Kitabı oku: «Fürstin des Nordens - Trilogy», sayfa 7

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Die Tage zogen sich hin.

Die Speisekammer der Burg füllte sich mit zunehmender Geschwindigkeit – großen Dank an die Glückliche Bettina, die viele Suppenrezepte kannte und peinlich genau darauf achtete, das von allem genug da war. Ja, es würde für die Hohen Herren ausreichen. Nicht aber für die Stadt, wie Claudile im Kopf überschlug.

Mit dem Geld aus der Schatzkammer ließ sie einen vertrauenswürdigen Boten mit der Kutsche schicken, der im nächsten Ort Winterkleidung in großer Zahl sowie Mehl und gedünsteten Fisch einkaufen sollte. Gottlob verfügte die Burg über einen abschließbaren Keller, in dem die Sachen gelagert wurden. Kurzerhand ernannte Claudile zwei Männer zu Burgwächter, um Menschen in Not nicht in Versuchung zu führen. Immer öfter nahm sie bei ihren Vorbereitungen Brain in die Pflicht, der nach langen Überlegungen endlich zugesagt hatte, der neue Stadtvogt zu werden. Zu ihrem Glück nahmen die Leute ihre Befürchtungen über den nahen Winter sehr ernst. „Wir haben zwei Friedhöfe“, stellte Brain selbst klar. „Den an der Nordseite und den auf der Ostseite. Wir kennen die Kälte. Diejenigen, die nicht vorbereitet sind, liegen dort.“ Kurz und knapp.

„Wir brauchen sauberes Stroh und lassen es in der Halle auslegen“, ordnete Claudile an. „Jedem, dem kalt ist, soll sich in der Burg einfinden. Das Feuer im Kamin brennt immerzu und an Holz soll es nicht mangeln. Zur Not bitte ich die Küche ruhig ein paar Gerichte mehr zuzubereiten.“

„Man wird Euch Claudile, die Barmherzige nennen“, witzelte der neue Stadtvogt. „oder Claudile, die Übervorsichtige. Sucht es euch aus.“

Der Fürstin war nicht zum Lachen. Sobald sie aus dem Fenster sah, konnte sie eine leichte Schneeschicht draußen sehen. „Der Schnee wird zunehmen. Da bin ich mir sicher.“

„Viele sind zu stolz, um in der Burg nach einer Schlafstätte und Brot zu betteln“, bemerkte Brain. „Viele würden lieber erfrieren.“

„Haltet Ihr meine Maßnahmen für übereilt, Stadtvogt?“

„Nicht ein bisschen, verehrte Fürstin“, stimmte Brain zu. „Schaffe in der Zeit, dann hast du in der Not, sagen die Bauern. Manchmal kommen Lawinen herunter. DANN zeigt sich wirklich, wer vorgesorgt hat.“ Zusammen gingen sie durch die weiten Regale voller Pullover, Hosen, Decken und eingelegtem Fleisch und Säcken voller Mehl. „Ganz beachtlich“, meinte Brain anerkennend. „Aber es mangelt an Grog. Weiß hier niemand den Zauber von heißem Grog zu schätzen?“

Claudile warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Alkohol verwandelt Männer in Bestien. Das ist keine Taverne, sondern immer noch meine Burg.“

„Zweiunddreißig Familien“, überlegte Brain laut. „Ich kenne das vom Krieg. Man kann so gut planen wie man will, aber am Ende sitzen alle um einen Topf und kochen ihre Stiefel. Was ist das für ein Radau?“

Claudile horchte in der Ferne, wandte sich um und ging mit schnellen Schritten die Treppe hinauf.

Draußen auf dem Hof traf sie Francesco, der gerade mit großen Schritten vom Stadttor auf sie zuhielt. Er lächelte geistesabwesend und fuhr sich mit einem Taschentuch über die Stirn. Obwohl es recht kühl war, schien er zu schwitzen.

Im Hintergrund fuhr gerade eine Kutsche durch den Torbogen.

