Kitabı oku: «Blanchisserie oder Von Mäusen, Moder und Literatursalons», sayfa 3

Yazı tipi:

Die alte Levul war stocktaub, aber wir verständigten uns auf das Prächtigste mit Zeichen, und sie erklärte mir auf subtile Weise, dass der Geigenspieler und der Perkussionist schon wieder ausgezogen seien und keinerlei Einwände gegen einen Literatursalon bestünden. Hierzu zog sie sich die Strumpfhosen aus, imitierte eine Geige und schlug mit den Fäusten scheppernd auf den verzinkten Boden eines Eimers, dass es nur so schepperte. Dann wickelte sie sich die Strümpfe um den Hals, streckte die Zunge heraus und stieß den Eimer die Treppe hinab. Ich verstand vollkommen: Der Virtuose hatte sich aufgehängt, und den Trommelkönig hatte sie höchstpersönlich die Treppe hinunterbefördert, aber die Araber wurden bei dem Schauspiel erneut unruhig, zogen die Alte nackt aus und untersuchten ihren Speichel. Zum Glück flüsterte ihnen Allah auch diesmal zu, dass keine Verschwörung im Busche sei, aber wäre dies tatsächlich der Fall gewesen, dann hätten es die beiden mit Sicherheit gemerkt …

»Wo um alles in der Welt bist du gewesen?«, fragte meine Frau Terezija schläfrig und überhaupt nicht böse. »Gerty Gaston hat aus New York angerufen, sie will einen Vertrag mit dir unterschreiben.« Terezija hatte sich schon die Haare gewaschen, Kaffee gekocht und rauchte jetzt zerstreut eine Zigarette, lang und dünn wie ein Strohhalm. Ich dachte an die Seifenblasen von Bul Bul und lächelte kaum merklich. Eigentlich hatte ich alles ja ganz genau erzählen wollen, aber Terezija hatte ihre naive Frage schon wieder vergessen und gähnte: »Ich habe von Krishna geträumt! Er war so schön, und ich hätte gerne noch ein bisschen länger geschlafen! Moment mal, bist du wirklich nach Hause gekommen, oder träume ich noch?«

2

Die Einwohner von Žvėrynas haben eine ganz andere Mentalität als die von Užupis. Allein mit der Zusammensetzung der Nationalitäten sind die Unterschiede nicht zu erklären, und sie sind in den meisten Fällen nicht besonders leicht zu erkennen, aber jeder sieht auf den ersten Blick, dass Užupis herzlicher und aggressiver ist: mehr Element, mehr vergossenes, tollwütiges Blut und mehr unvorhergesehene Naturkatastrophen. Drei Jahre gingen ins Land, und niemand hatte eine Ahnung, wohin Wojciech Zakszewski hatte verschwinden können, ein tüchtiger Metzgermeister und Oberhaupt einer frommen Familie. Keine Blutflecken, gar nichts. Ein Oberst aus der Baltasis skersgatvis gestand, zusammen mit zwei Streifenwachen die Tat begangen zu haben, und erschoss sich. Warum hatte er das bloß getan, für so ein Vergehen wäre er doch fast ohne Strafe davongekommen! Sowohl der Mossad als auch die Siguranca verliehen ihm nach seinem Tod Orden, und das KGB errichtete den Grabstein, ein nettes Beispiel für Zusammenarbeit. Genauso nett lebten in der verlassenen Druckerei und Grafikwerkstatt von Gajauskas, gleich am Tor zum Bernhardinerfriedhof, Katzen und Ratten zusammen.

Dafür ist die Geschichte von Žvėrynas irgendwie konsequenter, aus welchem Blickwinkel auch immer betrachtet. Oder vereinfacht gesagt: Žvėrynas ist wie unzerstörbares Glas. Und Užupis ist ganz anders: Es ist wie ein unerreichbares Ziel. Die beiden düsteren, heruntergekommenen und in sich abgeschlossenen Stadtviertel werden nicht nur durch die unzuverlässige Buslinie 11 miteinander verbunden, sondern auch durch den Regen, das Telefon, sexuell übertragbare Krankheiten, menschliche Mystik, Lieblosigkeit und nur selten auch durch Gefühle.

