Kitabı oku: «Fürstin des Nordens - Trilogy», sayfa 3

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Aller Anfang…
1

Die Sonne ging unter. Von hohem Südturm hatte man einen herrlichen Blick auf das Grün der Kieferwälder, die nur von den felsigen Schiefergebirgen im Norden und dem grauen Matsch unterhalb der Burg unterbrochen wurde. Das Sägewerk weit hinten am Fluss arbeitete scheinbar ohne Pause. Einzelne Lichter und das Geräusch von Menschen und harter Arbeit drangen bis zu ihr. Claudile Alemont saß betrübt auf einer Zinne und dachte nach.

Sie witterte zwei Rehe, wie sie vorsichtig durchs Unterholz liefen und den einzelnen Wolf, der knapp vierhundert Schritte ihre Fährte aufgenommen hatte. Fern der Stadttore unterhielten sich schnatternde Gänse in einem künstlich angelegten Teich, während Kühe und Schafe auf einer Weide zur Ruhe kamen. Eine Hasenfamilie huschte durch dichtes Blattwerk am Rande der Mauer. Das und noch viel mehr nahm Claudile war. Sie konnte nicht anders.

Francesco machte sich keine Mühe leise die Treppe nach oben zu gehen. Mit Pfeife und einem Tablett mit einem Glas Wein kam er oben an und blickte sie kritisch an. „Eure Ladyschaft“, begann er langsam, „ich habe wiederholt darauf hingewiesen, dass die Etikette am Hof geachtet werden muss. Ihr trag noch immer meine Uniform.“

„Ich weiß, dass du es gesagt hast“, maulte sie leise.

„Warum macht Ihr es mir so schwer?“

„Männerhosen tragen sich gut. Wen, bitte schön, soll ich hier beeindrucken!?“

Francesco stutzte kurz und reichte ihr den Becher. „Guter Punkt“, gab er zu und stöhnte behaglich, als er auf den Schindeln sich zurücklehnte. „Wie denkt Ihr darüber?“

„Dieser Ort ist grauenhaft. Über allem liegt Angst wie ein nasses Segeltuch. Sie fürchten sich. Der Ort macht mich krank.“

Francesco nickte ernst. Er kam aus der Gosse, zugegeben. Beim Militär hatte man ihm Selbstdisziplin, das Marschieren und den Umgang mit Waffen beigebracht. Seit seinem erzwungenen Dienst als Privatlehrer hatte er sich daran gewöhnt jeden Tag zu Baden. Daheim am Hofe des Werwolfskönigs hatte selbst er Diener gehabt, die ihm jeden Tag die Kleider zurechtgelegt hatten. Man kochte für ihn, man putzte ihm die Stiefel und Geld spielte keine Rolle. Aus offensichtlichen Gründen. Zu seinem Glück interessierten sich die Werwölfe seit langem für höfische Etikette. Das hatte ihm einen gehobenen Lebensstil eingebracht. Jetzt stand er wie Claudile sprichwörtlich im Matsch und musste für sich selbst sorgen. Denn Diener gab es hier nicht. Noch nicht, berichtigte er sich.

„Die Koffer sind ausgepackt und der Kutscher hat die Rückreise angetreten.“ Er beugte sich etwas vor. „Der Baron hat die Leute terrorisiert. Über Jahre fürchteten sie seine Willkür. Er nahm sich alles, was er brauchte…“

„Genug.“

Francesco gehorchte.

Nach einer Weile sah sie ihn traurig an. Ihre gelben Augen stachen beeindruckend durch die aufkommende Düsternis des Abends. „Ich will das nicht. Ich will heim, Francesco.“

„Wenn Ihr geht, bekommen wir beide Ärger, vergesst das nicht. Die Königin hat uns aufgetragen, dieses Land zu halten. Es ist, wie es ist.“

„Mir gefällt das nicht“, entgegnete sie knapp und beobachtete die Rehe, wie sie vor dem Wolf Reißaus nahmen. Sie hatten seine Witterung aufgenommen. Anfänger, dachte sie säuerlich. „Heute auf dem Platz roch ich ihre Angst. Sie werden in ihren Häusern bleiben und sich verschanzen. Wie sollen sie mich lieben?“

Und da haben wir das Problem, dachte Francesco säuerlich.