„Wir haben Besucher“, fragte Claudile geistesabwesend.

„Der Magistrat“, entgegnete Francesco kühl und hielt auf die Burg zu. „Er kommt viel zu früh.“

Claudile runzelte die Stirn. „Wieso habe ich noch nie etwas von einem Magistraten gehört?“

„Er ist ein Experte, wenn es um Adelsangelegenheiten geht. Komm bitte mit. Es eilt.“ Ein Hauch von Entsetzen huschte über sein Gesicht.

Die Kutsche fuhr den pflasterten Weg am Brunnen vorbei, passierte den breiten Marktplatz und rollte auf den Schotterweg zur Burg. Von nur einem einzelnen Pferd gezogen wirkte die Kutsche gewöhnlich – aber was hatte Francesco so in Sorge versetzt? Claudiles beeilte sich über den Platz zu kommen.

Als die Kutsche anhielt, war sie überrascht als ein einzelner Mann ausstieg. Der Geruch von Büchern, Mottenkugeln und strenger Wasser-Brot-Diät ging von ihm aus, sowie das hohe Alter. Tiere witterten über den Geruch Alter, Geschlecht und sogar ansteckende Krankheiten. Der Geruch vom Magistrat war reines Pergament, unverfälschtes Studium von Büchern und steriler Sauberkeit eines Klosterkämmerchens. Nur ein Mensch.

Nein, da war noch mehr.

Eine Autorität.

„Mein Name ist Sir Reynold Huckstebull Fleming“, stellte sich der Mann vor, der eine besonders breite fliehende Stirn besaß. „und ich bin Magistrat für Heraldik und Adelsgeschichte.“

„Claudile“, sagte sie und reichte ihm die Hand.

Sir Reynold schüttelte nur den Kopf. „Nein, so geht das nicht. Eine Dame von Welt stellt sich anderen immer mit dem vollen Titel vor. Versuchen wir es nochmal.“ Er öffnete ein großes in Ledergeschlagenes Buch und las daraus vor: „Ihr seid Lady Claudile, die ehrwürdige Tochter des großen Khans, unserem Herrn und Meister.“ Er sah sie kurz an. „Fürstin Claudile Salacia Aminata Urnie von Alemont.“

Claudile verzog das Gesicht. „Auch bei meinen Freunden?“

Sir Reynold schloss das Buch und seufzte. „Ihr beliebt zu scherzen. Gleichwohl möchte ich hinzufügen, dass das Amt für Heraldik und Adelsgeschichte entscheidet, wer wirklich zum Adeligen taugt oder nicht. Jene, die tun, was getan werden muss, ernsten selten Lohn. Dafür gibt es viele Beispiel, und leider lässt sich nichts daran ändern.“ Seine Stimme verlor ihren kummervollen Klang, als er fortfuhr: „Ich habe schon viele Werwölfe in unserem Reich unter die Lupe genommen, wenn ich es mal so ausdrücken darf, und nur die wenigsten haben sich Mühe gegeben, den Ansprüchen gerecht zu werden.“

„Das heißt, ihr entscheidet, ob ich zur Fürstin tauge oder nicht. Und wenn ich euren Ansprüchen nicht gerecht werde?“

„Zwei meiner Vorgänger wurden getötet, weil den neuen Herren ihr Urteil nicht gefiel“

„Ich frage mich, warum.“

„Nichtsdestotrotz steht und fällt mein Urteil mit Eurem Betragen. Lasst mich nur hier und da einige Beobachtungen machen, um gerecht zu urteilen. Gemäß dem Fall, das ihr gewogen, gemessen und begutachtet werden und das Urteil negativ ausfällt, wird Euch der Titel aberkannt. Dann gehe ich wieder und könnt weiterhin hier residieren, wie es Euch beliebt. Doch die Konsequenzen würden… sich bemerkbar machen.“

Claudile war schlau genug, nicht zu fragen, was genau dann passieren würde. Bestenfalls würde man sie einfach gegen einen neuen Fürsten austauschen. Schlimmstenfalls davonjagen. Sie hatte genug Vorstellungskraft, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Plötzlich wurde ihr heiß und kalt.