In Užupis erschreckte der Eierkopf Kolja mit seiner Militäruniform die Mädchen, indem er versuchte, ihnen unter die Röcke zu greifen, wenn er ihnen in Fischläden, Kurzwarenhandlungen oder anderswo begegnete. Einmal rutschte er auf einem vereisten Gehsteig aus, schlug sich den Schädel ein und sah einige Stunden lang erstaunt in den Himmel, bis ihn einige Säufer auf einen Schlitten legten und in die damals noch existierende Leichenhalle von Užupis schleppten. In Žvėrynas lebt dafür der Bettler Kromelninkas mit der schiefen Schulter. Sommers wie winters läuft er mit einem dicken Wollmantel herum, mischt sich nirgends ein und drängt sich niemandem auf. Wenn irgendwo Suppe ausgeschenkt wird, dann lässt sich Kromelninkas seinen Litereimer aus Blech füllen, nimmt ihn mit auf den Hof mit dem Unterstand der Zivilverteidigung und schlürft die Suppe auf dem niedrigen Dach. Ich habe ihn einmal nach Kolja gefragt, aber nein, den hat er nicht gekannt. Kromelninkas wohnt in einem kleinen Verschlag, und kürzlich hat er einen litauischen Pass bekommen, aber in welches Land kann man damit schon fahren?

In beiden erwähnten Stadtvierteln gibt es ungefähr gleich viele Poeten, Künstler und Musiker. In Užupis steht die Kunstakademie, und in Žvėrynas befinden sich das philosophische und das juristische Institut, aber die Kollektive arbeiten nicht zusammen, und die beide Parteien haben tatsächlich nur deshalb noch keinen Krieg gegeneinander geführt, weil sie nie aneinander gegrenzt haben. Die Migration von Žvėrynas nach Užupis und umgekehrt ist auffallend gering, aber es lohnt sich nicht, daraus irgendwelche Schlussfolgerungen zu ziehen, und ich glaube auch nicht an Untersuchungen, denen zufolge die Bewohner von Užupis flachere Schädel und stärker herabhängende Unterlippen haben sollen als die Bewohner von Žvėrynas. Das sind Phantasien, und den »Baltischen Untersuchungen« habe ich noch nie getraut.

Die jährlichen Niederschlagsmengen und die Temperaturen in den beiden Stadtteilen unterscheiden sich so gut wie gar nicht, und der allgemeine Zustand der Kanalisation, der Wasserleitungen und anderer Errungenschaften der Zivilisation ist sowohl auf der einen als auch auf der anderen Seite fast gleichermaßen beklagenswert, nur sticht einem in Užupis das Elend stärker ins Auge, denn dort sorgen die Künstler mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln dafür, dass sich auf keinen Fall etwas verändert.

Weder in Užupis noch in Žvėrynas gibt es anständige Bordelle oder gute öffentliche Toiletten, sieht man einmal von den Botschaften, den Einfamilienhäusern oder den Missionen in der KGB-Siedlung an der Krivių gatvė in Užupis oder in dem an der Nėris gelegenen Komponistenviertel in Žvėrynas ab. Verschlägt es einen an einen solchen Ort, kann man sich sicher und musikalisch erleichtern und sich an einem schwedischen Wasserhahn der Marke »Gustavsberg« die Hände waschen, aber in Užupis gibt es einen solchen Luxus nur in dem Café gegenüber von der »Blanchisserie«.

In Žvėrynas fühle ich mich sicherer. Užupis kann ich auf sonderbare Art nicht leiden, aber es steht mir näher, denn dort habe ich Blut gespuckt und Galle hochgewürgt, dort bin ich als Fledermaus geflattert und einsam und verlassen gestorben. Žvėrynas finde ich gemütlicher, besonders wenn ich dort sitze und mein Pfeifchen schmauche. Manchmal ärgere ich mich insgeheim über die frei herumlaufenden Hunde und die frei herumlaufenden Frauen, die sich immer wieder mitsamt ihrer Oberweite über mein niedriges Fensterbrett hängen und fragen: »Gibt es hier Ratten? Gibt es hier Mäuse?« Und dann platzen sie ganz unverblümt heraus: »Hast du ein Präservativ?« Onega Mažgirdas würde so eine Frage nie stellen, und auch die Schottin Dolores Lust nicht, Grand Trix verwendet grundsätzlich keine Gummis, und Nabė … na, wechseln wir lieber das Thema.

Nach meiner Rückkehr aus dem sonnigen Suvalkija war mir in Žvėrynas an den endlos langen Sommerabenden traurig zu Mute, aber wäre ich in Užupis nicht mindestens genauso niedergeschlagen gewesen? Na also. Auch an diesem Spätnachmittag war ich traurig. Als ich endlich ausgeschlafen hatte, öffnete ich das Fenster im Erdgeschoss und betrachtete die Pfützen auf dem Hof, das ungepflegte Gras und Pirštinė, die sich über das Gurkenbeet beugte. Ich torkelte auf den Hof hinaus, legte mich auf die harte Bank und nickte wieder ein; auch Nachbar Jakovas hatte sich dort bereits zu seinem Mittagsschläfchen niedergelegt.