Kein Mensch kam auf die Idee, sich offen gegen die dominante Spezies zu stellen. Tat man es doch, waren die letzten Sekunden gezählt. Sie mussten keine Rücksicht nehmen. Selbst, wenn alle Burgen verfallen und alle Dörfer menschenleer waren, so konnten die Werwölfe weiter durch die Wälder streifen. Es änderte sich kaum etwas für sie. Und dann war da Claudile…

Claudile nahm die Leiden und Sorgen der Menschen persönlich. Sie wollte alles besser machen, für jeden. Aber wenn man ein Werwolf war, durfte man sich nicht mit dem Menschen auf eine Stufe stellen.

Jeder hing seinen Gedanken nach.

„Haben wir Gold?“ fragte sie nach einer Weile.

„Die Kammern sind voll, möchte ich meinen. Wir haben genau vierzehntausend und sechshundertdreiundreissig Norfesta-Münzen. Sowie eine ansehnliche Sammlung an Perlenketten, erlesenen Büchern und Ölgemälden. Entweder ist der Baron ein Meister in Kalkulation gewesen, oder er hat sich nicht um die Rechnungen gekümmert. Sicherlich müssten einige Schulden beglichen werden. Sein Arbeitszimmer ist ohne System, aber da arbeite ich mich schon rein.“

„Wir werden die Leute bitten, wieder zurückzukommen.“

„Das wird nicht einfach.“

„Wir sollten ein Fest geben.“ Ihr Gesicht hellte sich etwas auf. „Ich will Musik und Tanz.“

„Eure Ladyschaft“, begann Francesco langsam aber hielt in einem neuen Gedanken inne. „Ich meine, Ihr seid jetzt Fürstin von diesem Ort. Wir werden gemeinsam dieses Problem lösen, aber bedenkt, dass Ihr eine höhergestellte Person seid! Von nun an delegiert Ihr. Ihr seid nicht wie die. Wie ich“, fügte er leise hinzu. „Menschen haben zu gehorchen!“

„Ich fange morgen an, eine Fürstin zu sein.“ Sie stand auf – nicht wie ein Mensch, sondern fliesend wie ein Werwolf mit der Grazie einer Antilope. Einer Antilope mit Zähnen. „Jetzt will ich jagen.“

Francesco stöhnte leise. „Seid aber pünktlich wieder zuhause. Und lasst Euch nicht von anderen Tieren provozieren.“

Claudile zog den Soldatenrock und die Stiefel aus und stand nun barfuß und nur mit Unterhemd und Hose bekleidet dar. Von weitem konnte man sie fast für einen jungen Mann halten, der seine Haare wild und lang wachsen ließ. Von sehr weit weg.

Sie wandte sich kurz um und nickte ihrem Freund zu. Dann ließ sie sich nach hinten fallen.

Der Mann lächelte knapp, griff zum Becher und blieb noch ein bisschen auf den Schindeln liegen. „Bleibt mehr für mich.“

Wie ein Geschoß flog sie in die Tiefe, passierte das Ende der Mauer und drehte sich im richtigen Moment, um sich kurz vor dem Aufprall abzurollen und sofort wieder wie ohne Blessuren stramm stehen zu können. Wie die meisten Werwölfe hatte sie das Maximum ihrer körperlichen Leistungsfähigkeit längst erreicht und als Sprinterin und Jägerin sich den Respekt ihres Rudels verdient. Das kurze Donnern ihres Sturzes verklang schnell. Sofort nahm sie den Wald war, seine Geheimnisse, seine zahllosen Fährten. Und ihre Beute.

Vor ihr duckte sich der Wolf hin und knurrte leise, als sie sich ihm näherte. Er schnupperte aufgeregt und versuchte den neuen Geruch einzuordnen.

Wir sind viele, vernahm sie mit ihren Sinnen. Du bist anders – nicht wie er!

Der Jungwolf heulte leise.

Geh weg, signalisierte sie. Das ist mein Revier.

Zwei weitere Augenpaare erschienen im Dunklen. Lefzen wurden gezogen, und sie begannen ihr Spiel, indem sie sie umkreisten. Knurrend bewegten sie sich vorwärts.

Claudile kannte das Genüge. Wölfe waren nicht dumm. Sie spürten Gefahr, aber sie forderten auch gerne heraus. Zähne wurden gebleckt. Wenn sie weglief oder aufgab, war ihre Dominanz dahin. Der Wald hatte ein Gedächtnis.

Wir beißen. Wir reisen. Du wirst dein Rudel nie wieder sehen.

Triumphierend bellten die männliche Wölfe und machten sich zum Sprung bereit.

Claudile lächelte und griff an.