Sie verbeugte sich leicht und bemühte sich um einen unterwürfigen Ton: „Ich denke, ich habe verstanden.“

Er nickte knapp und sah sie von unten bis oben an. „Interessante Garderobe, die Ihr da habt.“

„Nun, wisst ihr…“

„Frauen sind in der Adelshierarchie nie selbstständige Menschen. Wenn sie auch nicht Sklaven sind, so sind sie auf sozialer Ebene und auch juristisch eher als unfreie Menschen zu betrachten. Sie werden immer nur in Bezug auf die umgebende Familie gesehen und bewertet, das ist das Ergebnis des ersten Kapitels von Stüversand aus seinem Werk. Ein Ausbrechen aus dem vorgegebenen Rollenbild wurde und wird negativ bewertet, eine Erfüllung der gewünschten Rolle wird nicht nur positiv gesehen, sie hat auch rechtliche Auswirkungen: Je mehr Kinder einer Frau das Erwachsenenalter erreichten, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass dieser Frau das „ius liberorum“ zuerkannt wurde: Sie wurden frei von der sogenannten Geschlechtsvormundschaft.“

„Meint er, ich solle viele Kinder bekommen? Nur, um dann über mich selbst bestimmen zu können?“

„Das wäre gesellschaftlich akzeptabel.“ Er nickte freundlich und deutete auf ihre Männerhose. „Beginnen wir doch mit dieser unangemessenen Tracht. Wo ist eure standesgemäße Bekleidung?“

„Die Gesellschaft kann mich mal“, platzte es aus ihr heraus.

Francesco stand hinter Sir Reynold und machte mit Gesten deutlich, was er von ihrer Äußerung hielt.

Sir Reynold verzog keine Miene dabei. „Adelige sind unter anderem auch „Ordnungshüter“. Wenn nicht eine Instanz da ist, die dafür Sorge trägt, dass geltende Gesetze eingehalten werden, dann hat die Gesellschaft ein Problem! Ich verweise auf Marta III. aus dem Königsgeschlecht und Fürst Philipp den Jakobiner als Beispiel. Beide hielten die Normen nicht ein, fordern damit lautstark die Ordnung heraus. Ihre Geschichte nahm ein schnelles Ende.“

„Wie meint er das, Francesco?“

„Er meint, dass du als Vorbild fungierst.“

„Bemüht Euch ruhig redlich“, warf Sir Reynold lächelnd ein. „Ich werde noch den ganzen Tag hier sein. Nun gut, dann besichtige ich jetzt die Burg. Euer Zuhause.“

Gewogen, gemessen…

Verdammter Mist! Ausgerechnet.

Der Finger des Aristokraten strich prüfend über einen Bilderrahmen. „Ihr seid noch nicht lange hier tätig?“ Mit angewiderten Gesichtsausdruck begutachtete er das Resultat und runzelte leicht die Stirn. „Wo sind Eure Angestellten? Die Küchenmagd, ein Diener, der Gärtner…“, er vollführte eine Geste und drehte sich einmal im Kreis. „Alles wirkt so… unfertig.“

„Wie kommt es, das hier jetzt hier auftaucht?“

„Mir wurde zugetragen, dass ich baldmöglichst erscheinen darf“, antwortete er knapp. „Wie kommt es, dass Ihr nicht vorbereitet seid?“

Ich dachte, ich hätte noch Zeit, dachte Claudile bitter. Oh, das geht böse aus!

Francesco versuchte es mit Heiterkeit. „Wie wäre es mit einem schönen Wein und wir besprechen das alles bei einem lodernden Feuer im Kamin?“ Nach den Schweißperlen aufs einer Stirn verstand Francesco sehr gut, was hier gerade passierte. Das war eine Prüfung – vielleicht die Prüfung ihres Lebens, und Claudile hatte sich nicht genügend darauf vorbereitet.