Als ich wieder erwachte, war es noch nicht dunkel, aber es herrschte schon eine abendliche Stimmung wie in dem romantischen Gedicht von Maironis »Abend auf dem Vierwaldstätter See«. Jemand hatte mir eine große Tasse Tee gebracht, und ich wusste, was das für ein Tee war: Er kam aus Hamburg, hieß »Cliffield tea«, stammte angeblich aus Ceylon, und auf der weißen Packung war ein blaues Segelschiff abgebildet, doch war ich mir ziemlich sicher, dass es nicht die Teeblätter transportierte. Ich wusste, wer die Tasse gebracht und zwischen den Wegerichblättern auf den Boden gestellt hatte, denn ich gab immer großzügig »Teegeld«; in Žvėrynas hat sich dieser Brauch seit Čechovs Zeiten gehalten, obwohl der große Dichter Čechov nie in Žvėrynas gewesen ist. Selbst schuld, sicher hätten ihm der gesunde Kiefernwald und die Datschen gefallen, überhaupt das ganze zaristisch-kleinstädtische »Zverinec« mit seinen Holzhäusern; nach Užupis hätte er dagegen bestimmt keinen Fuß gesetzt. Auch Turgenev hätte sich hier wohl gefühlt, Gercen und Dobroljubov bestimmt auch, denn im Grunde ihres Herzens waren sie ehrbare Adlige und Kleinstädter und liebten ihr russisches Zarenreich und damit auch Žvėrynas mit schmerzlicher Inbrunst.

Ich würde noch ein wenig an meinem Tee nippen, und vielleicht würde es mir auch gelingen, über den Abend in Žvėrynas auf dem Vierwaldstätter See zu berichten. Ja, vielleicht würde es mir gelingen.

Ein ausgelaugtes, aufgedunsenes und zu einem weichen Lappen zerkochtes Teeblatt schwappte zusammen mit einem kleinen Schluck des schwarzen Getränks in meine Mundöffnung, schlüpfte am Gaumen vorbei, stürzte unwiederbringlich in meinen Schlund und stieß schließlich in der vollständigen Finsternis meines Magens auf Grund. Ein schwarzes, weiches Blatt, in Ceylon gewachsen und um die halbe Welt bis zu meinen Lippen gereist, wenn auch kaum mit diesem blauen Segelschiff, ein kleines Teeblatt, das möglicherweise den Keim einer tropischen Infektionskrankheit in sich trug. Zum Beispiel Amok? Der trat in einem von hundertdreiundzwanzigtausend Fällen auf, nur nicht bei Zigeunern, denn die hatten im Laufe der Jahrhunderte Immunität erworben. Juden und Polen erwischte der Amok dafür umso häufiger, und als Allerletzte wurden auch die Litauer Opfer der Raserei, und daran waren weder Ceylon noch Indien schuld. Ich selbst genoss lange Zeit aufgrund meiner Armut, meiner Enthaltsamkeit und meines guten Willens Schutz, und darum blieb ich auch diesmal unbeschadet mit meiner Tasse Tee unter dem alten Flieder sitzen; die Bildungskommission garantierte mir dieselbe Immunität wie den Zigeunern, und darum konnte ich in aller Ruhe diesen Abend auf dem Vierwaldstätter See genießen, obwohl ich regelrecht spürte, wie ein Amokerreger in meinem Körper umhertrieb.

Ich blieb also gesund, aber meine arme Nabė kam plötzlich von irgendwoher gestürzt und wand sich neben mir inmitten der Schwertlilien, Disteln, Sumpfdotterblumen und Hundskamille. Sie hatte jede Menge Relanium, Elanium, Tisercin und Brom geschluckt und Rizinusöl, Wermut und lauwarmes Wasser mit Soda hinterhergespült, und nun reinigte sich der Körper der Unglücklichen von all den Tranquilizern, dem Amok und der Hoffnungslosigkeit: Aus allen Öffnungen und Spalten ihres flachen Körpers quollen Schaum, Geifer und bitterer Schweiß hervor, und ihre Chancen standen nicht gut, aber es gab sie noch.