Die Bewohner von Blaqrhiken duckten sich auf ihren Schlaflagern, als sie das Gebell hörten. Wenige schliefen weiter. Die meisten konnten nicht schlafen, horchten in der Dunkelheit und fürchteten die Geräusche, die nichts Gutes brachten. Der Wald bot keinen Schutz für Menschen, sondern war eine grüne Mauer um sie herum – mit einem Monster in ihren Reihen. Kinder wichen näher an ihre Eltern heran, wimmerten leise. Begütigende Laute der Eltern brachten nicht den ersehnten Frieden, da ihre eigenen Stimmen zitterten. Der Wald hatte ein Gedächtnis.

Und er wusste, wo es gefahrlos Fressen gab.

Das Mädchen des Försters lag in ihrem Bett und kauerte hilflos in einem Wulst aus Decke und Kissen. Das Trippeln von Pfoten auf dem Dach hatte sie aufgeschreckt. Es kam vor, dass Wölfe des Nachts kamen und nach Beute Ausschau hielten. Nie die erste Wahl für einen Wolf – wie gesagt, sie waren nicht dumm – aber eine lohnende Sache für den Jäger. Das Mädchen richtete sich auf, lauschte ins Dunkle ihres Zimmers und rüttelte hastig an der Schulter ihres Vaters. Langsam kam er hoch und starrte zu der Stelle des Zimmers.

Und dann bewegte es sich in das hereinfallende Licht des Mondes, so dass man ihn gerade eben erkennen konnte, ein Schatten aus einem Alptraum: Canis Lupus – ein Wolf.

Immer wieder prüfte er den Raum. Mit seinen unnatürlich glatten Wänden und dem menschlichen Gestank, der nach Furcht roch. Die Krallen scharrten über den Boden, und alles in ihm drängte daran, wieder raus in den Wald zu laufen. Auf der anderen Seite saßen zwei Menschen und sahen ihn nahen. Aber sie flohen nicht. Sie gaben selten ein Geräusch von sich, sahen sie nie kommen, sondern standen bloß da. In regelmäßigen Abständen gingen sie schlafen, standen wieder auf und taten, was Menschen tun. Die Menschen merkten nie etwas. Sie lasen keine Spuren, sondern trampelten über sie hinweg. Sie machten Lärm, aber konnten nicht kämpfen. Sie bemerkten sie nie. Sie waren dumpf, verweichlicht und langsam. Im Rudel konnten sie gefährlich werden, mit ihren Spitzen und dem Feuer, um das sie sich gerne scharrten. Aber jetzt nicht. Der Mann war kein Problem – ein schneller Sprung an seine Kehle und dann das Kind. Es würde schnell gehen.

Die Menschen sprachen miteinander.

Er fragte sich, ob ihre Knochen so zerbrechlich waren wie die eines Kaninchens. Er fragte sich, ob sein Blut so warm war wie das des Rehs, dass vor wenigen Tagen das Pech hatte, ihm zu begegnen.

Genug des Wartens.

Plötzlich hielt er inne. Ein unerwartetes, plötzliches Chaos. Krieger, die schreiend starben. Dort flammte es auf, rauschte über die Bäume und hielt auf ihn zu. Kein Mensch. Kein Tier. Nein, es war schlimmer.

Der Wolf blinzelte verwirrt. In seinem Kopf wirbelten Fragmente von Erinnerungen und Instinkten herum, die er nicht einordnen konnte. Der alles durchdringende Schmerz des Verlustes, eines unwiederbringlichen, betäubenden Verlustes strömte durch seinen Körper. Er bedeutete nichts und alles.

Das Fenster gab nach, etwas Schweres und sehr Kraftvolles landete vor ihm auf den Boden und rollte sich perfekt ab. Der Wolf duckte sich weg – nicht wegen der Kraft eines ausgewachsenen Bären oder der Schnelligkeit einer Schlange, sondern wegen dem Geruch. Der Geruch von etwas sehr Altem, das sich behaupten konnte. Etwas wölfischem, aber dazu etwas Kaltem und sehr Scharfem.

Sie.

Die Meister waren nicht willkommen. Sie gehörten nicht zum Wald – nicht zu diesem Revier weit hoch im Norden. Das Licht und die Kraft. Mehr Kraft als Mensch. Mehr Licht als Wolf. Aber sie gehörten nicht hierher…

Mein Revier, bellte er.

Gewesen, sagte die Präsenz.

Er jaulte leise, als er die Meisterin erkannte.

Ihre strukturelle Perfektion wurde nur noch von ihrer Feindseligkeit übertroffen. Sie war eine Überlebende, die sich weder durch Bewusstsein, Gewissen oder moralische Illusionen behindern ließ.