Das war nichts, das man mit roher Gewalt oder mit schönen Worten beheben konnte.

Natürlich wurde es noch schlimmer.

Just in dem Moment wurde es laut. Infernalischer Lärm drang aus der Küche und ließ Claudile hochschrecken. Was denn jetzt?

In der Küche wurden sie fündig. Auf der einen Seite standen die Glückliche Bettina und ihre sechszehn Kinder und ein Mann, der sie im Arm hielt und auf der anderen Seite Fritz, der Haushalter, wie er Töpfe und kleine Fässchen vor sich auf dem Tisch aufgereiht hatte.

Claudile, Francesco und der Magistrat sahen sich fragend an und stellten sich dazu.

„Ich habe nichts dergleichen gestohlen“, sagte gerade Bettina. Die Farbe in ihrem Gesicht wechselte ins Fleckige. Der Mann neben ihr musste ihr Gatte sein, mutmaßte Claudile, denn er nahm sie beschützend in den Arm und versuchte sie zurückzuhalten.

Fritz stützte die Fingerknöchel auf den Tisch vor sich und beugte sich vor. „Ach, jetzt habe ich wohl keine Augen mehr im Kopf, wie? Was für eine Frechheit! Die meisten von euch können froh sein, dass ihnen jemand überhaupt eine Arbeit gibt. Halunken, Diebe, Schnorrer! Mir reicht es endgültig mit euch!“

„Alles ist ruhig und friedlich!“ beeilte sich Claudile zu sagen und wollte den Gast hinausbegleiten, doch mit unverhohlenem Interesse wich er ihrem Arm aus und stellte sich näher zum Haushalter. Sein süffisantes Lächeln wirkte sehr entmutigend. „Probleme mit der Belegschaft, guter Mann?“

„Ich war von Anfang an dagegen, diese“, Fritz holte tief Luft und deutete auf die Familie, als wäre sie Abfall in seinen Augen, „diese Taugenichtse einzustellen! Ich weiß, was sich gehört! Ich hatte darauf bestanden, nur ausgebildetes Personal einzustellen. Aber hat man auf mich gehört? Nein, natürlich nicht…“

„Sehr bedauerlich“, pflichtete Sir Reynold bei.

„Was ist denn passiert?“ fragte Francesco.

„Genau das meine ich! Ein fauler Apfel verdirbt den ganzen Korb!“

„Wohl eher eine Tonne Äpfel“, hörte sich Claudile sagen und fragte sich im nächsten Moment, warum sie das gesagt hatte. „Jetzt wollen wir uns erstmal beruhigen. Was ist passiert?“

Die Glückliche Bettina wirkte überhaupt nicht glücklich. Ihre Kinder drängten sich ängstlich in einem Pulk um sie herum. „Er behauptet, wir würden Essen stehlen. Das haben wir nicht nötig, sage ich.“

„Wo ist der Zucker hin?“ fragte Fritz drohend und zeigte wie es schien aufs Geratewohl auf eines der Kinder. „Du da! Du kaust doch die ganze Zeit! Hast wohl dir heute den Bauch vollgeschlagen, was?“

Der Mann an ihrer Seite – Claudile erinnerte sich, dass er als Müllkutscher arbeitete – erhob sich zu seiner ganzen Größe und krempelte beim Sprechen die Ärmel hoch: „Jetzt hör mal zu, du Floh! Wenn meine Frau sagt, sie hat nichts gestohlen, dann hat sie nichts gestohlen!“

Bettina warf ihrer Herrin einen flehentlichen Blick zu. „Ich schwöre bei meinen Ahnen! Sowas tun wir nicht. Ihr müsst mir glauben!“ Sie war den Tränen nahe.

Claudile wollte ihr glauben – Ach, was! Sie glaubte ihr. Und eigentlich war es ihr egal, denn die Speisekammer war mit frischem Essen zum Bersten voll und Geld gab es genug. Aber der Zeitpunkt… war mehr als schlecht gewählt.