Ich stand wie angewurzelt da und bewunderte ihre Grazie und ihre vornehme Hoffnungslosigkeit, während die Ärmste irgendetwas Unartikuliertes ohne Versmaß lallte, wie eine Hafenhure lachte und biedermeierliche Repliken von sich gab. Ich schreckte davor zurück, an sie heranzutreten und sie zu berühren, denn der Erreger waberte überall in der Luft herum, also setzte ich mich stattdessen auf einen Klotz neben dem Holzschuppen, und die Teetasse schlug gegen meine Zähne, obwohl es nicht kalt war. Aus Nabės Mund quollen Flüche in die Pfütze, in den Flieder und in die Blumen, und mit ihnen stürzten Wassermolche und Kröten heraus, die durch den Beifuß und die Hanfpflanzen krochen. Dann öffneten sich Nabės Poren, und gelbe Wespen und grüne Schmeißfliegen stürzten sich auf den hervorquellenden salzigen, dampfenden Höllenschweiß. Nabė läuterte sich und wurde heiterer, und die Welt glaubte zwar weder ihr noch ihren Poetismen und ihrer Infantilität, gewährte ihr aber die Gelegenheit, sich zu reinigen. Als sich aber schließlich aus ihrem Körper eine große schwarze Katze absonderte und mit einem Satz in den niedrig hängenden Wolken verschwand, zitterte mir die Tasse in den Händen, doch Nabė seufzte auf und fiel in sich zusammen wie der dünne Luftschlauch eines Sportrads – pschschsch!

Rasch holte ich aus dem Schuppen einen sauberen Kartoffelsack, stopfte das arme Mädchen hinein, nahm einen stabilen Haken und hängte den Sack an eine kräftige Metallstange; die Nachbarn klopften an ihr sonst ihre Teppiche aus, manche auch ihre Mädchen. Der Haken hielt die achtundvierzigeinhalb Kilogramm von Nabės Fleisch und Knochen mühelos aus, und Nabė zappelte zwar weiter, aber ihre Bewegungen wurden allmählich schwächer, und der Sack schaukelte nur noch leicht. Nur ein blauschwarzes Haarbüschel ragte heraus, dazu ein Gesicht, bleich wie das eines Pierrots, und ein Hals, dünn wie der einer Flasche: Der »Lorbeer der Künste« ähnelte jetzt eher einer zur Mast aufgehängten Gans.

»Meine liebe Nabė«, murmelte ich und rauchte genüsslich weiter, obwohl ich wusste, dass sie mich noch nicht verstehen konnte. »Meine liebe Nabė, ich habe für dich einen Salon in Užupis gefunden, aber du wirst ihn kaum benötigen. Du wirst es auch im Sack gut haben. Du liebst doch Poeten, Philosophen, Türken und Griechen … Schaukle ein wenig im Sack … Schau, auch Maironis hat auf einem schwankenden Kahn auf dem Vierwaldstätter See gedichtet, und du tust es in einem Sack, ach ja.« So murmelte ich und beruhigte mich allmählich wieder. Der alte und trotzdem wunderbare Kartoffelsack würde ihr Sicherheit garantieren, wie die stählerne Tür einer Kunstkammer ihren Schätzen, und ich streichelte die Stelle, wo der Ausbeulung nach zu urteilen das Gesäß der Bakkalaureatin sein musste.

Von den Wolken, die sich über Žvėrynas und dem Vierwaldstätter See zusammengebraut hatten, wehte wieder eine frische Brise. Der Sack mit Nabė schwang hin und her wie ein Ahornblatt im Wind oder wie ein aus dem Takt geratenes Uhrenpendel. Und als der Wind wieder nachließ, geschah das Wunder: Nabė erholte sich! Sie streckte die Zunge heraus, die von der Kälte ganz schwarz geworden war, und verzog fürchterlich das Gesicht, hörte aber auf zu fluchen, und die letzte Kröte, die von ihrer Zunge herab ins Gras fiel, war schon nicht mehr am Leben. Das Gift hatte Nabės Körper freilich noch nicht verlassen, denn als sie ihre Augen zusammenkniff und in meine Richtung spuckte, fiel der grüne Geifer auf ein dunkelblaues Klettenblatt herab und brannte dort ein Loch hinein, groß wie ein 5-Centas-Stück oder das Auge eines Käuzchens. Ich blickte hindurch und sah den Vierwaldstätter See, den traurigen Hof in Žvėrynas und die ganze übrige Welt, doch bald vergaß ich Lelešius, seine Tochter, Petručijo, Gvido, Nataša, Kapitän Milošas und den Wirt Markas Aurelijus, denn die Welt unter Nabės Sack erwachte zu gärendem Leben, geriet in Bewegung und brodelte wie junger Wein, wenn er warme Blasen wirft. Genau deshalb reiste mein Teeblatt mit dem harmlosen Amokerreger bereits durch den Mastdarm, verdaut und ungefährlich. Ich würde das allen einmal wünschen.

