bei der Erhebung präsenter Beweise vorsah.[17]

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Auf alte Rezepte zurückgegriffen hat der Gesetzgeber dann im Zuge der Anfang der 80er Jahre einsetzenden Diskussion über die Notwendigkeit einer Justizentlastung.[18] Unter dem Eindruck einer Reihe langwieriger Großverfahren und vielfältiger Klagen aus der Praxis geriet das Beweisantragsrecht ins Schussfeld moderner Justizreformer. Der extensive Gebrauch dieses Rechts war nach Meinung mancher Autoren einer der Gründe für die Verzögerung vieler Strafverfahren. Zur Debatte standen deshalb außerordentlich weit reichende Einschränkungen des Beweisantragsrechts, ohne dass die dem zugrunde liegende Annahme, gerade der (wirkliche oder angebliche) Missbrauch des Beweisantragsrechts führe zu ungewollten Verfahrensverzögerungen, empirisch belegt war – heute gibt es Belege für das Gegenteil. Anlass zu Kritik mag dabei hintergründig auch die Kombination einer Androhung von Beweisanträgen mit Verhandlungen über eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung gewesen sein.

Der Gesetzgeber hat sich im Ergebnis den aus der Praxis gestellten Forderungen nicht vollständig unterworfen; er hat sie jedoch auch nicht vollständig zurückgewiesen. Mit dem durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993[19] eingefügten § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO hat der Tatrichter die Befugnis erhalten, einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, nach den Maßstäben der Aufklärungspflicht zu bescheiden, d.h. er ist nicht an die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO gebunden, wenn er einen derartigen Antrag ablehnen will. Weitere Beschränkungen des Beweisantragsrechts enthalten § 420 Abs. 4 StPO für das beschleunigte Verfahren sowie § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO für das Strafbefehlsverfahren, eingefügt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994.[20]

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Wiederum mit Blick auf eine erhoffte Entlastung der Justiz und eine Beschleunigung der Strafverfahren hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 dann eine jahrzehntelang unangetastet gebliebene Grundnorm des Beweisantragsrechts nachhaltig verändert. Durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 wurde in § 244 Abs. 6 StPO dem Vorsitzenden die Befugnis eingeräumt, den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen.[21] Wird nach Fristablauf ein Beweisantrag gestellt und dabei nicht hinreichend begründet, dass eine frühere Antragstellung nicht möglich war, darf das Gericht über diesen Antrag in den Urteilsgründen entscheiden. Der Antragsteller erfährt die Gründe für die Antragsablehnung mithin erst zu einem Zeitpunkt, zu dem er auf sie nicht mehr reagieren kann.[22]

18

Im Jahr 2017 wurde ferner § 244 Abs. 5 StPO geändert.[23] Der neu in das Gesetz aufgenommene Satz 3 muss im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 32e StPO gelesen werden. Ob die Bestimmung große praktische Bedeutung erlangen wird, bleibt abzuwarten.

19

Im Ganzen macht die historische Entwicklung deutlich, dass das Beweisantragsrecht in Zeiten gedeiht, in denen Justizpolitik nicht vordringlich unter ökonomischen Zwängen betrieben wird und in denen eher die Rechtsposition des Beschuldigten im Strafverfahren als jener Wert, der gerne mit „die Effektivität und Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“[24] bezeichnet wird, die Leitlinien der Rechtspolitik bestimmt. Andererseits ist klar, dass das Beweisantragsrecht zu denjenigen strafprozessualen Institutionen gehört, welche einer auf „Vereinfachung“ und „Effektivierung“ bedachten Politik am ehesten anheim fallen.[25] Diese Erkenntnis erleichtert es, die Position des Beweisantragsrechts in einem kriminalpolitischen Klima zu verorten.

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