Kitabı oku: «Delikatessen für die Sinne (Band 2)», sayfa 2

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ANNÄHERUNGEN

Eine Verabredung mit Florian. Wahnsinn! Er hatte mich in das nobelste italienische Restaurant der Stadt eingeladen.

Noch war er für mich Herr Mertens. Aber in meinen Gedanken nannte ich ihn schon Florian oder Flori. Das durfte natürlich niemand wissen.

Florian Mertens war der Prokurist der Firma, in der ich ein Praktikum absolvierte.

Natürlich hatte ich schon herausbekommen, dass er geschieden und doppelt so alt war wie ich. Das störte mich nicht, er sah umwerfend aus. Brad Pitt war eine graue Maus gegen ihn.

Auf dem Betriebsfest hatte er sich mit mir unterhalten, das heißt, ich hatte versucht, geistreich auf seine Fragen zu antworten. Egal, er hatte mich für den kommenden Freitag eingeladen und wollte mich um 19.30 Uhr von zu Hause abholen.

Mir schwebte vor, das hautenge Minikleid mit den Spaghettiträgern anzuziehen. Ich hatte es im vorigen Jahr für Claudias Hochzeit gekauft. Warm genug war es jetzt im Juli, ich würde ohne Jacke auskommen, besaß auch keine passende. Mein letztes Geld war gestern draufgegangen für ein paar sündhaft teure, schwindelerregend hohe Stilettos, sogenannte High Heels. Darauf gehen konnte ich noch nicht. Ich übte es gerade, als mein sechzehnjähriger Bruder Ben den Kopf durch die Zimmertür steckte.

»Wow, ich wollte dir Pfefferspray für dein Rendezvous empfehlen. Man weiß ja nie. Aber gegen die Waffen«, er zeigte auf meine Schuhe, »ist Pfefferspray nur ein Papierkügelchen, wenn es um Selbstverteidigung geht.« Er grinste frech, dann zog er den Kopf zurück. Glaubte er wirklich, ich würde mit diesen Kostbarkeiten nach ihm werfen, wie ich es manchmal mit den Hausschlappen tat?

Meine Gehübungen auf den stelzenartigen Gebilden erinnerten an einen Zirkusclown. Im Fernsehen auf dem Catwalk sah es irgendwie anders aus. »Hoffentlich schlägt er nach dem Essen keinen Verdauungsspaziergang vor«, sinnierte ich, bevor ich in das Kleid schlüpfte, das heißt, zu schlüpfen versuchte.

Oh jeh! Wie war das eingelaufen in der Reinigung! Dass es aus synthetischem Gewebe war und somit nicht einlaufen konnte, verbannte ich aus meinem Denkvermögen. Vielleicht hatten auch die Tierchen, die man Kalorien nennt, sich mit dem Kleid beschäftigt.

»Ben!«, rief ich, und noch einmal wie ein Mensch in Todesnot: »Ben!«

Die Ohren mit dem MP3-Player verstöpselt, trabte er endlich gelangweilt ins Zimmer. Er schaute mich fragend und amüsiert an, wie ich da halbwegs in dem Kleid feststeckte.

»Ben, du musst mir helfen, ich bekomme den Reißverschluss im Rücken nicht zu.«

Für sein Grinsen hätte ich ihn erschlagen mögen. Ich verkniff mir jede Bemerkung, da nur er momentan im Hause und ich auf ihn angewiesen war.

»Das schaffe ich auch nicht«, hörte ich ihn murmeln und wesentlich deutlicher: »Alle zehn Zentimeter kosten dich fünf Euro.« Als er den Reißverschluss endlich geschlossen hatte, war ich um zwanzig Euro ärmer.

»Denkst du, ich bin die Europäische Zentralbank?«, zischte ich wütend.

Ben zuckte kurz mit den Schultern und summte zu der Musik aus seinen Kopfhörern, als er den Raum verließ. Ich hatte mich schon häufig gefragt, ob er überhaupt noch hören konnte ohne die Dinger.

Nase pudern, Lippenstift. Schon wieder Schweißperlen auf der Oberlippe, dick wie Regentropfen.

Das pünktliche Klingeln des Herrn Mertens hatte mein Bruder erstaunlicherweise wahrgenommen. Er lief vor mir zur Haustür und öffnete neugierig. Bestimmt hatte er gelauert, um nichts zu verpassen.