Der Sack hörte auf zu schaukeln. Nabė öffnete ihre geröteten schrägen Augen einen Spalt weit und sah sich um: »Schau!«, rief sie plötzlich. »Schau!« Seit dem vorletzten Dreikönigstag duzte sie mich nämlich, damals hatte sie mich zum ersten Mal giftig angezischt und »Schuft« genannt, und schon damals hatte sie mich zum Objekt ihrer furchtbaren Wahnsinnsliebe erkoren, der Ausdruck stammte übrigens von ihr. »Schau doch!«, rief sie jetzt. »Siehst du es?«

Ob ich was sah? Also schaute ich. Auf dem Vierwaldstätter See erschien ein blaues Segelschiff, genau wie das, das den Tee aus Ceylon transportiert. Auf ihm saß der nüchterne Maironis und weinte leise. Der Sänger, der Prälat. Die Vision war so klar, dass ich den Sack mit Nabė schaukelte und unbewusst Paul Valéry deklamierte:

Einst, auf der Weite des Ozeans

(frag nicht, wo das war!),

vergoss ich ein Glas alten Weins

in die kalten Abgründe des Nichtseins

Maironis kam näher, und Nabė, diese fürchterlich kurzlebige Schriftstellerin unserer Tage, wurde immer schwerer, ich konnte es richtig spüren. Zwar baumelte sie noch zwischen Himmel und Erde, aber ihre Formen, ihr Geruch und ihr Gewicht wurden immer irdischer und klarer, auch wenn die Formen noch etwas unproportioniert waren, ihr Atem nach Algen roch und sich über das Gewicht noch keine Aussage treffen ließ. Dennoch wurde sie immer kräftiger, und wer sich noch an seine Pubertät erinnert, der weiß, wie furchtbar diese Zeit ist: die Pickel, die Unwissenheit, die Abscheu vor dem eigenen Körper, die ersten Bartstoppeln oder Menstruationen, die klugen Ratschläge und der Spott der Erwachsenen, die die Hölle der Pubertät bereits hinter sich haben, sowie der Spott und die zweideutigen Anspielungen der Gleichaltrigen …

Ich band den Sack auf und holte Nabė herunter, und da saß sie nun nackt auf der Bank, die knochigen Hände zwischen den schlanken Schenkeln, eine lebendige Kopie von Munchs »Pubertät« und Vorbild für einen Abituraufsatz zu dem Thema »Die pubertierende Poetin auf dem Vier-Verhüterli-See«. Sie zerquetschte eine Mücke, die sich bereits voller Blut gesogen hatte, und auf ihren Fingern blieb ein kleines Bluttröpfchen zurück. In diesem Augenblick sprossen ihr pechschwarze Schamhaare, und sie pubertierte direkt vor meinen Augen und in Gegenwart meiner gesamten Nachbarschaft. Der Wasserwerkswächter, seine Frau, stoisch wie die heilige Katharina von Siena, der beinlose Schuster Stanislovas, die jungen Geschäftsleute Ruslan und Natalija, der Traumatologe Elegijus und die Schneiderin Pirštinė mit ihren schwarzen Knopfaugen, all die alteingesessenen Bewohner von Žvėrynas hielten ihre Fahrräder an und starrten sie mit großen Augen an.

Nabė veränderte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Plötzlich quoll poetisch-silbisches Blut aus ihrem Mund, sie furzte holperige »Vers libres«, kicherte zufrieden und ähnelte immer mehr einer unglücklichen, aber würdigen Poetin. Sie schwoll im Takt mit der vergänglichen Welt an, schlug schleimige Triebe aus, und ihr Körper frohlockte und kümmerte sich weder um den tränenreichen Maironis, noch um die Österreicherin Ingeborg oder um Heinrich Heines »Lyrisches Intermezzo«. Nabė reifte weiter, ja, sie behauptete sogar, bereits herangereift zu sein, aber um was für einen Preis! Es schien, als würde sie gleich vor Stolz platzen, und die Vorahnung von Ruhm dröhnte und toste wie Magma durch ihre Eingeweide.

