Kitabı oku: «Delikatessen für die Sinne (Band 1)», sayfa 2

Yazı tipi:

BOXERSHORTS

Ich kann Boxershorts nicht ausstehen. Diese unförmigen, amerikanischen Unterhosen finde ich schrecklich. Sie sind Liebestöter wie die Doppelripp aus Baumwolle mit angeschnittenem Bein und Eingriff.

Wenn Carsten morgens mit so einer Unterhose bei mir im Bad auftaucht, verdrehe ich innerlich die Augen. Man stelle sich vor: Einen Riesen mit einer verwaschenen, unter dem leichten Wohlstandsbauch gehaltenen Zeltplane bekleidet. Ein schwangerer Bauch ist viel anziehender!

Diese unerotische Unterhose, die sämtliche Hormone in die Flucht treibt, war, wie noch eben zu erkennen, einmal mit bunten Punkten versehen. Sie war bestimmt ein Weihnachtsgeschenk von seiner Mutter. Carsten liebt Punkte, außer beim Kraftfahrtbundesamt. Punkte auf Socken und Krawatten, auf Bürotassen und Zahnputzbechern. Er sagt, als Erstes wären ihm meine runden Sommersprossen aufgefallen, Punkte eben, braune Punkte.

Da steht er, gähnt herzhaft und zeigt mir seine Amalgamfüllungen und ein tanzendes Zäpfchen im Rachen. »Die Füllungen sollte er austauschen lassen«, denke ich. »Wer trägt heute noch so viel Gift im Mund, außer meiner Schwiegermutter, die verspritzt das Gift dann ständig.«

Gedankenverloren krault er sich mit der einen Hand in den Haaren auf seiner Brust. Es erinnert an die Streicheleinheiten, die er Paula, unserer Katze jeden Abend zukommen lässt. Die andere Hand hängt schlaff herunter, ein momentan unbrauchbares Anhängsel.

Wie behaart Carsten ist! Kein Mensch muss diese Wolle am Körper tragen, seit es Zentralheizungen gibt.

Wenigstens hat er keinen Mundgeruch, wenn er mir geistig abwesend den obligatorischen Morgenkuss verpasst. Einmal erwischt er dabei meine Stirn, einmal die Nase oder das Ohr, einmal den Nacken. Den Unterschied, scheint er nicht zu bemerken.

Beim Frühstück sieht er dann passabel aus, glaube ich. Das meiste von ihm verbirgt sich ja hinter der Zeitung.

»Tschüss Liebling, bis heute Abend«, begleitet mich sein täglicher Refrain auf meinem Weg ins Bad, ins Schlaf- oder ins Wohnzimmer. Hier räume ich zähneknirschend die unzähligen Andenken weg. Haare vom Rasieren im Waschbecken, Haare in der Dusche, Zahnpasta am Becherrand, festgeklebt wie Zucker an einem Cocktailglas.

Eine Socke, selbstverständlich gepunktet, auf der obersten Treppenstufe, die andere hängt noch im Hosenbein der Jeans.

Wenigstens ist die Jeans nicht gepunktet.

Im Wohnzimmer ein Weinglas, eine Weinflasche, Zeitschriften und eine leere Chipstüte.

Und im Keller, zur Krönung, eine gepunktete, amerikanische Unterhose, aber auf dem Schmutzwäschebehälter, immerhin.

Neeeiiinnnn!

Ich stelle das Radio an, Welle Nord, Schmusemusik für Verliebte. Sehnsüchtig lausche ich den Klängen und den Texten. Warum darf ich nicht noch einmal so etwas Aufregendes erleben? Noch einmal jemandem mit Herzklopfen gegenüberstehen.

Da kommt mir eine Idee. Wo ist die Samstagzeitung? Ah, im Papiercontainer. Ich finde sie, die Seiten mit den spannenden Kontaktanzeigen.

Was die so schreiben! Wahnsinn! Viele versprechen Leidenschaft und Zärtlichkeit, die ich so sehr vermisse. Aber die meisten sind 30, oder um die 40 und ich bin, geschmeichelt, um die 60, nein, eigentlich in den Siebzigern.

