Kitabı oku: «Seelsorgelehre», sayfa 3

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1. Leben im Ungewissen
Zu den Kontexten heutiger Seelsorgepraxis

In der Seelsorge begegnet uns der Mensch als Einzelner mit seinen Fragen und Konflikten, mit seinen körperlichen, seelischen und geistlichen Leiden. Die Probleme, die in der Seelsorge zur Sprache kommen, können aktuell veranlasst und/oder lebensgeschichtlich verankert sein. Sie dürften in aller Regel auch ein Reflex auf die mikro- und makrosozialen Gegebenheiten sein, in denen sich das Individuum befindet. Die „Befindlichkeit“ des Einzelnen hat immer auch einen Außenaspekt. Seelsorgliche Arbeit muss darum verbunden sein mit wacher Aufmerksamkeit für die Verhältnisse, in denen das Individuum lebt. Anders als in der konkreten Situation einer seelsorglichen Begegnung, in der die primäre Aufmerksamkeit dem Individuum gilt, ist es in der Seelsorgelehre wenn auch nicht üblich, so doch sinnvoll, zunächst den Blick auf die Welt des Einzelnen zu richten, ehe der Einzelne in seiner Welt wahrgenommen wird. Das ist im Rahmen einer kurzen Einführung nicht einfach zu leisten – zumal wir von Welt- und Gesellschaftsdeutungen unterschiedlichster Provenienz geradezu überschwemmt werden. Die Flut soziologischer und sozialphilosophischer Deutungsliteratur weist ja offensichtlich auf eine erhöhte Deutungsbedürftigkeit des gesellschaftlichen Seins und Lebens in der Gegenwart hin. Die ambivalenten Welterfahrungen der Individuen in der Moderne und mit der Moderne rufen mehr denn je das Verlangen hervor, Zusammenhänge und Ursachen zu erkennen. Für die Seelsorgelehre sollen hier wichtige Einsichten und Klärungsversuche soziologischer und religionssoziologischer Natur festgehalten werden. Das kann nicht umfassend und systematisch geschehen, sondern nur entlang der eigenen Wahrnehmungen und im Hinblick auf eine mögliche Relevanz für die seelsorgliche Arbeit.

1.1Lebensbedrohlicher Sicherheitsverlust

Fragen wir nach einer Kernerfahrung, die das soziale und individuelle Leben in Deutschland (und darüber hinaus wohl auch in ganz Europa) zu charakterisieren vermag, ist wohl zuerst an den spürbaren Verlust an Sicherheit und Gewissheit zu denken. Der Begriff „Verlust“ legt dabei nahe, davon auszugehen, dass es vormals ein Mehr an Sicherheit und Orientierungsgewissheit gab. Ob das objektiv so war, können wir hier dahingestellt sein lassen. Nostalgische Verklärungseffekte sind nie auszuschließen. Subjektiv empfinden viele Menschen in unserer Gesellschaft jedenfalls einen Verlust. Und das ist mehr als nur ein verschwommenes Gefühl. Paradoxerweise muss diese Verlusterfahrung als die Kehrseite von gewachsenen Lebenschancen, neuen Daseinsmöglichkeiten und erhöhtem Freiheitsgewinn angesehen werden. Die „Risikogesellschaft“ (Ulrich Beck) schattet ihre Strukturen und Problemlagen auch in den familiären und privaten Beziehungen des Einzelnen ab. Davon wird noch en detail zu reden sein. Zunächst sei an die überindividuellen Erfahrungen eines Sicherheitsverlustes erinnert.