Der Wolf legte sich hin und jaulte seine Zustimmung.

Was blieb ihm anderes übrig?

2

„Der Wald ist unruhig. Die natürlichen Pfade werden nicht mehr gegangen. Es wird Wochen dauern, bis sie wissen, wie es zu laufen hat“, sagte Claudile am nächsten Morgen, als sie allein mit Korporal Axel über die Straße zum Marktplatz ging. Sie trug gemäß der Etikette ein doppelgewebtes Kleid mit Rüschen, die an sich schon übertrieben vornehm wirkten. Zum Glück war das ganze Kleid blutrot, so dass niemand den Prunk auffallen würde. Über ihre Augen trug sie eine dunkelglasige Brille, die ihre Augen vor dem Licht der Sonne schützen würde. Nach einer anstrengenden Nacht beliebten es die Herren, sich zu schonen. Sie wirkte sehr müde; und nicht nur in körperlicher Hinsicht. Sie hatte schweigend zugehört, als der Korporal berichtete, was die Leute in aller Frühe auf dem Marktplatz gefunden hatten. Leichen.

Von Wölfen.

Er blickte sie von der Seite aus an. „Wölfe haben des Öfteren uns heimgesucht.“

„Ja, sie brauchten einen Denkzettel.“

Er schluckte als Antwort.

Sie deutete auf die Blutlachen vor sich. „Lyren hat als Wolf versagt – das ist schlimmer als seine Verbrechen gegen euch. Er darf kein Mitleid erwarten.“ Sie spazierten rüber zu einem Fleischerstand, der zufälligerweise Wolf im Angebot hatte. Es waren nur drei gewesen, erinnerte sich Claudile dumpf, die sich hässlich ihr gegenüber geäußert hatten. Der Rest war über die Berge verschwunden. „Die Wölfe werden euch nicht mehr behelligen, denke ich.“

„Denkt Ihr, so.“ Der Korporal blickte sie zweifelnd von der Seite an.

„Ja, könnte natürlich sein, dass ein weiterer Jungwolf mich herausfordern will. Ich denke, kurz vor dem Winter solltet ihr achtsam sein.“

„Wir Menschen?“

„Ja. Aber genug davon. Führt mich herum.“

„Na schön, wie Ihr wollt.“

Aus der Nähe betrachtet war Blaqrhiken noch schlimmer als befürchtet: Berge aus Müll stapelten sich in den Gassen, Kinder mit verdreckten Gesichtern liefen durch gefrorenen Matsch und spielten mit einer toten Ratte während Erwachsene sich an starkem Selbstgebranntem erfreuten.

Axel bewegte sich ganz wie ein Gentlemen und deutete auf die Gasse vor ihnen. „Dort leben die Schwestern des Schmieds, den ihr gestern getroffen habt. Sie haben den Blechschmied Erich geheiratet. Das heißt, nur Eine von ihnen, aber die andere fühlt sich sehr wohl im Haushalt und jetzt muss Erich für sie beide sorgen. Seht Ihr den hageren, kleinen Mann hinter seinem Arbeitsplatz? Das ist Erich. Heh, Erich!“ Er winkte dem Mann zu, der mit offenem Mund halb zu schlafen schien. Er wirkte blass und völlig ausgelaugt. „Armer Kerl. Sie nehmen ihn zu hart ran…“

„Ihr meint, …“ Claudile errötete leicht.

„Schrecklich, nicht wahr?“ Axel wirkte ehrlich mitfühlend. „Sie wollen, dass er doppelt so hart arbeitet. Ich weiß aber, dass die beiden die ganze Zeit nur in ihrem Laden sitzen und über die Leute herziehen. Sie sind das Sprachrohr der Gemeinde, könnte man sagen.“

„Ach so.“ Die Fürstin nickte dem Mann mitfühlend zu. „Er wirkt auch nicht glücklich.“

Alle Häuser und Zelte spotteten der Beschreibung Behausung. Was dieser Ort brauchte, waren Handwerker. Aber die kosteten Geld, und wie es um die Finanzen stand, bemerkte sie, als sie am Stand des Bäckers die Auslage sah: graue Klumpen erinnerten in der Ferne an Brot. Das Brot sein sollte, aber kaum als Nahrungsmittel durchging. Probeweise nahm sie eins in der Hand und witterte Wasser, etwas altes Mehl, Sägemehl und braune Brocken, die sie nicht identifizieren wollte. „Was soll das sein?“

„Brot.“

„Wo sind die Pasteten, für die ihr so bekannt seid?“

Der Bäcker starrte sie aus einer Mischung aus Wut und Verwunderung an. Er selbst wirkte, als hätte er selbst seit Wochen nicht mehr richtig gegessen.