Der Zeitpunkt. Etwas in ihrem Kopf klingelte verschwörerisch, aber der Gedanke hielt sich hartnäckig hinter Panik, denn der lauernde Blick des Magistraten sprach bereits Bände.

„Da reicht man ihnen die Hand – und sie reißen dir jeden Finger ab!“, triumphierte Fritz dabei. „Mir tut es leid, dass Ihr das mit ansehen musstet, Herr.“

Der Magistrat bedachte ihn spöttisch und deutete mit einem Blick zu Claudile zur nächsten Tür. „Ich denke, das wird heut ein kurzer Besuch. Können wir?“

Völlig überrumpelt stand sie da. Was passiert hier gerade?

Zu Schnell. Viel zu schnell.

Und gerade in dem Moment, als Claudile dachte, es könne nicht mehr schlimmer kommen, bewegte sich die Erde.

3

Es begann mit einer kleineren Rutschung leise und schleichend und hatte den bekannten Domino-Effekt. Vor vierzig Jahren hatte sich eine ähnliche Rutschung ereignet und ließ jeden Bergbewohner in Gedanken daran das Blut in den Adern gefrieren. Das hier war schlimmer.

Oberhalb des Bergmassivs löste sich eine Eisplatte und rutschte nach unten. Ehemals stabile Eisfelder hatten sich wie Adern jahrhundertelang in den Sedimenten gebildet und wurden durch das Schmelzwasser mehr und mehr ausgehöhlt, bis alles zusammenbrach. Der Prozess hatte schon im Frühling begonnen und durch den nahenden Winter – fast ein halbes Jahr später – den Ablauf beschleunigt. Die Kälte der Nordwinde festigte nicht den Grund, sondern beschwerte die obere Fläche mit zunehmenden Neuschnee, was zum Einsturz der Sedimente führte. Während immer neuere Schichten kollabierten setzte eine Kettenreaktion ein, die nicht mehr aufzuhalten war. Die letzten stabilen Strukturen wurden just gegen Mittag von den herunterstürzenden Massen zermalmt und der ganze Südhang geriet in Aufruhr. Zum Südwesten hin fiel die Bergwand in mehreren Terrassen zwar senkrecht in die Tiefe, was die Wucht der Lawine erheblich abmildern würde aber bei den Massen gab es kein Halten mehr: der Berg würde reagieren und würde das Schrecklichste aller Ungeheuer losschicken.

Eine Lawine war das schlimmste von allen Ungeheuern. Es versetzte auch den abgeklärtesten Verstand in Panik, denn sie brachte Tod und Zerstörung und ließ sich nicht aufhalten. Wer dem Schauspiel zusehen konnte und sich dazu entschloss, sich in der sicheren Stadt zu bringen, brachte über sich selbst das Todesurteil. Der entstehende Sog des Bruchs zermalmte Steine wie auch Bäume und die Wellen rasten ringförmig nach allen Seiten los. Die gesamte Geröllmasse geriet in Schwingung und konnte bis an die vierhundert Stundenkilometer erreichen. Die erste Welle transportierte eine Million Tonnen Schnee und eine entsprechende Menge Energie. Kurz vor der Stadt Blagrhiken wurde der Boden flacher, was die Masse abbremste aber nicht verlangsamte. Die Schneemassen türmten sich auf, da der Boden flacher wurde und die Welle erreichte eine Höhe von zwanzig Metern. Gewöhnliche Lawinen von zwei Metern Höhe waren keine Aufregung wert und hätten nur dafür gesorgt, dass das die Bewohner sich eiligst in ihre Häuser verzogen und auf den nächsten Tag warten mussten. Als die ersten Alarmglocken schrillten, wussten nur die wenigen Eingeweihten, dass mit der Lawine der Tod kam.