•Im Bereich der modernen Technologie und der industriellen Warenproduktion erleben wir seit Jahrzehnten einen phantastischen Zuwachs an Lebens- und Erlebensmöglichkeiten. Mit Hilfe der mehr und mehr automatisierten Großproduktion können in nahezu unbegrenzter Quantität Nahrungsmittel und andere Lebensgüter hergestellt werden; digitale Kommunikationsnetze weltumspannender Reichweite lassen räumliche Distanzen zwischen Menschen und Institutionen gegen Null zusammenschrumpfen; neue Forschungsmethoden und präzisere Untersuchungsinstrumentarien erschließen immer mehr die Geheimnisse der Mikro- und Makrowelt des Lebens. Aber zugleich geht diese „gesellschaftliche Produktion von Reichtum einher mit der Produktion von Risiken“. Wir bekommen es zunehmend zu tun mit ganz neuen „Problemen und Konflikten, die aus der Produktion, Definition und Verteilung wissenschaftlich-technisch produzierter Risiken entstehen.“1 Es sind vor allem die ökologischen Risiken, die uns unsicher werden lassen, ob die Luft, die wir atmen, nicht verpestet, ob der Boden, den wir bebauen, nicht verseucht, ob das Wasser, das wir trinken, nicht vergiftet ist. Aber es wächst darüber hinaus auch die Angst vor Katastrophen, die das Leben auf der Erde generell gefährden. Dabei sieht sich der Einzelne, der von den wissenschaftlich-technischen Entscheidungsprozessen viel zu weit entfernt ist, immer weniger imstande zu beurteilen, wie real die heraufbeschworenen Gefahren – etwa im Bereich der Genforschung und deren Anwendung – wirklich sind.

•Auf allen Ebenen der politischen Entscheidungsprozesse werden zunehmend neue Gefahren „produziert“. Paradoxerweise sind diese Gefahren nach der Überwindung des politischen, ideologischen und militärischen Ost-West-Gegensatzes eher gestiegen als gesunken. Die allgemeine politische Situation ist an den Rändern Europas, im Nahen Osten und in der islamischen Welt unberechenbarer geworden. Das Bewusstwerden historischer Ungerechtigkeiten, ethnischer Unterdrückung und die Erfahrungen offensichtlicher und schwerwiegender Chancenungleichheiten schaffen ein Konfliktpotenzial, das mit demokratischen Mitteln schwer unter Kontrolle zu halten ist. Es wäre ganz und gar falsch, den durch die „Wende“ von 1989 erkämpften Freiheitsgewinn auch nur für einen Augenblick zur Disposition zu stellen. Aber die Gefährdungen der Freiheit und des Lebens müssen gesehen und ernst genommen werden. Zygmunt Bauman spricht von neuen Erfahrungen einer „Weltunordnung“: „Seit das große Schisma aus dem Wege ist, sieht die Welt nicht mehr aus wie eine Totalität; sie sieht eher aus wie ein Feld zerstreuter und disparater Kräfte … Niemand scheint mehr die Totalität unter Kontrolle zu haben.2 Schon stellen sich Situationen ein, die höchst gefährliche nationalistische und totalitäre Formen einer „Gegenmodernisierung“3 auf den Plan rufen.

•Ein hohes Maß an Sicherheitsverlust ist mit der gegenwärtigen Arbeitsmarktsituation eng verknüpft. Unabhängig von den Zyklen wirtschaftlicher Progression und Rezession müssen wir heute angesichts der immer geringer werdenden Bedeutung der menschlichen Arbeitskraft in den industriellen Produktionsprozessen davon ausgehen, dass in Zukunft keineswegs mehr für jeden Arbeitswilligen auch ein Arbeitsplatz im Sinne einer Vollbeschäftigung zur Verfügung stehen wird.4 Für einen großen Teil der Bevölkerung stellt dies einen dauerhaften Destabilisierungsfaktor dar – auch wenn man in Rechnung stellt, dass neue Verteilungsmuster einen gewissen Ausgleich schaffen können. Der Einzelne gerät auf dem Arbeitsmarkt ziemlich schnell in eine Konkurrenzsituation, die ihn existenziell und psychisch überfordern kann. In einer solchen Konkurrenzsituation wächst für alle diejenigen die Unsicherheit, die mehr oder weniger aus der Leistungsnorm fallen: die schlecht Ausgebildeten, die Älteren, vielfach auch die Frauen, die Behinderten, die Ausländer und so weiter. Diese Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsmarkt könnte von einem Entsolidarisierungseffekt begleitet sein, der die Gefahr verstärkt, dass ganze Bevölkerungsgruppen zu „Verlierern“ werden.