„Vergesst die Frage“, beeilte sich Claudile zu sagen und eilte schnell hinter Axel weiter.

„Seht Ihr das Haus am Ende der Gasse? Dort oben wohnt die Glückliche Bettina. Sie ist mit Erich, dem Müllkutscher verheiratet und hat sechszehn Kinder. Ja, Ihr habt richtig gehört. Wissen nicht, wie sie alle ernähren können, aber ihre Liebe ist schon legendär. Lassen sich praktisch nie aus den Augen. Sehr romantisch, findet Ihr nicht?“

Claudile ächzte beinahe unter der Vorstellung und unterdrückte ein Grinsen. „Sechszehn! Das ist erstaunlich, sage ich nur.“

„Dort in dem Ziegelhaus leben und arbeiten die Ghrosnik-Brüder. Drillinge, um genau zu sein. Und die besten Holzfäller, die es gibt. Tun keiner Fliege etwas zu Leide, aber wenn sie beim Bärendrücker waren, dann gehe ich ganz bewusst nicht auf Streife, wenn Ihr versteht, was ich meine.“

„Bärendrücker? Eine Taverne“, fragte sie.

„Ja, sie ist dort drüben. Bester Schnaps aus gegorenen Kartoffeln. Der Wirt lässt anschreiben. Seine Spezialität sind Kartoffelscheiben in der Pfanne mit Ei und Wurst.“

„Wirklich?“

„Vor Jahren schon.“

So ging es weiter und weiter. Korporal Axel kannte alles und jeden, und jeder kannte ihn. Axel vermied es, auf die hervorstechenden Probleme zu weisen sondern erfüllte seine Pflicht als Stadtführer vorbildlich.

Der gutaussehende Mann nahm keinen Anstoß an ihrem wahren Wesen. Aber die Reaktionen der anderen Leute blieben nicht ohne Einfluss auf Claudile. Es bereitete ihnen Unbehagen, sie in ihrer Mitte anzutreffen. Nach einer Weile sprach sie es doch an: „Warum hungern die Menschen?“

„Sie wurden nicht bezahlt. Der Bäcker mischt gemahlene Nüsse in das Mehl, das zuvor mit Sägemehl gestreckt wird. Natürlich kein Vergleich zum alten Brot, aber von irgendetwas müssen die Menschen leben.“ Er blickte ernst zu ihr. „Es ist nicht erlaubt zu Jagen. Nicht nur Hirsche, sondern auch Wildschweine und Hasen. Versteht ihr das Problem?“

„Sie sind hiergeblieben – warum?“

„Wo sollten wir hin?“

„Hinter den Bergen im Westen beginnt das Königreich der Menschen.“ Ganz ohne Werwölfe, dachte sie, und erzähl mir nicht, das hätte niemand versucht.

Axel schien zu überlegen. „Könntet Ihr mit eurer Familie zwei Tage durch einen dichten Wald flüchten, nur um dann an einer Gebirgskette stehen zu bleiben? Es führt kein Weg über das Gebirge. Der Westen ist versperrt. Der Norden soll nur Eisflächen bieten, und der Osten ist dichtes Waldgebiet. Man erzählt sich, dass Menschen tagelang umhergeirrt sind, bevor sie schließlich an Erschöpfung starben. Wir sind nur Menschen, Herrin. Die Wölfe und Bären leben dort.“

„Mmh.“

„Sich gegen die Wünsche eines Werwolfs zu stellen, bedeutet den Tod zu wählen, Herrin.“

„Ah, ja. Nun, bei mir nicht“, antwortete sie selbstbewusst. „Bei mir darf jeder sagen, was er zu sagen hat.“

Claudile sah zur Seite und sah aus einem verfallenen Gebäude einen grauhaarigen, kräftig gebauten Mann treten, der sie bei den Worten missbilligend anstarrte. Er trug einen dunkelbraunen Leinensack mit schmalen, dunklen Streifen auf Schultern und Ärmeln und hatte ein kantiges Gesicht und einem schlotterweißen Bart, der ihm fast bis zum Bauchnabel reichte. „Als Herrin eurer Ländereien solltet Ihr euer Volk zu ernähren wissen!“ schimpfte er laut und kam näher. Ohne Furcht stellte er sich offen vor ihr hin und maß sie mit seinen dunkelbraunen Augen, als wäre sie ein Ärgernis, das er zurechtrufen müsste. „Seht die großartige Fürstin, wie sie durch unsere Reihen stolziert!“

Claudile war verblüfft.