Die Burg war solide aus festem Stein erbaut worden, doch es war nicht nur weicher Schnee, der mit der Gewalt von Riesen auf die Mauern eindrosch: Bäume und Steine trommelten ein Stakkato, das die Menschen dahinter fast taub wurden. Baumstämme rasten durch die Fenster, zerstörten das Mobiliar als wären sie aus Pappe und begruben alles unter sich mit Schnee. Wer nicht erschlagen oder aufgespießt wurde, wurde von dem Sog mitgerissen und lief Gefahr gegen die Wände geschleudert oder zermalmt zu werden. Wer sich unter Tonnen von Schnee und mit heiler Haut widerfand, lief Gefahr zu ersticken oder zu erfrieren.

Claudile sah die tosende Wut durchs Fenster kommen, stieß den Magistraten beiseite und hechtete zur Familie hin, um sie zu schützen – im gleichen Moment wusste sie, dass sie nichts ausrichten konnte. Nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt bohrte sich der Stamm einer Kiefer in den Boden, während um sie herum alles dunkel wurde. Mit Mühe hielt sie sich an der Mauer fest, um nicht in den Flur mitgerissen zu werden, doch ihre Kraft versagte gegen die Kräfte der Natur. Ihre Muskeln spannten sich, die Krallen kratzten über Stein und hinterließen tiefe Spuren – umsonst. Die Lawine begrub sie unter sich und trug sie durch die Tür und hinunter in den Keller.

Schließlich wurde es um sie herum alles schwarz.

Sie konnte nicht aufhören zu schreien, starrte ins Pechschwarze und fühlte sich eingeklemmt. Das Tier und die Frau in ihr gellten panisch um Hilfe, wollten ausbrechen und alles zerfetzen. Ihre Ohren klingelten wie verrückt, während ihre Lungen nach Sauerstoff lechzten und brannten. Was sollte sie jetzt tun? Was wurde von ihr, dem dressierten Hund, erwartet? Sie ahnte, dass um sie herum es anderen ähnlich erging. Sie wollte nicht sehen, was in der Stadt gerade los war. Und sie wusste auch nicht, ob sie überlebt hatte.

Ihre Klauenhand bekam einen Balken zu fassen und sie zog sich heran, während Schnee, Eis und Geröll um sie knirschten. Sie konnte mit ihrer Kraft zehn Männer töten – und fühlte sich jetzt so hilflos wie ein Kätzchen unter einem feuchten Berg Wäsche. Ganz gleich, was sie tat: es würde nicht genug sein. Es würde nicht reichen. Gib es zu! Es hat niemals gereicht.

Ihr wurde bewusst, was sie fühlte. Sie hatte es gefühlt, als sie gezwungen war, ihren ersten Menschen zu töten, als ihre beste Freundin gestorben war, das Gefühl, das es Zeit war zu gehen, dass es ihr besser ginge, wenn sie tot war.

Es beherrschte sie wieder völlig, als ob es sie nie richtig verlassen hätte. Etwas in uns wollte immer sterben. Keine Vergebung – es gab nie Vergebung im Leben. Was sagte es über eine Person aus, die all die Personen, die sie geliebt hatten, überlebt hatte?

Sie bekam den Kopf frei und stieß gleich mit ihm an die Decke. Gierig saugte sie die Luft ein und verschluckte gleich jede Menge Staub, der sich auf der Eisfläche wie Puderzucker zu haften begann. Sie hustete stark und spürte ihre Beine nicht. Kälte kroch langsam in ihre Knochen – ungewöhnlich für einen Werwolf, denn selbst nackt konnten sie im höchsten Norden Nächtelang ohne Schutz ausharren. Eine neue Erfahrung – jetzt bekam sie wirklich Panik!

Ein unrühmliches Ende für eine der reinsten Geschöpfe unter den Werwölfe. Sie hatte immer geglaubt im Kampf zu sterben oder alt im Kreis ihrer Familie langsam zu entschlafen. Pustekuchen! Tief im Keller unter Tonnen von Schnee und Geröll. Das war ihr Grab.

Oder auch nicht…

Francesco. Alexandra. Mutter. Brain.

Gut, vielleicht nicht Brain.

Sie wollte sie wiedersehen. Um jeden Preis.

Leben.