•Zunehmend geraten die Sicherheitsrisiken für unsere persönlichsten Angelegenheiten an einer noch an einer ganz anderen Stelle ins Blickfeld: in der digitalen Welt, in die wir durch das Internet täglichen Zugang haben. Datensicherheit ist im privaten wie auch im öffentlichen Bereich ein unausweichliches Problem geworden. Täglich senden wir eine Fülle von Daten in das elektronische Medium. Wir verschicken persönliche Botschaften, beteiligen uns an Internetforen wie Facebook, nehmen Internetdienste unterschiedlichster Art in Anspruch. Alle diese Daten, so viel Vertraulichkeit auch zugesichert sein mag, sind unserer Verfügbarkeit entzogen. Es werden „Profile“ erstellt, die uns ungebeten maßgeschneiderte Werbung zutreibt. Eine verunglückte Mail, ein peinliches Foto – es entstehen unverwischbare Spuren. Viele haben es noch gar nicht begriffen, aber es entsteht in unserer Welt „eine neue Transparenz, durch die… jeder Mensch in allen Bereichen des Alltagslebens pausenlos überprüft, beobachtet, getestet, bewertet, beurteilt und in Kategorien eingeordnet werden kann.“5 Dabei ist vielfach eine Ambivalenz zu spüren: es gibt einerseits ein schier unbegrenztes Bedürfnis sich virtuellen Adressaten in einen anonymen Raum hinein mitzuteilen, andererseits die Verunsicherung und Beunruhigung darüber, was damit geschehen könnte. Es sind viele Vorkehrungen nötig, um wenigstens ein Mindestmaß man Sicherheit herzustellen. Das betrifft auch solche Dienste wie die Internetseelsorge. Sie sind absolut sinnvoll, aber nicht möglich ohne ein ganzes Arsenal an Regulierungen und Sicherungsmaßnahmen.6

Die auf den vier Ebenen – technologischer Fortschritt, Politik, Arbeitsmarkt, virtuelle Kommunikation – angedeuteten Verunsicherungsprozesse haben in gewisser Weise ihr Pendant in alltäglichen Bedrohungserfahrungen der Einzelnen. Viele Menschen haben Angst, vor allem Angst vor Gewalt. Sie fühlen sich, ihre Würde und Integrität, ihr Eigentum, ihre Gesundheit, ihre Ruhe, ihre Ordnung permanent und massiv gefährdet. Ausdruck dieser Angst ist die in unserer Gesellschaft herrschende und stetig zunehmende Kriminalitätsfurcht und Terrorismusangst. Durch ständige Gewaltinszenierungen im Fernsehen und in der Boulevardpresse wird sie noch gesteigert und gesteuert. Ganze Industrie- und Logistikunternehmen sind im Gegenzug damit beschäftigt, immer neue Schlösser, Verriegelungen und Alarmanlagen zu erfinden und zu produzieren. Ausbildungsinstitutionen bieten Selbstschutztrainings an. Die Sorge um die persönliche Sicherheit erhält einen Eigenwert. Für viele Menschen bedeuten die Verunsicherungen im täglichen Leben eine deutliche Mobilitätseinschränkung und Interaktionsbegrenzung. Aus Angst bleibt man lieber zu Hause. Dabei muss man beachten, dass den Ängsten und Bedrohungen besonders diejenigen ausgesetzt sind, die sich nicht so gut zu wehren vermögen, die in ihre Sicherheit nicht so reichlich investieren können: die sozial Schwachen, die Arbeitslosen, die Ausländer und unter ihnen nicht zuletzt ein großer Teil der Frauen. Für den weiteren Zusammenhang ist darauf aufmerksam zu machen, dass die „tägliche Verunsicherung vielleicht auch vor dem Hintergrund verlorener traditioneller Gewissheiten“7 verstanden werden muss. Mögen die Gefährdungen für die Individuen „objektiv“ nicht größer sein als zu früheren Zeiten, so sind die Menschen, die heute nur noch selten ihren Tag „mit Gott“ beginnen, ihnen doch in gewisser Weise schutzloser ausgeliefert. Insofern hat die Kriminalitätsfurcht etwas Symptomatisches. Es ist die Furcht des seines Lebens nicht mehr sicheren und des durch religiösen oder anderen Zuspruch auch nicht mehr ohne weiteres versicherbaren Menschen. Die besondere Folgegefahr angesichts der alltäglichen Verunsicherungen liegt in der deutlichen Zunahme der Aggressionsbereitschaft und in fragwürdigen, scheinbar komplexitätsreduzierenden Optionen (Fundamentalismus verschiedener Prägungen, Nationalismus, Rechtradikalismus usw.). Die Situation begünstigt die populistischen Vereinfacher jedweden Coleurs.