Mein viel zu enges Kleid und die unglaublich hohen Schuhe erlaubten mir nur einen würdevollen, gemächlichen Gang über den Flur. Jedenfalls hoffte ich, dass Herr Mertens dort im Türrahmen meine schwankenden Minischritte so deutete.

Diese trippelnde Art zu gehen musste ihn an eine japanische Geisha erinnern.

Gott sei gedankt, sein Auto stand gleich vor der Tür! Die zwanzig Meter dorthin auf diesen Ungeheuern, die sich tatsächlich Schuhe nannten, kamen mir vor wie der Pilgerpfad nach Santiago de Compostela. Natürlich hätten die Folterinstrumente an meinen Füßen wenigstens eine Nummer größer sein sollen. Doch welcher Mann findet solche Schuhe in 40 oder 41 noch sexy? Zehen zusammenrollen und durch.

Sein Auto, ein, niedriger Sportwagen, stand platt auf der Straße wie eine Flunder vor der Zubereitung auf der Küchenanrichte.

Herr Mertens hielt mir galant die Beifahrertür auf. Ich starrte entsetzt auf das flache Etwas, das ein Auto war.

Wie um alles in der Welt sollte ich in meinem Outfit charmant diese Niederungen erreichen? Zu Hause hatte ich Auto ein- und aussteigen geübt, abgeschaut im Fernsehen bei der Queen von England. Zuerst den Po auf den Sitz, die Beine nachziehen. Das ging in dem Kleid nicht. Die Queen stieg bestimmt niemals in ein oder aus einem Auto, dessen Bodenblech die Straße berührte.

Ungraziös, mit den Füßen zuerst, als würde ich eine schwankende Segeljacht betreten, stieg ich in das Cabriolet. Immerhin, es war mir gelungen, ohne vorher Kleid und Schuhe auszuziehen.

Die Fahrt zum Restaurant verlief aufregend. Herr Mertens machte mir Komplimente über mein Aussehen, dann plauderte er über dieses und jenes. Doch keine seiner Themen ließ die Möglichkeit zu, mit den ebenfalls zu Hause einstudierten, geistreichen Argumenten zu antworten. Meine Fähigkeit zu sprechen, hatte ich kurzfristig verloren. Wie konnte es auch anders sein mit meinem Traumprinzen in einem Sportwagen in einer warmen Sommernacht. Dazu ich in einem mehr atemraubendem als atemberaubendem Kleid und Schuhen, die sich unaufhaltsam mit meinen gequälten Füßen zu einer Materie vereinten.

Nach ein paar Minuten endete die Fahrt vor dem Restaurant. Herr Mertens eilte um die Flunder, um mir die Beifahrertür aufzuhalten. Das Aussteigen erwies sich als nahezu unmöglich, noch viel schwieriger als das Einsteigen. Es gelang mir nur, indem Herr Mertens meine Hände erfasste und mich mit sichtlicher Anstrengung aus dem Wagen zog wie einen gefüllten Kartoffelsack.

Er ging die wenigen Meter zum Restaurant voraus, um dort die Eingangstür aufzuhalten. Herr Mertens hatte die Strecke problemlos in fünf Sekunden bewältigt.

Ich dachte mir: »Er wird die Tür eine ganze Weile aufhalten müssen, bis ich ankomme.« Das Ziel fast erreicht, hatte ich doch tatsächlich den Fußabtreter auf, nein mit dem falschen Fuß erwischt. Ein blöder Abstreifer aus Metall mit vielen kleinen, offenen Quadraten. Eines dieser Quadrate hielt den Absatz meines rechten Schuhs umklammert. Ich drohte zu fallen. Gerade konnte ich noch mein Gleichgewicht wieder herstellen und ein Stück zurückschnellen wie an einem imaginären Gummiband, sonst hätte ich den ahnungslosen Herrn Mertens umgestoßen.

Er ließ die Restauranttür ins Schloss fallen, um mir behilflich zu sein. Der Absatz steckte fest im Rost. Mein Fuß steckte unlösbar im Schuh. Zu kleine Schuhe haben den Vorteil, dass in solchen Situationen der Fuß im Schuh verbleibt.