»Weiterlesen«, sage ich mir, »jetzt nicht aufgeben. So also ist das. Offensichtlich suchen nur ganz besonders tolle Mannsbilder Bekanntschaften auf diesem Wege. Komisch, warum bin ich nicht schon früher einmal darauf gekommen?«

Ich werde selbst eine Anzeige aufgeben, natürlich! Da kann ich mich gut darstellen und Suchkriterien berücksichtigen wie im Supermarkt.

Etwa so: schlanke, junge, nein jung gebliebene Frau. Konkrete Altersangabe lasse ich weg.

Attraktiv. Nein, wie blöd und eingebildet, besser: ansehnlich und sympathisch. Das sind herrlich dehnbare Begriffe.

Kunst- und kulturinteressiert. Das schreiben alle, aber na gut.

Gebildet. Gebildet? Ich kann manchmal nicht vollständig das tägliche Rätsel in der Tageszeitung lösen, egal.

Ungebunden, das ist wichtig. Aber es stimmt ja nicht. Besser ich schreibe: mit viel Freizeit.

Sportliche Natur- und Tierliebhaberin. Nein, das geht auch nicht. Womöglich meldet sich ein Steilwandkletterer mit Kampfhund.

Und nun zu ihm:

Er sollte – nein, besser: Bist du männlich und jung geblieben? Nicht unter 55, zärtlich, schlank, gebildet und an einem Abenteuer interessiert? Um Gottes willen, das Letzte geht gar nicht, das kann ich nicht schreiben. Besser ist: Und entsprichst meiner eigenen Beschreibung, dann melde dich. Ja, so kann ich die Annonce aufgeben.

Peinlich ist mir das Ganze schon, aber ich greife tapfer zum Telefon. Am anderen Ende sieht man mich ja nicht. Wo steht die Telefonnummer? Ah hier, unter der letzten Anzeige.

Und die klingt gut, besonders gut. Warum habe ich die vorhin überlesen?

Da steht doch tatsächlich alles, was ich vermisse und ohne konkreten Alterswunsch.

.

Er, in der Mitte der zweiten Lebenshälfte, 1,82 Meter, schlank, aber nicht dünn, noch berufstätig, zärtlich und leidenschaftlich. Musik- und Theaterliebhaber, ein wenig sportlich, sehnt sich nach einer ebensolchen Frau, schlank bis mollig, Alter unwichtig.

Alter unwichtig? Wie meint er das? Kann ich mich da auch noch bewerben? Ist er nicht diesem Jugendwahn verfallen, der das Alter zu einem Makel degradiert? Ich tue es, ich tue es nicht, ich tue es. Meine Blusenknöpfe sagen: »Ich tue es.«

Erst einmal meine Annonce aufgeben und dann seine beantworten. Eine von beiden Aktionen wird schon erfolgreich sein. Ich werde meine E-Mail-Adresse angeben und vorsichtshalber ein Extrakonto einrichten.

Es ist so weit. Endlich!

Morgen werde ich ihn treffen, meinen verheißungsvollen Märchenprinzen. Er hat sich schon ein paar Tage später auf meine Antwort gemeldet. Bin ich aufgeregt! Ich kenne ihn doch noch gar nicht, bin ich etwa schon verliebt?

Was ziehe ich an? Und zum Friseur muss ich auch noch. Pediküre, Maniküre und einen farbenfrohen Lippenstift.

Ich werde einen kurzen Rock anziehen, den mögen alle Männer leiden. Oder ist das zu gewagt? »Ach, Blödsinn«, beruhige ich mich.

Wann habe ich mir zuletzt so viele Gedanken um mein Äußeres gemacht?

Ich weiß nicht, wie ich die Nacht herum bekommen habe. Schlaf wollte sich nicht einstellen. Nun habe ich verquollene, rote Augen und eine fahle Haut, auf der sich die Falten wie Regenrinnen ausmachen.

Na ja, ich kann noch etwas aus mir machen, habe noch ein paar Stunden Zeit.

Nur kein schlechtes Gewissen aufkommen lassen. Es ist Frühling und man lebt nur einmal. Zudem ist es in meinem Alter fünf vor zwölf und die Zeiger rücken unerbittlich viel zu schnell weiter.