1.2Modernisierung des gesellschaftlichen Lebens – soziologische Aspekte

Haben wir die Verunsicherungserfahrung des Einzelnen und seiner Bezugsgruppen eher phänomenologisch beschrieben, so kann es jetzt hilfreich sein, zum besseren Verständnis der grundlegenden Wandlungsprozesse in unserer Gesellschaft Aspekte einer soziologischen Theorie heranzuziehen, wie sie sich einerseits im Anschluss an die Systemtheorie (Niklas Luhmann) und andererseits im Zusammenhang mit der seit Jahren geführten Postmoderne-Debatte (wofür in Deutschland stellvertretend die Namen von Wolfgang Welsch und Ulrich Beck genannt seien) ergeben haben. Das kann freilich nur in ganz knapper und fokussierender Weise geschehen – mit dem Ziel, die wichtigsten Theorieelemente der gegenwärtigen Diskussion für unseren poimenischen Zusammenhang zur Verfügung zu stellen.8

1. Differenzierungen in der Gesellschaft

Grundlegend für das Verständnis des Wandels unserer Gesellschaft – also für Modernisierungsvorgänge, an denen wir Anteil haben – ist die Einsicht in die neuen Differenzierungsprozesse innerhalb der Sozialstrukturen. Dabei treten an die Stelle bisheriger „stratifikatorischer“ (also etwa schichtspezifischer) Differenzierungen andere eher „funktionale“ Differenzierungsformen. Das hat weitreichende Konsequenzen für unser Selbst- und Weltverständnis. Für den Einzelnen bedeutet das, dass seine soziale und personale Existenz etwa als Arbeiter, Christ, Familienvater, Wähler, Vereinsmitglied ihn mit ganz unterschiedlichen Erfahrungsbereichen, die kaum noch etwas miteinander zu tun haben, in Beziehung bringt. Einzelpersonen und soziale Organisationen stehen nicht mehr in einem überschaubaren und stabilen Zuordnungsrahmen zueinander, sondern sie sind gegebenenfalls funktional aufeinander bezogen. Die Sozialbeziehungen sind von daher weitgehend gelockert und entflochten. „Ein gemeinsamer Nenner dieser Konsequenz dürfte in einem Zuwachs an Komplexität, in einer Reduktion von zentralistischen Kontrollchancen und in der Generalisierung von Fremdheit liegen.“ „Generalisierung von Fremdheit“ meint dabei die „massive Steigerung von Kontingenz, Inkohärenz und Dissens …“9.Eine Folge der funktionalen Differenzierungsprozesse in der Gesellschaft ist freilich auch, dass es nun keine Institution mehr gibt, die sozusagen für das Ganze und seinen Zusammenhang steht. Das hat besonders weitreichende Auswirkungen auf die Rolle von Religion und Kirchen in der modernen Gesellschaft. Die Kirchen sind in der Gefahr, ihre tragende Funktion für die Gesellschaft (die sie jedenfalls in den alten Bundesländern bisher noch innehatten) zu verlieren. Sie sind nicht mehr im Status einer selbstverständlichen Gegebenheit präsent, sie müssen vielmehr ihre Existenz immer wieder durch den Erweis ihrer tatsächlichen Relevanz als sinnstiftender Instanz für die Gesellschaft begründen.