Sie verfiel in Raserei, bis sie schwitzte. Knackend und knarrend gab die Decke nach und sie schaufelte sie nach draußen. Unbeirrbar. Die nutzlosen Beine hinter sich herziehend.

Verdammte Etikette.

Verdammtes Fürstentum.

Die neue Wut über alles verlieh ihr zusätzliche Kraft und sie stemmte sich gegen die Masse, bis die Zähne knirschten. Dann… Licht!

Hände griffen nach ihr, packten sie an den Armen und an den Schultern und zogen sie heraus.

Sie hatte es geschafft.

Mit einer Decke um die Schulter saß sie frierend da und blickte wild um sich, während überall das reinste Chaos herrschte. Aufgeregt liefen Menschen herum, doch sie verstand kein einziges Wort. Noch immer klingelten ihre Ohren und sie fühlte sich verletzlich. Allein.

Francesco brachte sich in ihr Gesichtsfeld und wedelte mit den Armen. Formte seinen Mund, als wolle er sprechen. Während sie gebannt auf seinen Mund blickte, dachte sie daran, dass er wie ein Fisch aussah. Er wollte etwas sagen.

Langsam kam ihr Gehör zurück.

„… Glück. Wir hatten unverschämtes Glück. Vor allen Dingen du! Kannst du mich hören?“

Sie starrte ihn sprachlos an. Dann ergriff sie seine Schultern und zog ihn an sich heran. Hielt ihn fest.

Und weinte leise in den Armen ihres besten Freundes.

Sie wunderte sich über sich selbst. Sie hatte noch immer Angst eingesperrt zu sein, obwohl sie über sich den freien Himmel sehen konnte. Ihr wurde speiübel bei dem Gedanken daran.

Langsam stand sie auf. Gottlob gehorchten die Beine wieder, was ein Glück war. Außer Schrammen und einigen Prellungen hatte sie sich nicht getan. Als sie ihren Blick wandern ließ, bemerkte sie, dass sie zu den wenigen Glücklichen gehörte.

Sie war auf dem Marktplatz und um sie herum schrien und weinten Menschen, während manche Häuser heil und manche gar nicht existent waren. Um sie herum zu viel Gewusel, zu viel Bewegung, zu viel Geschrei. Sie schloss die Augen und presste die Hände auf die Ohren.

Mach, dass es aufhört!

Sie schrie.

Mit einem Mal wurde es still. Sie öffnete die Augen.

Alle starrten sie an.

Sie konnte sich kaum aufrichten. Ihre Muskeln zitterten.

„Hört her“, sagte sie laut und erschrak, wie brüchig sich ihre Stimme anhörte. „Hört her!“

Jetzt lauter.

„Wir… müssen die Verwundeten in die Burg bringen. Wir haben dort Decken, Stroh und Nahrung. Wir werden den Kamin anmachen und unsere Kräfte sammeln. Wir sind vorbereitet. Und wir werden nach Überlebenden suchen.“ Die Menge sah sie stumm an.

Dann bewegten sie sich plötzlich Richtung Burg. Gut so. Geht ruhig.

Sie sah ihnen nach und spürte, dass es das Richtige war.

„Die Leute kommen in Gruppen zu zweit oder dritt in die Burg und berichten, dass in der Stadt noch Menschen sind, die zu erschöpft sind oder zu viel Angst haben, sich zu rühren. Es sind achtzig Menschen gerade in der Burg und Francesco gibt Anweisungen, nach Überlebenden zu suchen.“ Brain, seines Zeichens Stadtvogt und Geistlicher, bekreuzigte sich und blickte ängstlich zum Himmel hoch. „Wir hatten unverschämtes Glück.“

„Unverschämtes Glück“, wiederholte Claudile und blickte auf die Schneise der Verwüstung, die sich mitten durch die Stadt gefressen hatte: Balken, Ziegel, Holz und Stein zeugten von ehemaligen Menschenbehausungen. „Die Stadt ist tot, Brain. Sie dich doch mal um“, krächzte sie heiser.