Wenn ich jetzt noch hektische rote Flecken bekomme! Uff, bitte nicht.

Ich möchte doch nur noch ein einziges Mal dem Alltagstrott entkommen. Nur noch einmal Begehren, das mir gilt, in den Augen eines Mannes sehen, Leidenschaft spüren und schenken. Versprochen, nur noch ein einziges Mal.

Wie gut, dass Carsten auch heute Abend, wie so häufig, später kommt. »Die Besprechung kann dauern«, meinte er. Das passt super.

Nach anstrengendem, zeitraubendem Versuch der Verschönerung schaue ich in den Spiegel. Ganz passabel, ich nicke mir Mut machend zu. Jedenfalls ist es nicht mein Alltags- und Putzgesicht, das mir entgegen schaut. Nur das einfallende Sonnenlicht ist erbarmungslos. Hoffentlich ist in der vorgeschlagenen Gaststätte rücksichtsvollere Beleuchtung.

Ich bin so aufgeregt! Ein Rendezvous in meinem Alter! Die Haustür verschließe ich sorgsam und gehe mit zitternden Knien den Gartenweg hinunter.

Ein vertrauter, betörender Geruch erfüllt die Luft.

»Autsch!« Da bin ich zu nahe an den Rosenstrauch gekommen. Dunkelrotes Blut tropft von meinem Handrücken auf die unzähligen weißen Blütenblätter, die wie ein Teppich den Erdboden bedecken. Mein Blut verfärbt das Weiß in ein helles Rosa. Ich starre fasziniert auf die attraktive Färbung. Ein Ast des Strauchs hat sich unter seiner Blütenlast über den Gehweg gebeugt und den Durchgang behindert. Der Busch trägt so viele Blüten, dass kaum noch ein grünes Blatt zu sehen ist. Ich schaue beschämt zu ihm empor und schließe für einen Moment die Augen. Die Erinnerung holt mich ein.

Carsten hatte die Rose gepflanzt. Es war kurz nach unserem Einzug in das Haus. Eines Tages hatte er sie mitgebracht und mir erzählt, er hätte sie von dem unbenutzten Grundstück am Ende der Straße stibitzt. Er hatte mich dabei verschwörerisch angeschaut und einen Finger auf seine Lippen gepresst. »Das bringt Glück. Ich liebe dich und werde immer zu dir stehen«, hatte er mir ins Ohr geflüstert und mich dann ganz fest in die Arme geschlossen.

Er hatte Wort gehalten. Später war er den Kindern ein liebevoller Vater. Er hatte meine Launen ertragen und mir im Haus und im Garten geholfen, solange auch ich berufstätig war.

Das ist Jahre her und jetzt, ausgerechnet jetzt, spüre ich wieder diese Wärme und Geborgenheit, die er uns immer gegeben hat.

Langsam gehe ich ins Haus zurück.

An der Garderobe hängt ein Einsteckschal von Carsten – mit Punkten. Ich streiche zärtlich darüber und lasse ihn lächelnd durch meine Finger gleiten. Dann vergrabe ich mein Gesicht in ihm und atme den vertrauten Geruch tief ein.

NUR EIN FOTO

Wenn ich die Augen schließe um mich Erinnerungen hinzugeben, bin ich in meiner Kindheit im Alter von sechs oder sieben Jahren.

Unser Vater war für mich nicht mehr als ein vergilbtes Foto in der Schublade einer Flurkommode, eine Porträtaufnahme, zwanzig mal zwölf Zentimeter. Wir Kinder und Mutter gingen recht unachtsam um mit dem Bild, als schiene es nicht von Bedeutung, obgleich es nur dieses eine von ihm gab.

Die Fotografie zeigte, trotz Schrammen und Flecken, einen jungen Mann in Uniform mit einem fast mädchenhaften Gesicht. Die gerade Stirn und die hohen Wangenknochen verliehen ihm etwas Würdevolles. Große Augen, ernst und melancholisch blickend, ein fein geschnittener Mund und eine wohlgeformte, wenn auch etwas zu groß geratene Nase, rundeten das Bild ab. Es war eine Aufnahme von 1943, wie Mutters Handschrift auf der Rückseite verriet.