2. Der Einzelne auf sich gestellt – Individualisierung

Es deutet sich schon an, dass der beschriebene Differenzierungsprozess in unserer Gesellschaft auch bedeutsame Konsequenzen für den einzelnen Menschen hat. Die hier relevanten Beobachtungen werden in dem soziologischen Terminus der Individualisierung zusammengefasst. Individualisierung bedeutet, dass für den Einzelnen einerseits die überkommenen Traditionen mit ihren sinnstiftenden und normsetzenden Vorgaben an Prägekraft deutlich eingebüßt haben, und dass sich andererseits die Einbindungen in die herkömmlichen sozialen Institutionen und Formationen (Familie, Schicht, Klasse, Kirche) signifikant gelockert haben.10 Damit wird für den Einzelnen zunächst ein deutlicher Freiheitsgewinn spürbar. Der eigene Entscheidungsspielraum im Blick auf die persönliche Lebensgestaltung, die berufliche Selbstverwirklichung, die politischen, religiösen oder kulturellen Engagements ist erheblich gewachsen. Aber an die Stelle der alten Bindungen, die auch Orientierung und Geborgenheit boten, können schnell neue Abhängigkeiten treten: z.B. von aktuellen Marktlagen und Konsumgewohnheiten, von den infrastrukturellen Gegebenheiten der Lebensregion, vom bürokratisch-rechtlichen Ordnungssystem, vielleicht auch von unterschiedlichen Beratungsinstitutionen und Lebenshilfeangeboten, denen sich das Individuum in seiner Orientierungsnot anvertraut. Entscheidend ist: Der Einzelne muss die Auseinandersetzung damit jetzt für sich selbst erledigen, er muss versuchen, seine Identität aus sich selber heraus zu definieren. Diese ist nicht mehr wie früher schon durch die traditionellen Zugehörigkeiten (Familie, Beruf, Klasse, Konfession) gegeben. Besonders einschneidend und auffällig wirkt sich Individualisierung im Bereich der familialen und partnerschaftlichen Lebensformen aus. Die Anziehungskraft traditionaler Familienstrukturen lässt spürbar nach. Singleexistenzen11, nichteheliche Lebensgemeinschaften, Patchwork-Familien und ähnliches – das sind neue Lebensformen12, die im Prozess der Individualisierung zunehmend an Bedeutung gewinnen.

3. Immer Tempo voraus! – Zeitstrukturen in der Leistungsgesellschaft

Zeit ist ein unerhört kostbares Gut in der modernen Gesellschaft. Wer daran spart, gewinnt. Wer sie verschwendet, verliert. Wer in abhängiger Beschäftigung arbeitet, spürt freilich weniger direkt materiellen Gewinn und Verlust, sondern eher den ungeheuren Zeitdruck. Alles muss schnell gehen, denn die Konkurrenz schläft nicht. Der technologische Fortschritt, der so viel Zeitersparnis möglich macht, führt keineswegs zu zeitlicher Entlastung, er steigert eher die Komplexität der Arbeitsabläufe und verstärkt das Gefühl der Zeitknappheit. Hartmut Rosa hat unter dem Begriff der „Beschleunigung“ beschrieben, wie sich die Zeitstrukturen der Moderne verändern.13.

Die neuen Zeitstrukturen bewirken, dass das Heute immer stärker durch das Morgen bestimmt wird, weil Wachstum der unbedingte Imperativ der modernen Ökonomie ist. Das biblische „Sorget nicht für morgen“ (Mt 6, 34) wirkt dagegen antiquiert oder utopisch – wie man will.