In ihrer Kindheit, hatte sie mir einmal zaghaft erzählt, habe sie mit einer Freundin gespielt, sie seien am Strand. Sie waren allein, zogen sich aus, legten sich der Länge nach auf eine Matte, zogen Strohhüte und Sonnenbrillen an und bräunten sich unter der Lampe, während sie in zerfledderten Modezeitschriften herumblätterten.

»Wie alt wart ihr?«, hatte ich gefragt.

»Ich war zwölf, das Nachbarsmädchen dreizehn, und ihr Bruder kapierte noch gar nichts.«

»Was für ein Bruder?«

»Na, sie hatte ihren Bruder dabei, aber der war noch ein Baby.«

»Was hat er nicht kapiert?«

»Na … Wir haben miteinander gefummelt, aber nicht mehr, glaub das bloß nicht! Und wehe, du erzählst es weiter!«

»Warum sollte ich? Lass gut sein, ihr habt die Erwachsenen nachgeäfft, ihr habt euch nach ihrem verdammten Leben gesehnt.«

Ich wollte Nabė wieder in den Sack stopfen, aber es half nichts, sie passte schon nicht mehr hinein. Da kam mir ein guter Gedanke: Ich suchte nach ihrem Pfropfen, zog ihn hinaus, und die Luft entwich unter lautem Zischen aus Nabės Körper, und so hängte ich sie auf und schloss den Sack mit zwei Wäscheklammern. Ihre Überheblichkeit war leider geblieben, und bedauerlicherweise hatte sie bereits einen Punkt erreicht, an dem Ruhm und Niedertracht Hand in Hand gingen. Maironis weinte auf dem blauen Segelboot am Horizont, Ingeborg deklamierte laut »Undine geht«, und Nabė, die Quasibakkalaureatin, hing an der Metallstange wie ein Teppich, den ein nachlässiger Besitzer hatte hängen lassen.

»Man sollte die Polizei benachrichtigen«, sagte die Pania versöhnlich und ging weg, um in ihrem Garten Unkraut zu jäten. Ich rief die Wache an und schilderte die Lage. Milošas war persönlich am Apparat, hörte mir ruhig zu und trompetete dann fröhlich: »Ach, du bist es! Ich habe deine Stimme erkannt! Das geschieht dir recht! Ist sie vorbestraft? Aha, aha. Ich kann dir nicht helfen, wir essen gerade zu Abend, und danach liest der Boss aus seinem ›Neuen Sonettkranz‹ vor, da herrscht Anwesenheitspflicht, und ich kann unmöglich fehlen … Hör zu, vergiss diese Automatik. Gut, ich halte dicht. Wir treffen uns irgendwann im ›Ambasada‹, tschüss!«

In der Zwischenzeit hatte Nabė mit ihren scharfen Nägeln den mürben Stoff des Sacks aufgerissen, schob ihren dünnen Arm bis zum Ellbogen heraus und bald darauf auch den zweiten; sie hatte immer noch zwei. Sie klatschte mit ihren pergamentenen, perlmutternen Händen und begann zu schaukeln, ruhig und würdig, freiwillig und vorsätzlich. Jetzt begehrte ich sie.

Die Nachbarn hatten genug von diesem Spektakel, obwohl es kostenlos war, und zerstreuten sich. Dafür torkelte der betrunkene Maurer der fünften Kategorie Zepas Išganytojas auf dem Weg zu unserem Plumpsklo an uns vorbei, machte kurz Halt und knöpfte hastig seine Arbeitshosen auf. Seine Knie zitterten bereits vor Ungeduld, aber trotzdem überhäufte er mich mit Vorwürfen: »Warum machst du das? Warum quälst du unschuldige Tiere?« Er hielt Nabė für eine Katze. »Sind sie keine Geschöpfe wie wir? Kitzle sie, und sie lachen. Erschrecke sie, und sie weinen!« Zepas Išganytojas stampfte mit dem Fuß auf, aber da ertönte es auch schon wie fernes Donnergrollen. Er konnte sich nicht mehr beherrschen, flüchtete wie von der Tarantel gestochen in das Klohäuschen, schloss sich rasch ein, und während er bereits über der offenen Kloake hockte, rief er: »Lass sofort die Katze frei, hörst du!« Er stampfte noch einmal auf eines der fauligen Bodenbretter, und wieder rollte der Donner, aber diesmal schon etwas matter.

Was sollte ich tun? Ich musste an Rudyard Kiplings Werk »Der Schmetterling, der stampfte« denken, so viel Kunst und Literatur heute Abend, und mit dem gesamten Hof und dem Himmel als Publikum! Die Situation war unerfreulich, daran war nicht zu rütteln.

»Bleiben Sie sitzen, wo Sie sind!«, rief ich auf die kalkverschmierte Tür zu, die von der Besatzungszeit her immer noch den russischen Buchstaben »Ž« für »Frauen« trug. Zepas Išganytojas – allein der Geheimdienst MGB kannte seinen echten Vor- und Nachnamen – furzte nur noch schwach und rief nicht mehr den Effekt von Kiplings Schmetterling hervor, bevor er tatsächlich vorübergehend verstummte.

Eigentlich hatte ich durchaus vorgehabt, Nabė herunterzuholen, mochte sie in den glitschigen Hanf- und Wegerichpflanzen herumliegen! Aber dieser Teufelsbraten fühlte sich in dem Sack inzwischen ganz in seinem Element und hatte mitnichten vor herauszukriechen, schließlich hatte sie es dort warm und gemütlich. Also reckte und streckte sie sich, schlief ein und schnarchte sogar ein bisschen, eine Zikade des Nordens in einem Hof in Žvėrynas!

Zepas Išganytojas hockte immer noch hinter der Tür mit dem russischen »Ž«, offenbar dachte er ernsthaft über etwas nach.

Der letzte Zuschauer war meine Frau Terezija, die ihren üblichen Gogel-Mogel mixen und sich noch einmal die Haare waschen wollte. Sie wusch sich mindestens zweimal am Tag die Haare, das hatte ihr Krishna im Traum geraten, außerdem wurden angeblich auch die Gedanken durch das Shampoo aufgeschäumt und erhellt. Wenn Terezija die anständige Vertreterin der mitteleuropäischen Mentalität und Lebensart war, dann hätte man Nabė mit einem Menschen vergleichen können, der als Säugling von Wölfen aus einem mittelasiatischen Dorf geraubt und in einer Bärenhöhle gesäugt worden war und dem die Menschen erst später Sprechen und Essen mit dem Löffel beigebracht hatten. Jetzt schnarchte diese Wölfin wie eine Zikade, und ich blieb allein mit dem schlafenden Raubtier zurück. Die Yacht von Maironis näherte sich unendlich langsam, vielleicht hatte der Wind gedreht?

Aus dem Klohäuschen ertönten noch ein paar heftige Fürze von Zepas Išganytojas, als wolle er daran erinnern, dass er noch am Leben sei, aber da zog schon ein kräftiger Mann meine Aufmerksamkeit auf sich, der auf den Hof getorkelt kam. Er trug einen dichten Bart und eine ärmellose Zeltstoffweste, und auf einer der vielen Taschen war ein Abzeichen mit der Aufschrift »Human right« aufgenäht, auf dem zwei kräftige Hände Ketten zerrissen. Der Menschenrechtsbeauftragte für ganz Žvėrynas und Užupis also, ein bekannter Künstler, Chirurg und Wohltäter. Er war ganz offensichtlich angetrunken und bestimmt nicht nur mit zornigen Worten gegen die Unterdrücker gewappnet, sondern auch mit einer anständigen Mauserpistole. Zum Glück schnarchte Nabė immer noch und schaukelte weiter in ihrem Sack, und der Human-Right-Aktivist interessierte sich kaum für sie. Er war versöhnlich aufgelegt, zog eine angebrochene Flasche Wein hervor und deklamierte ein wenig aus seinem neuesten Opus, bevor er sich aufs Gras warf und ebenfalls einschlief.

Ich sehnte mich danach, allein zu sein, die Ereignisse und die Lage in Žvėrynas in Gedanken an mir vorbeiziehen zu lassen und vielleicht auch unter irgendeinem Vorwand Grand Trix aufzusuchen, die auf der anderen Straßenseite lebte, und mich nach den Seufzern von Leonardo Cohen zu erkundigen, aber Pustekuchen! Der Menschenrechtsaktivist schnarchte so laut, dass selbst noch in der Treniotos gatvė die Elstern aus ihren Nestern emporflatterten und Nabė im Schlaf zu sprechen begann.

»Schatz«, brabbelte sie, »warum liebst du mich so furchtbar? Warum? Weshalb hast du mir damals diese Clips nicht gekauft? Oder diese Jeans?«

Es bot sich folgendes Bild: Von dem jungen Ahornbaum fielen goldene Maikäfer auf Nabė und auf den schlafenden Kämpfer für Menschenrechte herab, und Zepas Išganytojas kam endlich aus dem Klohäuschen heraus und verkündete lautstark im Vorbeimarsch: »Die Tschetschenen haben gerade Gudermes eingenommen!«

»Geh kacken!«, wollte ich ihm entgegnen, doch da fiel mir ein, dass er das schon getan hatte.

Nabė schlug ihre Augen auf, drehte sich im Sack um und begann, mit ihren mandelförmigen Augen den Himmel zu betrachten, der rötlich gefärbt war wie eine halbreife Pflaume. Eine Fregatte nahm die Yacht von Maironis unter Beschuss, und die in der Ferne hallenden Schüsse weckten Ksaveras, das war dieser Menschenfreund und Kämpfer, und er begann, mit herzzerreißender, hoch erhobener Stimme von der Lage in den Gefängnissen der Republik zu erzählen: »Wie Ratten pfercht man die Häftlinge dort zusammen und wirft ihnen Abfall vor!« Dann murmelte er ganz unvermittelt, dass er morgen gar vorhabe, Tibet vom verbrecherischen chinesischen Joch zu befreien, und bat mich, ihm sieben Litas und eine Automatik zu borgen. Ich zuckte zusammen, als ich dieses Wort vernahm, aber er winkte ab und erzählte bereits irgendetwas über die Gesundheit eines Poeten, den er soeben besucht habe und der auf Schmerz spezialisiert sei, und über seinen Familienstand. Ich solle ihm helfen, am besten mit Tee und Tabak, was ich davon hielte? Ksaveras war wirklich ein universell begabter Mensch, und so legte er mir seine Ansichten über die Anhänger von Smetonas, von Landsbergis und von Erlickas dar, erläuterte seine unerschütterliche Auffassung über Leberzirrhose und die Rolle der »Sergeanten« im Krieg der Literatur, beklagte sich über die skandalöse Ignoranz der Akademie der Wissenschaften gegenüber seinen Werken, und am Ende rief er so laut »ich will Bier«, dass sogar Nabė zusammenzuckte.

»Was ist denn das da?«, fragte Ksaveras erstaunt, als er den zappelnden und strampelnden Sack bemerkte.

»Ach, nichts«, antwortete ich. »Ich habe mir da so ein merkwürdiges kleines Tierchen gezähmt. Und falls du es schon so genau wissen willst: Hier ist der Abend in Žvėrynas auf dem Vierwaldstätter See.«

»Gut«, erwiderte Ksaveras. »Darum kümmere ich mich später.« Und er verlangte so heftig nach Bier, dass ich Pirštinė in den 24-Stunden-Laden schickte. Er kippte zwei Flaschen in einem Zug hinunter und schlief wieder ein, während sich Nabė aus dem Sack herauswand, unverschämte Forderungen erhob und Flüche gegen Türken, Berliner, Philosophen und überhaupt gegen all jene vom Stapel ließ, die sie jemals kennen gelernt hatte. Ich überlegte, ob ich sie zur Polizeiwache bringen und mitsamt dem Sack durchs Fenster werfen sollte, mitten in das Sonettkränzlein hinein, aber das Polizeikollektiv würde über einen solchen Streich wohl kaum in Begeisterungsstürme ausbrechen. Da bekam ich eine gute Idee: Ich würde sie als Paket verschicken! Und so versah ich den Sack notdürftig mit Aufklebern »Par Avion«, »Mit Luftpost«, »By Air Mail« und »Express«, um ihn tags darauf aufzugeben. Das Postamt war nicht weit, und ein bekannter Flieger würde schon am nächsten Morgen zum Vierwaldstätter See fliegen, hin zur ewigen Poesie. Ein Wasserflugzeug konnte auch auf den Wellen landen, wenn es welche gab, weich, wie eine Glucke auf ihren Eiern, und es würde auf dem Rückflug den weinenden Maironis mitbringen und vielleicht auch irgendeinen litauischen Kulturattaché in der Schweiz, der bewegte dort ohnehin nichts …

Nabė, die das Gehör einer Wölfin hatte, musste meine Gedanken vernommen haben, denn sie begann zu winseln und versprach, gehorsam zu sein, jetzt, überall und immerdar, aber von solchen Versprechen hatte ich mir schon mehr als genug anhören müssen, und so ließ ich mit voller Lautstärke »Radio Free Europe« laufen.

Türler ve etiketler
Yaş sınırı:
0+
Hacim:
520 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783898968560
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
epub, fb2, fb3, ios.epub, mobi, pdf, txt, zip