Wenn ich allein war, nahm ich bisweilen das Foto an mich, hielt es neben mein Gesicht und schaute in den Spiegel. Nein, seine Ebenmäßigkeit besaß ich nicht, auch nicht seine Augen, und dennoch war da eine Ähnlichkeit, jedenfalls wesentlich deutlicher als zu meinen Geschwistern. Ein beängstigendes und gleichzeitig angenehmes Gefühl.

Als Kind empfand ich das als verwirrend. Wusste ich doch, dass ich erst Monate nach seinem Tod geboren wurde.

Von Mutter erfuhren wir Kinder kaum etwas über unseren Vater. Fragen wich sie aus, ihr Gesichtsausdruck bekam etwas Schmerzhaftes. So unterließen wir es. Auf meine Anmerkung, wie schön Papa doch auf dem Foto aussähe, reagierte sie nicht, nahm mich in den Arm und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

So vermischten sich bei mir Wunschdenken und Realität und führten zu einer abstrakten, fast mystischen Vorstellung.

Unser Vater erfuhr für viele Jahre Anonymität.

Es war unsere Großmutter mütterlicherseits, die mir als Heranwachsende behutsam aus der Familiengeschichte erzählte und verschüttete Erinnerungen in mir weckte.

Vater im Krieg. Seit Monaten kein Lebenszeichen von ihm. Unsere schwangere Mutter, mein acht Monate alter Bruder Christian, der im Kinderwagen lag, mein zweijähriger Bruder Udo, meine fünfjährige Schwester Renate, meine kranke Großmutter und eine schwerbehinderte Tante waren nach der Flucht aus Danzig im Bremer Umland angekommen. Sie besaßen nicht mehr als die Lumpen, die ihre Körper bedeckten. Die Bauersfrau, die sie aufnahm, handelte unwissend, als sie dem Baby Christian Vollmilch zu trinken gab. Nach den Entbehrungen auf der Flucht reagierte mein Bruder mit Brechdurchfall.

Mutter hatte bislang verzweifelt versucht, ihn durch Stillen am Leben zu erhalten. Hunger, Leid und Ängste hatten diesen Lebensquell nun bei ihr versiegen lassen.

In dem Dorf, in den Tiefen der Bremer Moore, war kein Arzt zu erreichen. Die kleine Flamme erlosch in den Armen unserer schwangeren Mutter. Seine verkrüppelten Füßchen hatten ihre embryonale Stellung beibehalten. Unser Bruder hätte wohl nie laufen können, vielleicht ist ihm viel Demütigendes erspart geblieben.

Zwei Tage war Mutter mit einem geliehenen Fahrrad unterwegs, um einen Kindersarg zu bekommen. Sie wollte Christian nicht ohne schützende Hülle in die kalte, fremde Erde legen.

Und sie kam mit einem Sarg zurück. In diesem begrub sie nicht nur unseren Bruder, sondern auch das Erlebte vom Vortag. Der Kindersarg unter ihrem Arm und ihr schwangerer Leib hatten den Mann, dem sie im Moor begegnete, nicht davon abgehalten, sie zu Boden zu werfen, um ihr Gewalt anzutun.

Sie hatte nie darüber gesprochen.

Mutter, meine beiden Geschwister, meine Großmutter und die unverheiratete Tante zog es in Richtung Hamburg. Mutter sah in dem kleinen Dorf im Bremer Umland keine Zukunft für ihre Kinder. In einem Ort in Schleswig Holstein, in dem ich später geboren wurde, bekamen sie Wohnraum in einer Holzbaracke.

Ich kann mich daran erinnern, dass wir jeden Abend gemeinsam am Tisch und sonntags in der Kirche für unseren toten Bruder und für unseren Vater beteten. Ich spüre noch heute Mutters Hände, die dabei meine umschlossen. Wir beteten für die mir unbekannten Personen, die dadurch im Laufe der Zeit etwas vertrauter wurden. Damals haderte ich mit Gott, weil er die beiden zu sich genommen hatte, und meine Mutter dadurch zum Weinen brachte.