Gestern ist vergangen, morgen ist das Richtmaß. Das gilt nicht nur von der Zeit und den Produkten. Auch der „Marktwert“ von Arbeitskräften ergibt sich weniger aus Erfahrungen auf Grund erbrachter Leistungen als auf einem „Fähigkeitspotential“, das in die Lage versetzt mit immer neuen Herausforderungen und Bedingungen konstruktiv umzugehen.14 Wo Zeit eine immer kostbarere Ressource ist, sind „flexible“ Menschen15 nötig, fähig, sich immer neu einzustellen und umzustellen. Bei diesen Anforderungen freilich bleibt mancher auf der Strecke – abgedrängt von den Erfolgsspuren des beruflichen Lebens und mit leicht auszumalenden weiteren Folgen für Seele und Leib.

Die Strukturen permanenter Beschleunigung haben es an sich, sich auch des privaten Zeitumgangs der Menschen zu bemächtigen. Auch hier gilt die Momo-Weisheit ungemindert: „Je mehr Zeit wir sparen, desto weniger Zeit haben wir.“16 Klug ist, wer es versteht, sich dagegen zur Wehr zu setzen und für Unterbrechungen und Ruhepausen zu sorgen. Oft freilich sind im Alltagsstress auch die „Zeitoasen“ – paradoxerweise – nur zu erreichen, wenn man sich beeilt!

4. Geschlechterdifferenzierung: Die Gender-Perspektive

Zu den zweifellos herausragenden Veränderungen in unserer Gesellschaft gehört der Prozess einer neuen Geschlechterdifferenzierung. Die heute veränderte Rolle der Frauen muss auf dem Hintergrund der Individualisierungsvorgänge begriffen werden, die im 19. Jahrhundert einsetzten. Damals brachte die Industrialisierung und eine mit ihr verbundene moderne Arbeitsorganisation (Arbeitsteilung!) vor allem für die Männer ein höheres Maß an Selbstverwirklichungschancen: Sie arbeiteten nun außerhalb und konnten so ihren Erfahrungshorizont Tag für Tag erweitern. Sie hatten besseren Zugang zu Ausbildungsangeboten, sie verdienten den Lebensunterhalt der Familie, gewannen damit gewollt oder nicht gewollt eine höhere Machtstellung und sie erwarben sich Freiräume der Selbstgestaltung nach getaner Arbeit (wobei weitgehende schichtspezifische Unterschiede zu berücksichtigen bleiben!). Anders die Frauen: Sie hatten an der Individualisierung als persönlichem Freiheitsgewinn kaum Anteil. Elisabeth Beck-Gernsheim beschreibt die Situation so: „Der weibliche Lebenszusammenhang wird im 19. Jahrhundert nicht erweitert, sondern im Gegenteil: enger begrenzt auf den Binnenraum des Privaten. Neben der physischen Versorgung der Familienmitglieder wird vor allem auch die psychische zur besonderen Aufgabe der Frau – das Eingehen auf den Mann und seine Sorgen, das Ausgleichen in familiären Spannungssituationen … Je mehr der Mann hinaus muss in die feindliche Welt, desto mehr soll die Frau ‚voll und rein und schön‘ bleiben …“17. Inzwischen hat ein mehr als 100 Jahre langer Kampf um die rechtliche, soziale, politische und kulturelle Gleichstellung der Frauen spürbare Veränderungen im Geschlechterverhältnis heraufgeführt. Die Frauen vollziehen den bisher „fast ausschließlich Männern vorbehaltenen Individualisierungsschub und holen auf ihre Weise nach: mit Erwerbsarbeit, Ausbildung, Berufsleben, Hochschulbildung, Alleinleben, Alleinerziehung, ebenso wie Scheidung, Verzicht auf Kinder, Verzicht auf Ehe und Verzicht auf Heterosexualität – um nur einige Stichworte zu nennen.18 Diese nachholende Individualisierung der Frauen hat weitreichende Konsequenzen. Viele traditionelle, gerade auch in der Kirche verankerte Vorstellungen von der Rolle der Frauen erweisen sich als gesellschaftliches „Konstrukt“.19 Der auf dem angelsächsischen Boden entstandene Begriff „Gender“ wird für die Bestimmung der Geschlechterrolle maßgebend. Es geht dabei um die gesellschaftlichen Zuschreibungen. Die überkommenen Klischees der Zuordnung von Frau und Mann in Ehe und Familie, in Beruf und Gesellschaft werden hinterfragt. Das neu erstrittene Recht auf die Verwirklichung der eigenen Vorstellung von persönlicher Identität und erfülltem Leben bringt herkömmliche Beziehungsmuster ins Wanken. In vielen seelsorglichen und beraterischen Gesprächen mit Paaren spielen die Probleme, die sich aus dem gewachsenen Lebensgestaltungswillen der Frauen ergeben, eine herausragende Rolle. Viele Männer und viele traditionell von der Männerrolle her geprägte Institutionen haben Schwierigkeiten, sich darauf einzustellen. Ein besonderes Problem stellen in diesem Zusammenhang die Gewaltübergriffe gegen Frauen dar. Frauen treten heute eher aus der Unsichtbarkeit und dem Schweigen heraus. Gewalthandlungen gegen Frauen werden in der Gesellschaft bewusster wahrgenommen. Dennoch wird Gewalt (und sei es in subtilen Formen des mobbing) in manchen Fällen immer noch als Mittel angesehen, verlorenes Terrain zurück zu erobern und die früheren „strukturellen Herrschaftsverhältnisse“ zwischen den Geschlechtern zu erhalten.20 Das ist besonders auf dem angespannten Arbeitsmarkt deutlich – unter anderem auch durch die Entwertung der so genannten Frauenberufe.