Korporal Axel kam zur Hilfe. „Das ist Pater Brain. Er wacht über den Seelenfrieden der Gemeinde. Hör mal, Brain, das muss…“

Claudile wollte eine Frage stellen, aber Pater Brain bedeutete ihr zu schweigen. „Habt Ihr das ernst gemeint? Das jeder offen sprechen darf?“ grollte er mit tiefer sonorer Stimme.

„Ja, aber…“ Sie unterbrach sich für einen Moment. „Ihr seid verstimmt, …“

„Aber was kümmert es den Bauer, was die Schweine denken“ sagte der Pater laut, so dass es alle hören konnten. „Mächtige Männer werden immer mächtiger, reiche Männer immer reicher. Welche Macht wählt aus, wer arm ist und wer reich?“ Sein Blick war eisig, als er sie musterte.

„Ich war nie besonders religiös“, gab Claudile zu und kämpfte gegen den Drang an, laut zu bellen. „Ist das nicht euer Gebiet?“

Pater Brain verzog das Gesicht, als hätte er auf einen Stein gebissen. „Die Menschen ertragen unerträgliches Leid. Sie haben die Grenze schon längst überschritten. Bevor ihr daran denkt, mich zu häuten, so sage ich, dass ich selbst nichts mehr zu verlieren habe.“

„…“

„Ihr schweigt, und Ihr tut gut daran. Ihr kommt daher mit eurer Kutsche und all eurer Macht und glaubt, Ihr könntet über uns befinden, wie Ihr es für richtig erachtet. Diese Kreaturen haben uns einen Herrscher gesandt, der Nacht für Nacht aus dem Dunkeln geschlichen kam, um sich an den Schwachen zu ergötzen. Lyren war ein brutaler Mann, der jede Frau zur Witwe machte, die ihm gefiel. Die Rechnungen wurden nicht bezahlt. Fürchtet die Wölfe! Fürchtet sie!“ blaffte er laut und blickte auf seine offenen Händen, die tiefe Schwielen aufwiesen. „Das brachte ich meinen Kindern bei, kurz bevor sie … auch verschwanden.“

„Ich bezweifle nicht, dass ihr Schlimmes erdulden musstet“, antwortete Claudile kalt, „doch ich werde mein Bestes geben…“

„Jetzt ist Lyren verschwunden. Wie sieht euer nächster Schritt aus, Hoheit? Eure Ladyschaft? Gepriesene Fürstin von allem, was Ihr seht?“ höhnte der Geistliche und grinste selbstgefällig in die Runde. Von allen Seiten kamen immer mehr Leute, um sich das Schauspiel nicht entgehen zu lassen. „Steuern erhöhen? Mit der Begründung, dass Norfestas Armee Pfeile in den Köchern braucht, um die schurkischen Südländer in Schach zu halten? Oder für eine neue Brücke, die bis heute nicht gebaut wurde?“

„Nein, ich…“

„Vielleicht das Recht der Ersten Nacht? Lyren war ein großer Verfechter...!“

„Ein Fest“, beeilte sie sich zu sagen, wusste aber gleich, dass sie damit einen wunden Punkt getroffen hatte. Die Menge stöhnte leise auf. Man musste kein Intellektueller sein, um zu wissen, dass Pater Brain die Punkte holte.

„Was!?“ schimpfte er und ragte noch bedrohlicher auf als bisher. „Ein Fest? Wem zu Ehren, Teuerste? Wir brauchen Essen. Nur einer Sache verdankt Ihr eurer Macht: dem Bösen selbst. Ich sehe keine glorreichen Geschöpfe des Waldes – nur ein Kind mit zu viel Macht.“

Das saß. Perplex nahm sie ihre Brille ab, wollte tief Luft holen doch… kein Wort kam über ihre Lippen.

Hilflos sah sie sich um. Die verhärmten Gesichter wirkten anklagend.

Er winkte herrisch ab und wirkte plötzlich müde und ausgelaugt. Theatralisch breitete er die Arme aus und kniete sich hin.

Er kniete tatsächlich. Claudile fühlte sich mehr als nur überrumpelt. Sie war in die Ecke gedrängt worden – von einem Geistlichen, von einem Menschen. Wie konnte er es wagen?

„Und jetzt schlagt mir den Kopf ab oder verschwindet auf eurer Burg. Macht, was ihr wollt. Ich kann euch nicht mehr sehen…“, beendete er müde sein Plädoyer.

Die Menge ächzte leise. Alle Blicke wandten sich ihr zu. Jetzt kam es auf sie an.

Ein Schlag mit der Hand, zischte das Tier in ihr. Niemand redet so mit uns! Töte es! Mach schon!

Hätte jemand in dem Moment nach einem Knüppel gegriffen, hätte der Tag schrecklich geendet.

Der schwere Eichenstuhl flog um die eigene Achse und zerschellte mit einem Knall an der Mauer. Claudile raste vor Zorn, während Korporal Axel und Francesco aus sicher Entfernung zusahen, wie sie die Einrichtung zerdepperte. „Wie kann er es wagen“, gellte sie auf, während sich ihre Haut ums Gesicht gefährlich rot verfärbte. Hände wurden zu Klauen, die im Gestein tiefe Furchen hinterließen.

Francesco hielt sich die Ohren zu. „Seid Ihr verstimmt, Mylady?“

„Dieser kleine Geistliche hat mich lächerlich gemacht! Dieser… betrunkene Mönch…!“

„Daran ist nichts zu ändern…“

Wie bitte?“

„Er hat recht. Ich fürchte, mit allem.“ Francesco bedeutete dem Korporal zu schweigen und sich nicht zu bewegen, während er langsam zu ihr trat. „Das war zu erwarten. Jede Stimme will gehört werden…“

„Ich bin die Tochter des Großen Khans“, fauchte sie ungestüm und knallte mit der Rechten auf den Eichentisch, der bedenklich zu zittern anfing. In ihr glomm eine kalte Wut, die sich schwer beherrschen ließ.

Fritz erschien mit einem Tablet voller Bechern, verharrte kurz am Eingang und drehte sich ohne ein Wort um. Er war schlimmeres gewohnt.

„Das kann er nicht machen…“, jaulte sie bestürzt und riss sich einen Ärmel ab. „Ich bin kaum einen Tag im Amt, und jetzt das!“

„Es war klar, dass es nicht ausreicht, ein paar Wölfe zur Ordnung zu rufen. Noch schlimmer wäre es gewesen, wenn Ihr ihn an Ort und Stelle getötet hättet.“

Korporal Axel war sichtlich unwohl in seiner Haut, versuchte er doch sich weiter wegzubewegen. „Wenn Ihr mich nicht mehr braucht, Mylady“, begann er und erschrak, als sie ihren Kopf in seine Richtung drehte.

Sie bedeutete ihm zu bleiben.

Tief durchatmen, sagte sie sich. Das ist nicht das Ende der Welt. Er hat dich nur beleidigt – nicht gleich angegriffen. Es war die Tat eines Mannes, der viel… durchlebt hatte. „Also schön“, sagte sie sichtlich erschöpft und winkte dem Korporal zu sich. „Gut, dann betrachten wir die Sache mal aus einer gewissen Distanz heraus. Habe ich recht, Francesco?“

Francesco nickte eifrig. „Sehr gut, Mylady. Einen kühlen Kopf bewahren.“

„Schön.“ Sie dachte kurz nach. „Erzähl mir alles über ihn, Axel.“

„Über Pater Brain?“

Sie nickte geduldig.

„Er kam vor zwanzig Jahren mit seiner Frau und seinen Kindern hierher und baute eine recht große Gemeinde auf. Er trank nicht, bis… nun ja. Er hat sie alle verloren. Seitdem ist er verstimmt.“

Claudile ließ ihn ausreden. Nach mehreren Minuten sah sie wieder klar. Plötzlich änderte sich das Bild in ihr von dem Pater. Bedrückt starrte sie auf ihre Hände. „Ich glaube, ich verstehe.“

Francesco bot seine Hilfe an. „Wir können es auf die Art der Werwölfe erledigen, oder auf die Art der Fürsten und Barone.“

Er fuhr als Erklärung mit dem Zeigefinger über seine Kehle.

„Oder… Ihr handelt wie ein Mensch.“

Wutentbrannt zog sich Claudile zurück.

Sie brauchte Raum zum Atmen. Freiraum.

Schnell nahm sie ein Dutzend Stufen auf einmal – es gab jede Menge Treppen in der Burg – und kam nach wenigen Momenten in ihrem Privatgemach an. Dort wurde es auch nicht besser.

Schrank, Kommode, Bett, Spiegel, Stuhl. Menschenmöbel. Hah!

Ihre Klauenhand formte sich zu einer beeindruckenden Pranke, die mit Leichtigkeit den Stuhl an der Lehne packte und wie Papier zerknüllte.