Ich sehe sie in der Nachkriegszeit über ihren spärlich gefüllten Teller gebeugt und höre ihre Worte: »Guten Appetit, Kinder, die Schüssel darf geleert werden. Ich habe keinen Hunger.«

Meine Schwester antwortete auf meine kindlichen Fragen nach unserem Vater lakonisch, sie fürchte, es hätte Papa und Christian nicht mehr gefallen in dieser Armut bei uns. Sie wären in eine bessere Welt gegangen.

In eine bessere Welt? Meine Schwester um weitere Erklärungen zu bitten, traute ich mich nicht mehr.

Ich kam in die Schule, lernte schnell und erhielt gute Noten. So erfuhr ich Bewunderung als Ausgleich für die Mängel, die meine Mitschülerinnen rasch herausgefunden hatten. Im Ort gab es keine weiteren Flüchtlinge, nur Bauern, die durch den Krieg keine Entbehrungen erfahren hatten.

»Schau mal, wie dünn die ist, die haben nichts zu essen. Ihre Mutter muss den ganzen Tag arbeiten gehen. Ganz arm sind die«, hieß es, »die haben auch keinen Papa, sondern nur eine Oma zu Hause.«

»Die haben ja nicht einmal einen Papa.« Das traf mich tief, war viel schmerzhafter als der Hunger, verletzte mich und hinterließ ein Gefühl, als wäre ich schuldig geworden.

Worin lag denn meine Schuld? Was hatte ich, was hatten wir getan? Hatte der Vater uns verlassen, weil man es mit uns nicht aushalten konnte? Waren wir schlechte Menschen?

Ich wagte es nicht, mich Mutter anzuvertrauen, spürte, wie sehr es auch sie verletzen würde.

Nach dem Wechsel auf eine höhere Schule, gingen Freunde und Mitschüler wesentlich gelassener mit der Tatsache um, dass ich keinen Vater hatte und auch nur wenig über ihn wusste.

Aber tief in mir blieben tausend Fragen, Ahnungen, Hoffnungen, Sehnsüchte und ein Gefühl der Unvollkommenheit.

Meine Tochter ging schon in die Schule, als unsere Mutter einmal ins Krankenhaus musste, um sich einer Operation zu unterziehen. Da bat mich meine Schwester zu einem Gespräch.

Sie hatte auf Mutters Dachboden, bei der Suche nach ihren alten Schlittschuhen, einen Schuhkarton mit Briefen und einem Tagebuch gefunden. Briefe, auch von den Großeltern väterlicherseits, über die bei uns nie gesprochen wurde. Durch diese Briefe erfuhren wir Aufschlussreiches aus der Vergangenheit.

Unser Vater hatte, wie seine Eltern, eine kommunistische Weltanschauung vertreten. Lange vor dem Krieg, schon als Schüler, hielt er leidenschaftliche politische Vorträge in seiner Heimatstadt. Die Gesinnung der Familie war bekannt.

Unsere Großeltern hatten einmal für ein paar Tage Rosa Luxemburg versteckt. Der Opa kam dafür ins KZ. Die Oma hörte bis zu ihrem Tode die Stiefel der SS auf dem Pflaster vor ihrem Haus. Sie durchlebte es immer wieder, wie sie ihren Mann abholten, bis sie eine alte, geistig verwirrte Frau war.

Papas Vorfahren waren vor vielen Generationen mittellos aus Thüringen gekommen. Den Ort, der meinen Mädchennamen trägt, gibt es noch heute. Papas Vater hatte aufgrund seiner politischen Einstellung den Adelstitel vor seinem Namen abgegeben.

Unsere Mutter, aus wohlhabendem Bürgertum, hatte eine völlig andere Erziehung erhalten, als unser Vater. Sie war politisch und auch gesellschaftlich nicht gerade die erwünschte Partie für die kommunistischen Schwiegereltern.