Der Mann vor ihr strich sich über den langen Bart. „Quatsch.“

„Bitte?“

„Sie waren alle auf dem Markt, Claudile“, gab er schroff zurück und fasste sie hart an den Schultern. „Du begreifst offensichtlich nicht, wie es gerade um uns steht. Wir haben bis jetzt drei tote Männer geborgen und wir suchen immer noch. Das Sägewerk hat wie durch ein Wunder alles überstanden. Unsere Ärzte sind schon an der Arbeit. Du hast vorgesorgt. Verstehst du denn nicht?“

Claudile starrte apathisch an ihm vorbei.

Er stöhnte leise, als er sich neben sie setzte. „Du bist zu streng mit dir.“

„Gut möglich, dass ich bald keine Fürstin mehr bin.“

„Warum?“

Sie erklärte es ihm stockend.

Er nickte knapp und dann tat er etwas, mit dem sie nicht rechnete. Er nahm sie beiseite. Hielt sie fest. So hatte sie ihr Vater immer gehalten. Fester Griff um Schultern und der kratzige Bart im Nacken.

Sie lächelte dankbar.

Es war, als ob sie jahrelang fort gewesen sei, fern aller Menschheit. In der Burg angekommen, begegnete sie vielen Menschen, und alle wollten auf einmal reden. Auch gut, sie hatte sowieso nichts zu sagen. Sie fürchtete sich vor Erklärungen, die sie würde abgeben musste.

Die Burg war voller Stimmen. Überall trafen sich kleinere Gruppen und redeten immerfort, oder aßen schweigend, was die Küche bereithielt.

„Wie geht es Euch?“

„Gut. Mir geht es gut.“

„Wir verteilen Essen und Kleidung. Sie werden alle über Nacht bleiben wollen.“

„Mir ist das gleich.“ Das war es wirklich. Sie wollte nur noch ins Bett und den ganzen Tag am liebsten vergessen. Sie hörte Stimmen von oberhalb des ersten Stocks, selbst durch die Mauern. Die Tür öffnete sich vor einer Wand aus Menschen. Jemand hatte die Fackeln in den Wandhalterungen angemacht, sowie den großen Kamin befeuert. Gut, dazu waren sie ja da. Sie erkannte die kleine Isabelle und ihre Mutter, wie sie mit Tabletts herumliefen, dann war noch Brain da, der mit dem Magistrat sprach und noch viele andere Gesichter, die sie im Laufe der letzten Tage gesehen hatte. In einer Ecke nahm sie Fritz war. Wie er sie anstarrte und mit verschränkten Armen ausdruckslos wie ein Beobachter aussah. Fritz.

Irgendetwas war mit Fritz. Etwas in ihrem Kopf wollte sich Gehör verschaffen, aber ihr wollte nicht einfallen, was. Sie nickte ihm knapp zu.

Er reagierte nicht darauf.

„Wie fühlt Ihr euch?“ wollte ein Medicus wissen und besah sich fachmännisch die zahlreichen Schrammen und Schürfungen an. Erst jetzt merkte sie, dass sie fast buchstäblich nackt war. Die Hose und das Hemd lagen in Fetzen.

„Gut. Ich will nur schlafen.“

Oben in ihrem Zimmer hörte sie nur noch das leise Hallen der Stimmen im Saal und wusste, dass sich von nun an alles selbst regeln ließ. Suchgruppen würden losziehen und die Leute zur Burg bringen. Die Küche würde bis spät in die Nacht kochen und die Menschen bewirten. Müde und Verletzte würden hier eine sichere Bleibe finden. Sie konnte nichts mehr tun.

Müde und erschlagen ließ sie sich aufs Bett fallen.

Doch sie war nicht allein.

Sie schnüffelte kurz, und lächelte.

Alexandra legte sich zu ihr. „Ich dachte, du wärst tot.“

Wenigstens war sie nicht allein. Tier und Mensch in ihr begrüßten den Gast mit zurückgeschlagener Decke und beide teilten sich die Wärme.