Sie atmete schwer und starrte an sich herunter. Sie dachte zurück an früher: das Rudel beschützte sie, pirschte sich an die Beute heran, Vater und Mutter an ihre Seite und ihre Brüder deckten den Rücken. Fressen, wenn man Hunger hat. Trinken, wenn man Durst hat. Töten, wenn man… in Gefahr war.

Doch sie war nicht in Gefahr.

Langsam beruhigte sie sich etwas. Nein, sie musste das Problem genau erfassen. Das ging nicht, wenn sie sich ständig bedroht sah. Abstand gewinnen. Von oben betrachten.

Sie ging auf den Balkon und setzte sich auf die Wehre.

Sie zog ein Notizbuch hervor und starrte auf die Kritzeleien, holte einen Stift hervor und markierte.

-Stadt ist arm; Menschen unruhig

Ja, das passte. Wer konnte es ihnen verdenken? Es hieß, es gab Gesetze für die Reichen und Gesetze für die Armen, aber das stimmte nicht. Es gab keine Gesetze für jene, die Gesetze schufen, auch nicht für Werwölfe, die sich Barone nannten und auf ihrem Land Menschen schlecht behandelten. Claudiles Mutter, die „Schattenprinzessin“ und Oberste aller Werwölfe, hatte erst reagiert, als der Schatzmeister berichtete, dass Blaqrhiken verlassen war. Claudile hatte sich nichts dabei gedacht, als sich ihre Mutter in dem Moment umdrehte und sie zu sich rief.

Du hast eine Aufgabe, mein liebes Kind.

Welche, Mutter?

Herrsche.

Sie schluckte trocken und notierte weiter.

-Wald ist in Aufruhr; Keine Ordnung. Wölfe greifen an.

Nein, das war erledigt. Sie zog einen Strich.

Was hatte Korporal Axel gesagt?

-Wo ist der Baron?

-Offene Feindschaft; Gefahr einer Revolte

-Sägewerk = lukrativ?

-Müll in den Straßen

-Totes Mädchen?

Beim letzten Punkt stutzte sie. Wer hatte davon gesprochen? Ihr fiel Fritz, den netten, sehr alten Haushalter ein, der nur in einem Satz bemerkte, dass etwas Schreckliches passiert war. Jemand war gestorben. Sie merkte, dass sie etwas auf der Spur war und schrieb weiter:

-Keine Arbeit, kein Lohn

-Burg im desolaten Zustand; Schmutz, brauchen Menschen um sauber zu machen

Sie fuhr mit dem Finger über die Wehre. Selbst draußen war dieser Schmutz zu spüren. Widerlich. Baron Mattes Lyren war nicht sehr geschickt gewesen. Er hatte sich zu sehr dem Tierischen hingegeben, hatte gemordet und seine Herde nicht im Griff gehabt.

Ja, Werwölfe herrschten über die Menschen – aber sie dezimieren nicht die Herde, weil es ihnen gerade in den Kram passte. Wie ein Bauer, der seine Kühe schlug oder ein Reiter, der sein Pferd die Flanken blutig schlug. Das war Irrsinn.

Er musste dafür bezahlen.

Die Welt war in einem grässlichen Zustand, fand Claudile. Francesco meinte, die Sanftmütigen würden sie einst erben. Welche Sünden hatten ihre Untergegebenen begangen, dass sie diese verdienten?

Sie wandte sich um, ging durch ihr Gemach und steuerte auf das Arbeitszimmer zu.

Menschenmöbel. Papiere, Bücher und Staub.

Lyren hatte hier gearbeitet.

Tja, was man so Arbeit nannte.

Die Tinte in dem Tintenfass war getrocknet, der Federkiel zerbrochen. Mahnungen und Rechnungen lagen zerknüllt auf dem Boden und neben dem Tisch lagen Flaschen. Probeweise hob sie eine auf und besah sich das Etikett. Schnaps. Viele leere Flaschen, einige lagen im Kamin und viele standen auf dem Schrank. Sie rümpfte die Nase und witterte.

Der Geruch war kaum wahrnehmbar, aber er hatte hier gesessen und getrunken. Viel getrunken.

Warum trank ein Werwolf Alkohol?

Hatte er Kummer?

Im Teppich witterte sie getrocknete Schnapsflecken. An der gegenüberliegenden Wand bemerkte sie Glassplitter und die Reste einer Flasche. Er war kein dezenter Trinker gewesen.

Der natürliche Ernst dieser Situation litt ein wenig unter dem Umstand, dass gerade jetzt Claudile den Geruch von Blut wahrnahm. Eine frische Spur, jedoch nicht von einem Menschen…