Vater und Mutter kannten sich erst kurze Zeit, als Mutter von ihm schwanger wurde. Anstand, Verantwortungsgefühl, vielleicht auch Sensibilität und Schwäche unseres Vaters führten zur Eheschließung, zu einer Ferntrauung. Zum Wachsen einer Liebe und eines Zusammengehörigkeitsgefühls blieb keine Zeit. Zusammengerechnet hatten sie bis zu Vaters Tod knapp 5 Monate ihres Lebens gemeinsam verbracht.

Vater musste ein besonders schöngeistig veranlagter Mensch gewesen sein, dabei schwermütig und introvertiert. Er hatte nach der Schulzeit ein Ballett- und Schauspielstudium aufgenommen. Der Krieg hatte ihn rasch zerbrochen.

Fast jeder Fronturlaub bedeutete für unsere Mutter eine erneute Schwangerschaft.

Mutter hatte eine verwöhnte, wohlbehütete Kindheit verbracht. Sie blieb klein und zierlich, wurde aber zäh und lebenstüchtig, lieb und tolerant. Sie entwickelte Kräfte und Fähigkeiten, die unser Überleben sicherten. Sie arbeitete in der Landwirtschaft, stand in der Fabrik am Fließband, erledigte die Buchführung einer Holzhandlung, und abends erteilte sie Klavierunterricht.

Der Schuhkarton vom Dachboden enthielt auch Briefe einer unbekannten Frau aus Berlin. Einer davon war besonders aufwühlend.

1945, in den letzten Kriegstagen, erfuhr ein Vorgesetzter durch einen Denunzianten von Vaters politischer Einstellung. Aus Angst vor seiner Hinrichtung floh unser Vater daraufhin von der Truppe. Er wurde gefasst und mit einem Gewehrkolben zusammengeprügelt. Seine Kameraden ließen ihn liegen. Die Briefschreiberin aus Berlin hatte das beobachtet, ihn ins Haus geschleppt, versteckt, gepflegt und sich in ihn verliebt. Dann wurde sie schwanger. Das hatte unser Vater nie erfahren.

Nachdem er sich ein wenig besser fühlte, wollte er nach seiner Familie suchen. Die Berlinerin musste ihn gehen lassen, wollte in einem späteren Brief nur wissen, wie es ihm ginge. Denn gesund war er nicht, als er sie verließ. Er hatte doch immer so entsetzliche Kopfschmerzen gehabt! Unsere Mutter möge verzeihen, dass es unter den vorausgegangenen Umständen zu dieser Nähe gekommen war. Sie habe ein Kind von ihm und liebe unseren Vater, wäre gerne seine Frau geworden. Er hätte sich ja aber anders entschieden.

Vater und diese Fremde hatten uns mithilfe des Roten Kreuzes gefunden.

Aus anderen Briefen und Tagebucheintragungen unserer Mutter erfuhren wir: Der Krieg war vorbei und Vater hatte uns krank, dringend ärztliche Hilfe benötigend, erreicht. Im Schoß unserer Mutter suchte er Vergessen. Und sie wurde wieder schwanger. Ein paar Monate vergingen.

Ahnte er, dass er sterben musste? Einunddreißig Jahre jung! Er wollte seine Eltern noch einmal sehen, hoffte, sie könnten etwas für die Kinder beschaffen: Lebensmittel, Kleidung. Er fuhr zu ihnen nach Dortmund.

Kaum angekommen musste er ins Krankenhaus. Die Schmerzen waren unerträglich geworden. An der rechten Schläfe, wo ihn der Gewehrkolben besonders stark verletzte, hatte sich ein Tumor gebildet, damals inoperabel.

Ein entsprechendes Telegramm aus Dortmund veranlasste unsere Mutter, trotz der Schwangerschaft, sofort hinzufahren. Ein Güterzug nahm sie und meine damals siebenjährige Schwester mit. Die Fahrt war beschwerlich. Es gab keine geschlossenen Abteile, nicht einmal Sitzplätze, aber viele Unterbrechungen. Auf einem Bahnhof mussten sie Stunden auf die Weiterfahrt warten. Meine Schwester vertrieb sich die Zeit mit Hüpfespielen über in Laken verschnürte Pakete. Es waren Soldaten. Heimkehrer, die in die blutbesudelte deutsche Erde gelegt werden sollten, als Dank für ihre Tapferkeit, für ihr vergeudetes Leben.