Herr Mertens konnte den Absatz befreien. Der hatte leider drastisch seine Winkelposition zur vorderen Schuhsohle verändert. Er baumelte verloren hin und her.

Es hatte Herrn Mertens zunächst die Sprache verschlagen und ich zischte mit verkniffenem Lächeln: »Nicht schlimm, macht nichts«, und dachte: »150 Euro sind dahin. Bei meinem Praktikantengehalt bedeutet das, einen Monat nichts zu essen kaufen zu können und unter einer Brücke zu schlafen.«

Wie gut, dass ich noch bei den Eltern wohnte.

Ich spürte, wie mir Tränen der Wut in die Augen traten. Verstohlen wischte ich sie mit dem Handrücken fort, was dem Augen-Make-up nicht so gut bekam.

An Herrn Mertens Seite schlurfte ich ins Restaurant. Der Schuh mit dem lädierten Absatz musste ja möglichst Bodenhaftung behalten, damit ich nicht stolperte.

Erstaunte Blicke trafen uns. Da kam eine stark gehbehinderte Frau. Sie trug ein atemberaubendes, hautenges Minikleid und High Heels, mit denen Frau bei nahezu jedem Mann auf Augenhöhe kam, und verschmiertes Augen-Make-up.

Der reservierte Platz bot einen fantastischen Blick auf den Sonnenuntergang am tiefblauen Horizont, wo die Wellen des Sees den Himmel küssten.

Ich war versöhnt mit meinen Missgeschicken und wünschte mir, ewig sitzen bleiben zu dürfen. Ich wollte versuchen, die Schuhe unter dem Tisch auszuziehen. Beim Hinausgehen würden meine blutenden Zehen eine knallrote Spur auf dem hellen Teppichboden hinterlassen. Dem blasierten Ober fiele die Kinnlade herunter und ich würde mit den Schuhen in der Hand zum Abschied winken.

»Vorweg kann ich Ihnen die Tomatensuppe empfehlen, die ist köstlich«, platzte Herr Mertens in meine Gedanken. Dazu hatte ihn offensichtlich meine Gesichtsfarbe inspiriert. »Zum Hauptgericht könnte er Hummer mit roten Rübchen bestellen und zum Nachtisch rote Grütze«, dachte ich verärgert.

Die Suppe und die folgenden Speisen waren vorzüglich, Herr Mertens noch viel verführerischer, als in meinen Träumen. Für etwa zwei Stunden war jedes Malheur vergessen.

Als ich mich nach dem Essen behaglich zurücklehnte, vernahm ich ein unmissverständliches Geräusch. Der rückwärtige Reißverschluss meines Kleides hatte den Härtetest durch den letzten Löffel Tiramisu nicht bestanden.

Herr Mertens hatte das Geräusch ebenfalls wahrgenommen und fälschlicherweise als einen Rülpser interpretiert. Er schaute mich irritiert, und wie mir schien, zum ersten Mal verlegen an. Ich hatte keine Lust auf Erklärungen, bat ihn um sein Sakko, bevor mir zusätzlich die Spaghettiträger herabrutschten.

»Ist Ihnen kalt?«, fragte er, bevor er sich erhob, um mir seine Jacke, um die Schultern zu legen.

Er sah den entblößten Rücken. Als er wieder auf seinem Platz saß, zuckten seine Mundwinkel verdächtig. Er konnte sein Lachen nicht mehr zurückhalten.

Und das war ansteckend. Wir lachten beide, bis uns die Tränen kamen und uns vorwurfsvolle Blicke trafen.

Ich hatte die Schuhe unter dem Tisch nicht unbemerkt ausziehen können.

Wie es aussah, als wir das Lokal verließen, will ich versuchen zu beschreiben:

Also: ich schlurfend vorweg wegen der erforderlichen Bodenhaftung für den abgebrochenen Absatz. Über dem ramponierten Kleid das viel zu große Sakko, welches aber keineswegs den gesamten rückwärtigen Schaden bedeckte. Herr Mertens ganz nah, nur eine Handbreit hinter mir, um meine Blöße vor den Gästen, zu verbergen. Das zwang uns zu einem merkwürdigen Gleichschritt. Links, rechts, links, rechts, wobei die schlurfende rechte Seite immer etwas mehr Zeit in Anspruch nahm.

Vor dem Restaurant nahm er mich auf seine Arme. Er trug mich zum Auto, half mir beim Einsteigen. Ihm gelang es, die Schuhe von meinen gemarterten Füßen zu ziehen, und er flüsterte mir zärtlich ins Ohr: »Zum Teufel mit der Schönheit!«

DAS GEBURTSTAGSGESCHENK

Die Großeltern liebten Kai, ihr ältestes Enkelkind, ganz besonders.

Seit seiner Geburt verkörperte er für sie Gegenwart und Zukunft, gab ihrem Leben Inhalt, Freude und Sinn. Er wurde von ihnen verwöhnt und verzogen.

Kai war mein siebenjähriger Neffe, Kind meines Schwagers Fred und seiner Frau Simone. Die beiden hatten drei weitere Kinder, für die wenig Platz in den Herzen der Eltern und besonders der Großeltern war. Ihre Liebe konzentrierte sich auf Kai, den ältesten Sohn des Bruders meines Mannes.

Wir wohnten in der Villa meiner Schwiegereltern, Fred und Simone mit den Kindern, mein Mann Gerd, seine Eltern und ich.

Es war ein attraktives Haus im Jugendstil mit zwölf Räumen und einem großzügigen Anbau.

Meine Schwiegermutter war eine herrische Person, eine kühle, blonde Schönheit mit leuchtend blauen, herausfordernd schauenden Augen.

Mich lehnte sie ab. Nach ihrer Auffassung hatte ich die Beziehung ihres Sohnes zu einer Millionärstochter platzen lassen. Sie war im Recht, aber ich wusste nichts von der Verbindung, als ich meinen Mann kennenlernte. Gerd hatte mir nie davon erzählt.

Nach Jahren erfuhr ich davon auf einer Geburtstagsparty, auf der diese Frau anwesend war. Sie kam mit ausgestreckten Armen lächelnd auf mich zu, um mir zu sagen, dass sie mir verziehen hätte. Aufgrund meines verständnislosen Blickes lachte sie nur heftiger und umarmte meinen Mann. Ich erfuhr, dass ihre und Gerds Eltern überzeugt und zufrieden gewesen waren bei dem Gedanken an eine Verbindung ihrer Kinder.

Neunzehn Jahre war ich, als ich gleich nach der Schulzeit heiratete. Ich jobbte bei einem Fotografen. Hier entstanden Fotos von mir für die Werbung amerikanischer Konsumgüter.

Siebzig DM erhielt ich für jedes Foto, das angenommen wurde. Ich war fotogen und selbstbewusst und glaubte, die Welt würde zu meinen Füßen liegen. Aber meiner Schwiegermutter gelang es mit nur einem arroganten Blick aus ihren lang bewimperten Augen, dass ich mich klein und hässlich fühlte.

Und ausschließlich diesen Blick ließ sie mir zukommen.

Aus mir unverständlichen Gründen war meine Schwägerin Simone ständig eifersüchtig auf mich. Vielleicht, weil sie meistens in Umstandskleidung herumlaufen musste. Ich glaube, nur die ständigen Schwangerschaften ließen meinen Schwager an dieser Ehe festhalten.

Gleichzeitig erhielt Simone durch ihren Babybauch mehr Aufmerksamkeit und Anerkennung von der gesamten Familie und erfuhr Rücksichtnahme.

Mein Mann war selten zu Hause. Sein Beruf forderte ihn. Er war Verkaufsleiter einer Firma für Heizungen und Sanitäreinrichtungen mit 60 Mitarbeitern. Viele geschäftliche Gespräche fanden bei einem Essen nach Feierabend statt. An den Wochenenden suchte er Erholung auf der Jagd. Seiner Familie gehörten ausgedehnte Ländereien. Ich hatte dieses Hobby hassen gelernt, aß aus Prinzip kein Wildfleisch. Es kam mir pervers vor, das Töten von Tieren als Hobby.

Die Fasane zum Beispiel wurden in einer Voliere gezüchtet, am Morgen des Treibjagdspektakels freigelassen, damit die erlauchte Jagdgesellschaft zum Abschießen etwas vor die Flinte bekam.

Meinem Schwiegervater war ich offensichtlich nicht unsympathisch, jedoch traute er sich kaum, mir gegenüber positive Gefühle zu zeigen. Er hatte ohnehin kein Stimmrecht in diesem Haus. Fünf Jahre nach meiner Eheschließung starb er.

Ich wünschte mir ein Kind. Mein Alltag war unausgefüllt. Ein paar Werbeaufnahmen, Reiten, Tennis, Shoppen.

Drei Jahre waren wir verheiratet, drei Fehlgeburten hatte ich hinter mir. Die nächste Schwangerschaft erkannte ich erst im vierten Monat. Ich hatte nicht mehr damit gerechnet.

Es gab keine Anzeichen dafür. Ich blieb schlank, der Bauch rundete sich bis zum achten Monat kaum, dann wurde Laura geboren. Zu früh, ein Unfall. Ich war die große, breite Treppe in der Halle hinabgestürzt. Eine Haltestange vom Treppenläufer hatte sich gelöst. Sicher ein Zufall. Hoffentlich ein Zufall.

Nach drei Tagen im Kreißsaal hielt ich das kleine, zappelnde Bündel im Arm. Die Ärzte hatten dem Kind vor der Geburt kaum Chancen eingeräumt und nun bedurfte es keiner Sonderbehandlung. Die Kleine war gesund, fünfzig Zentimeter lang und fünf Pfund schwer.

Ich war so glücklich, so unbeschreiblich glücklich, wenn ich mich auch von meinem Mann alleingelassen fühlte. Gerd war einer Einladung zu einer Jagd im Harz gefolgt.

Als stolze Mutter kam ich nach Hause, aber meine Schwiegermutter besuchte mich nicht. Obgleich sie nebenan wohnte, schaute sie sich den neuen Nachwuchs der Familie nicht an.

Es war sechs Wochen später. Die Schwiegereltern hatten Gäste. Gerd ging zu ihnen, um vor der Gesellschaft zu fragen, ob sie sich denn ihr Enkelkind nicht einmal anschauen wollte.

Betretenes Schweigen. Dann stand ausschließlich Gerds Mutter auf und folgte ihm in unsere Wohnung. Mich ignorierte sie, beugte sich über das Babybettchen, zog spöttisch die Augenbrauen hoch und meinte lediglich, sie bedaure, dass ihre wirtschaftlichen Mittel durch ihre anderen vier Enkelkinder erschöpft seien und wir nichts erwarten könnten. Sie verließ das Kinderzimmer.

Ich war wieder einmal durch sie zutiefst verletzt und beschämt worden. Gerd hatte sie doch nicht wegen eines Geschenks geholt! In diesem Haus drohte ich zu erfrieren.

Durch meine kleine Tochter hatte ich zwar eine Aufgabe, aber ich fühlte mich in dieser Familie so ungeliebt, dass ich Begegnungen zu vermeiden versuchte. Das war durch die Wohnsituation fast unmöglich. Mein Mann erlaubte uns durch sein Einkommen einen hohen Lebensstandard, aber er war nie da, wenn ich ihn brauchte. Ein Auszug aus der Villa kam für ihn überhaupt nicht infrage. Und er verteidigte mich selten, wenn ich ignoriert oder verbal angegriffen wurde. Er schwieg.

Zwar entwickelte sich unsere kleine Laura prächtig, aber auch noch nach Monaten erfuhr sie vom Rest der Familie kaum Beachtung.

Es drehte sich weiterhin alles nur um Kai. Zu seinem siebten Geburtstag erhielt er ein Sparbuch mit einem fünfstelligen Betrag. »Ein Grundstein für sein erstes Auto«, lachte meine Schwiegermutter und drückte Kai fest an sich.

Mein Mann schwieg, ich schwieg. Simone und Fred schauten verlegen aus dem Fenster. Die anderen Kinder lärmten desinteressiert.

Den überladenen Geburtstagstisch empfand ich als eine Provokation. Unsere Tochter hatte bis dato nicht ein Strampelhöschen erhalten.

An der Kaffeetafel streckte unsere Laura von meinem Schoß aus ihre beiden Ärmchen in Richtung Großmutter. Die ignorierte es. Schnell liebkoste ich meine Kleine, um ihr über die Enttäuschung hinwegzuhelfen.

»Du verzärtelst sie«, war der Kommentar meiner Schwiegermutter mit eisiger Stimme. Immerhin ein paar Worte, die an mich gerichtet waren.

Laura war etwa sieben Monate, als ich begann, die Familie zu hassen, meinen Mann inbegriffen. Die anfängliche Ohnmacht war einem Zorn gewichen, der deutlich meinen Herzschlag beschleunigte, sobald ich einem Mitglied der Familie begegnete.

Ich wollte fort mit meiner Kleinen, was hielt mich? Bloß heraus aus diesem goldenen Käfig, der von Monstern bevölkert war, die mich das Fürchten lehrten. Ich spürte neben Verletzungen auch Neid. Nicht für mich wünschte ich etwas, nur für mein Kind, eine Umarmung, ein Lächeln, eine Liebkosung.

Es geschah an einem der ersten Dezembertage. Ich hatte Laura zum Ausfahren angezogen und in die Karre gesetzt. Wir wollten das Grundstück verlassen, als Kai mit einem Paket unter dem Arm den Gartenweg heraufkam.

Er war unschuldig an der Situation im Hause, hatte ein sonniges, liebenswertes Wesen. Ich aber konnte nicht mehr differenzieren.

»Tante Ina«, er zeigte auf das Paket, »da drin sind Groggläser, die habe ich für meine Mama zum Geburtstag gekauft. Omi hat mir das Geld gegeben.« Er legte das Paket vor die Kinderkarre, sodass ich anhalten musste.

Dann beugte er sich zu Laura hinunter und streichelte ihr pausbäckiges Kindergesicht.

Die Kleine strahlte ihn an und quietschte vor Vergnügen.

In mir brach ein Damm, der angestaute Zorn entlud sich. Ich reagierte völlig unverhältnismäßig.

»Nimm deine schmutzigen Finger weg, Kai, was fällt dir ein?«, brüllte ich und riss an seiner Hand, ihm bewusst Schmerzen zufügend.

Kai schaute mich hilflos und erschrocken an. Tränen füllten seine Kinderaugen.

Er senkte verlegen den Kopf, hob sein Paket auf und stapfte wieder den Gartenweg hinunter, bog um die Ecke und entschwand kurzfristig meinem Blickfeld. Wohin wollte er?

Eine Minute danach. Ein entsetzlicher Knall, ein Quietschen, dann ein Scheppern. Etwas wirbelte durch die Luft. Ein dumpfer Aufprall. Stille.

Ich hastete zur Straße, ahnte, nein ich wusste, was passiert war.

Eine kleine graue Pudelmütze lag auf dem Fußweg vor dem Gartentor, unweit davon der Karton mit dem Geburtstagsgeschenk.

Ein Auto stand diagonal zur Fahrbahn, blockierte auch den Fußweg. Davor ein kleiner verkrümmter Körper mit unnatürlich aufgerissenen Augen. Eine schmale, leuchtend rote Blutspur lief über das Kinn.

Ein paar Tage später hatte meine Schwägerin Geburtstag. Ihr Sohn lag im Koma auf der Intensivstation der Universitätsklinik.

Meine Schwiegermutter war nicht ansprechbar. Eine gebrochene Frau, einsam in ihrer Trauer um das für sie Liebste und Einzigartige. Grau und alt sah sie aus, verweigerte die Nahrung und starrte stundenlang auf das Telefon.

Ich schämte mich entsetzlich, erzählte niemandem von dem letzten Gespräch mit Kai.

Fünf Tage später, Lauras erster Geburtstag.

Um drei Uhr morgens schrillte im Haus ein Telefon. Ich wusste es sofort. Meine Gebete waren nicht erhört worden. Lähmung erfasste mich, aber ich musste aufstehen. Mein Mann erhob sich ebenfalls schlaftrunken. Wir warfen uns die Bademäntel über und eilten in den Wohntrakt von Fred und Simone.

Sofort erschienen dort auch die Schwiegereltern. Schwiegermutter war nur noch ein Schatten ihrer einstigen Erscheinung. Jegliche Überheblichkeit war von ihr abgefallen.

Niemand sagte etwas. Der Telefonhörer baumelte von Freds rechtem Handgelenk, nur ein unpersönliches Tuten war noch zu hören. Simone klammerte sich zitternd an ihren Mann.

»Tot«, flüsterte sie. »Er ist tot.«

Die Glühbirne einer Stehlampe begann zu flackern, als wollte sie erlöschen. Das gespenstische Licht gab der Szene etwas Unwirkliches.

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