Der Prozess der Gleichstellung und Gleichachtung von Männern und Frauen ist noch keineswegs zum Abschluss gekommen. Für diesen Zusammenhang darf gerade im seelsorglichen Handeln die Aufmerksamkeit nicht geringer werden.21

5. Markt der Lebenshilfe – als Folge kultureller Pluralisierung

Neben der Individualisierung und zugleich in engem Zusammenhang mit ihr spielt in der modernen Gesellschaft auch der Prozess wachsender kultureller Pluralisierung eine profilbestimmende Rolle. Es gibt keine Kontrollinstanz, die die bestehenden Angebote an lebensorientierendem Wissen in der Gesellschaft sortiert und kanalisiert. Kultur, Religion und Lebenswissen werden gleichsam auf dem Markt gehandelt. Es herrscht eine Konkurrenz der oft weit auseinander driftenden Angebote. Nebeneinander existieren sehr unterschiedliche Kunst- und Stilrichtungen – für nahezu jeden Geschmack und Lebensstil. Zur Bewältigung elementarer Lebensaufgaben – wie Gesundheitsvorsorge, Kindererziehung, Freizeitgestaltung – sind wir umworben von einer fast unübersehbaren Fülle multimedialer Ratgeber, Lebenskunstphilosophien und Weltanschauungslehren. Und auf dem Sozialhilfe- und Beratungsmarkt konkurrieren private, staatliche und kirchliche Institutionen mit ihrem je spezifischen Angebotsprofil. Religiöses und Parareligiöses, Psychologisches und Parapsychologisches, Esoterisches und Spätaufklärerisches liegt auf dem weltanschaulichen Warentisch nebeneinander und gelegentlich auch durcheinander. Der Einzelne muss sondieren, wählen, entscheiden. Das hat seine angenehmen, das Leben reich machenden und die individuellen Möglichkeiten erweiternden Aspekte. Aber es kann auch beunruhigen und den beschriebenen Verunsicherungseffekt verstärken. Mitunter befindet sich das Individuum in der Situation von Buridans Esel, der sich nur zwischen zwei Heuhaufen entscheiden musste, an dieser Anforderung jedoch scheiterte und verhungerte.

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