Vater lag allein in einem Krankenzimmer.

Mutter hielt ihm eines der mitgebrachten Lebkuchen an die aufgesprungenen Lippen. Er aß sie so gerne, konnte aber nicht mehr schlucken. Keksbrei und Speichel rannen ihm über das Kinn. Das ehemals schöne Gesicht mit den nun fiebrig glänzenden Augen war um Jahre gealtert, war nicht wiederzuerkennen. Unaufhörlich liefen ihm Tränen über die Wangen und verloren sich in den Kissen.

Wohl gab er noch zu verstehen, Frau und Tochter zu erkennen, äußern konnte er sich nicht mehr.

Um unserem Vater im Sterben beizustehen eilte unsere Mutter am nächsten Morgen noch einmal ins Krankenhaus. Meine Schwester ließ sie bei den Schwiegereltern.

Vater war tot. Nachts, als niemand bei ihm war, ist er den letzten Weg gegangen.

Sie überbrachte seinen Eltern die Nachricht vom Tod des Sohnes. Die wollten meine Schwester behalten und behaupteten, unser Vater hätte das zu Lebzeiten so verfügt. Zudem behielte Mutter ja zwei Kinder und eines käme noch hinzu.

Sie versteckten meine Schwester. Aber Mutter fand sie bei einer unverheirateten Cousine im Ort.

In der Nacht hatte Mutter ihr eigenes Kind entführt. Es schneite heftig. Meine Schwester war nur mit einem Nachthemd unter dem Mäntelchen bekleidet, die nackten Füße steckten in verschlissenen Stiefeln. Andere Bekleidung fanden sie in der Eile nicht. In einem Güterzug hatten sie Platz bekommen, bevor das Verschwinden entdeckt wurde.

Ich weiß, dass unsere Mutter, als sie mit mir schwanger ging, erfolglos einen Arzt für einen Abbruch aufsuchte. Und ich weiß, wie oft sie Gott, und in ihrem Herzen auch mich dafür um Verzeihung bat. Sie hat sich immer besonders um mich gesorgt, mich behütet und als ihren größten Schatz angesehen. Gott hat ihr bestimmt vergeben und ich habe ihr nichts vorzuwerfen.

Die ihr zustehende Kriegerwitwenrente hat sie nicht erhalten. »Einen Tumor kann jeder bekommen«, lautete die Begründung.

Mutter ist heute, im Jahre 2002, 88 Jahre. Sie ist noch immer eine bewundernswerte Frau, ist geistig rege geblieben, liest, malt, spielt Klavier, und nimmt Anteil am Zeitgeschehen.

Sie lebt zufrieden in einer Senioreneinrichtung. Zwei ihrer Enkeltöchter arbeiten dort als Pflegepersonal, so hat sie täglich vertraute Gesichter um sich.

Stets äußert sie, wie reich beschenkt sie sich durch ihre Kinder fühlt. Wir lieben und achten sie aufrichtig und das weiß sie. Gefordert hat sie nie etwas.

Von unserer Entdeckung weiß sie nichts. Sie wird ihr vermeintliches Geheimnis mitnehmen in eine andere Welt.

Denn die Briefe und das Tagebuch, damals von uns zurück auf den Dachboden gebracht, waren ein paar Jahre später verschwunden.

Vor Jahren sah ich unsere Halbschwester im Fernsehen. Sie war Moderatorin geworden und trug noch immer den Namen ihrer Mutter. Und wieder hatte ich dieses merkwürdige Gefühl, genau wie mit Vaters Fotografie vor dem Spiegel, als ich noch ein kleines Mädchen war.

Ich denke, ich werde sie aufsuchen, – irgendwann – wenn Mutter nicht mehr bei uns ist.

Ach nein, ich werde das Kapitel in Mutters Sinn abschließen.

Ücretsiz ön izlemeyi tamamladınız.

₺216,07

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Litres'teki yayın tarihi:
22 aralık 2023
Hacim:
161 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783960087533
Telif hakkı:
Автор
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre