Kitabı oku: «Spaziergang zum Dschungelkönig. Reisestories aus vier Kontinenten», sayfa 3

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Tausende Männer unter weißen Kopftüchern haben sich in türkisfarbene Talare geworfen. Andere tragen die Uniform römischer Legionäre, samt Schild und Lanze. Ein Laien-Jesus reitet auf einem Esel voran. Die Straße ist ein einziger Blumenteppich.

Dem Heiland folgt das Fußvolk, mit Weihrauchfässern, Blumenkörben, Heiligenbildern, Madonnen. Mittendrin Blaskapellen. Für viele Männer und Frauen ist die Prozession beinahe so beschwerlich wie der Kreuzweg des historischen Jesus zur Schädelstätte. Sie tragen auf ihren Schultern schwere, kunstvoll verzierte Holzpostamente, auf denen menschengroße Marien- und Christusfiguren aus der Masse ragen.

Bis zu fünfzig Menschen ächzen unter jeder der Tragebühnen. Keiner käme auf die Idee, Traktoren oder Sattelschlepper einzusetzen. Das wäre unwürdig. Kilometerlang zieht sich der sakrale Bandwurm von der Kathedrale aus durch Antigua. Am Ende dackeln die Spielzeugverkäufer der Prozession hinterher. Im Angebot: Marienpüppchen. Nicht zu vergessen: Plastiksoldaten und Spielzeugpanzer.

Tags darauf im Gewirr der Hauptstadt. Ich wehre ab: „No, gracias“, nein, ich brauche keine Sonnenbrille. Bestimmt nicht dort, wo es gleich hingeht - im Urwald. Kaum sieben Uhr morgens, und schon schwärmt das Heer der Feuerzeug-, Ramschuhren- und Lotterielosverkäufer durch die calles und avenidas von Guatemala-Stadt, wittert Kaufkraft im Wartesaal des Busbetriebshofes von „Fuente del Norte“, der „Quelle des Nordens“, in der 17. Calle, Zona I. Sie schlurfen von Holzbank zu Holzbank, vorbei an den Fuselfahnen dreier Betrunkener, die sich mit Prensa Libre-Sonderseiten über die jüngste Miß-Soundso-Wahl zugedeckt haben. Ein Schuhputzer, an die sechzig, poliert einem Knaben reicher Eltern die Westernstiefel.

Der Fahrkartenschalter schließt schon wieder. Die Urwaldfahrt ist ausgebucht, wie immer. Alle Maissäcke, Matratzen, Fahrräder und Tramperrucksäcke haben auf dem Busdach Platz gefunden. Der adjutante, der Assistent des Fahrers, zurrt alles mehrfach fest. Das muß sein. Die fünfhundert Kilometer lange Busroute bis nach Flores, dem Provinzzentrum und Vorposten der Zivilisation im dünn besiedelten Urwalddepartement El Petén, Sprungbrett zu den sagenhaften Maya-Pyramiden von Tikal, ist die härteste im Land. Nicht nur zur Regenzeit.

Der „Hühnerbus de Luxe“ röhrt los. Ich sitze auf einem Einzelplatz direkt hinter dem Fahrer, einem Mann mit Schnauzbart und Baseballkappe, und denke über den Kabelsalat unter dem Armaturenbrett und die Splitterspuren an der Windschutzscheibe nach.

Von den anderen 45 Fahrgästen hat nicht jeder einen Sitzplatz ergattern können. Nach Schalterschluß ist es zu einer wundersamen Fahrkartenvermehrung gekommen. Ist Polizei in Sicht, gehen die stehenden Insassen überfüllter Überlandbusse auf Kommando des Fahrers hurtig in die Hocke und täuschen Sitzhaltung vor.

Nach zwanzig Minuten liegt der Moloch Hauptstadt hinter uns, die Landschaft wird kahl, dürr, steinig, bergig. Metergroße Kakteen säumen die kurvige Teerstraße nach Morales. Wir passieren Grundstücke mit kalkweißen Villen darauf, sehen Kaffeepflücker auf den Plantagen. Bilder wie aus den Romanen des Schriftstellers B. Traven.

Pause in El Progreso. Ein Dutzend Händler stürmt den Bus. "Hay Coca-Cola, hay bananas!" Auch im Sortiment: Prensa Libre, Peanuts, Papaya, Bananenchips und Cashewkerne. Nach einer halben Stunde ein erneuter Stopp. Polizeikontrolle. Zwei Motorradpolizisten bitten den Fahrer hinaus. Offenbar sind seine Papiere nicht in Ordnung, aber nach zehnminütigen Verhandlungen sitzt er wieder am Steuer. ‘Cuánto cuesta?’ frage ich mich. Ob da ein paar Geldscheine den Besitzer gewechselt haben?

Die nächste Staatsabordnung läßt nicht lange auf sich warten: Kurz vor Morales stoppt uns eine Militärpatrouille. Ein Camouflage-Mann tritt an Bord, und ein feurig-pathetischer Wortschwall ergießt sich über die Petén-Reisenden. „Immer vorsichtig fahren!“ lautet die Ermahnung, vor allem in diesen Tagen der Semana Santa, der Karwoche, Zeit der Besäufnisse und Prozessionen. Zum Schluß preist der Mann die Armee Guatemalas und ihre „vaterländischen Verdienste“. Alle Guatemalteken im Bus klatschen eilfertig.

Der Adjutant des Fahrers muß Flugblätter mit Erste-Hilfe-Tips verteilen. Keine dumme Idee, denn die Überholstunts des Fahrers sind haarsträubend. Schlaglöcher zwingen ihn ohnehin ständig auf die Gegenfahrbahn. Am Straßenrand kann man Kreuze zählen. Hier könnte Henri-Georges Clouzot seinen Thriller „Lohn der Angst“ gedreht haben.

Die Mittagsverschnaufpause in Morales, dem Städtchen, wo die Departements Izabal und Petén sowie Belize aufeinandertreffen, dauert eine knappe Stunde. Keine hundert Kilometer sind es von hier bis zur Karibik, keine 25 bis Honduras . Der Auspuff ist locker und wird neu angeschweißt. Elf Stunden soll laut Fahrplan die Fahrt nach Tikal, dem „Kulturerbe der Menschheit“, dauern. Aber die Realität, die hat ihren eigenen Plan.

Ein Benzinkanister und zwei Matratzen werden noch auf das Dach geladen, dann geht es weiter. Wenig später überqueren wir den Rio Dulce, den „süßen Fluß“, der in den Golf von Honduras fließt. Hier steht der Tropenwald Spalier, wir sehen Kormorane, Reiher und Pelikane, in Richtung Westen fällt der Blick auf den Izabal-See.

Mitten in Fronteras blockiert ein Laster beide Straßenseiten. Am Ortsausgang steigt noch ein Campesino mit Maissack und Machete zu. Der Fahrer wird nervös: „Machete abgeben!“ Von nun an geht es endlos geradeaus, immer nach Norden. Riesige Viehweiden säumen die Straße - den amerikanischen Schnellimbißketten sei's gedankt. Die Hälfte ihres Handels wickelt die Fleischexportnation Guatemala mit den USA ab.

Allmählich wird es schwül, Regen beginnt zu nieseln. Wir passieren einen großen Steinbruch. „Peligro. Area de trabajo“ warnt ein Schild. Uns aber droht keine Gefahr, während der Semana Santa wird nicht gesprengt, werden keine Steine geklopft. Ein Truck mit Tropenholzstämmen kommt uns entgegen, vor den Hütten der Indios streunen Hunde, Hühner und Schweine. Der adjutante brüllt in jeder noch so winzigen Urwaldstraßensiedlung aus der offenen Tür, wo es hingeht: „A Flores, a Flores!ׅ“ Wer zusteigen will, muß sich sputen. Dorfschönheiten dürfen ein paar Kilometer kostenlos mitfahren, manchmal auch Campesinos. Seit neun Stunden sitzt der Fahrer am Steuer.

Maisfelder, kleine Straßendörfer, herumlungernde Soldaten mit Schulbubengesichtern, fast jeder mit Gewehr. Kurz vor einer unbefestigten glitschigen Brücke kommen uns zwei Laster mit Kisten leerer Brauseflaschen entgegen. Unser Fahrer müht sich, den Schlaglöchern auszuweichen. Ab und zu hüpfen wir doch alle an die Decke. Der Straßenbelag hat längst von Teer zu Schotter gewechselt.

Minuten später ein lauter Knall, gefolgt von einem Zischen. Ein Reifenwechsel ist fällig, der adjutante muß ran. Alles aussteigen. Pause im Regen. Nach zwanzig Minuten ist der Reifen gewechselt, und wir können weiterfahren. Aus der Kirche einer evangelikalen Sekte ist laute Folkloremusik zu hören, ein Klatsch- und Schunkelgottesdienst für die Armen.

Nebel zieht zwischen den Anhöhen herauf. Die Straße beginnt zu verschlammen. Wohin man blickt, überall Kahlschlag und Brandrodung. Noch ist der Petén das siebtgrößte Regenwaldgebiet der Erde. Mit zunehmender Nutzung des Urwalds sind in den zurückliegenden Jahrzehnten immer mehr Siedlungen entstanden, wurden Straßen gebaut, wurde nach Erdöl gebohrt.

Der Petén avancierte auch zum Rückzugsgebiet von Guerillagruppen, die sich gegen die Oligarchie der Großgrundbesitzer und die Militärdiktatoren stellten. Es ist nicht viel, was diese Urwaldregion erwirtschaftet, in der länger als ein Jahrtausend eine Maya-Bevölkerung ansässig war, bevor im 17. Jahrhundert die spanischen Eroberer kamen.

Das Dorf San Luis, seit Anfang des 18. Jahrhunderts von Kekchi-Indios bewohnt, passieren wir ohne Behinderung. Eine Woche später, während der Rückfahrt, wird uns hier eine Militärpatrouille aus dem Bus nötigen: Alle Männer, auch die Touristen, werden gefilzt. Arme hoch, Beine auseinander!

Kurz vor der Stadt Poptún passieren wir die Abzweigung zur „Finca Ixobel“, einer Farm, die der Amerikaner Mike DeVine und seine Frau Carol Ann Anfang der 1970er Jahre gekauft und als Anlaufpunkt für Rucksacktouristen attraktiv gemacht hatten. Das Paar bot Höhlentouren, Flußfahrten und Reitferien. Dann wurde Mike 1990 von Regierungssoldaten verschleppt und ermordet. Sechs Soldaten niedriger Ränge erhielten für die Tat eine lebenslange Haft. Die Hintermänner blieben im Dunkeln. Später enthüllte das US-Magazin Newsweek die wahren Tatbestände, die auf einer Zusammenarbeit zwischen dem guatemaltekischen Militärregime und der CIA beruhten.

Bei einem Stopp in Poptún fließen Bier und Cola. Auch die Moskitos haben jetzt Durst. Von hier bis nach Flores, das auf einer Insel im Petén-See liegt, sind es noch immer 120 Kilometer. Bei der Ankunft am Busbahnhof in Flores um halb elf in der Nacht stürmen Hotelanwerber auf mich ein. „Da vorne, da liegt der Flugplatz“, sagt einer der Schlepper. Mit einem Hundert-Dollar-Ticket für den Flug von Guatemala-Stadt hierher wäre ich um einiges schneller am Ziel gewesen. Aber was ist schon das Ziel?

Die Wiedertäufer von Upper Barton Creek

Zu Ostern bei ultraorthodoxen Mennoniten im Urwald von Belize

Das stakkatohafte Hufgeklapper auf dem Asphalt täuscht Tempo vor. Einige Autofahrer hupen ungeduldig. Ihnen ist das Bild auf dem Western Highway, der Nationalstraße von San Ignacio zur 116 Kilometer fernen Karibikmetropole Belize City, vertraut: Zwei Pferde ziehen einen kleinen Planwagen, auf dessen Holzbock ein vollbärtiger Mann mit Strohhut sitzt. Fremd wirken nur die beiden Rucksacktouristen neben ihm. Teilnehmer einer gar nicht kommerziellen Kutschfahrt im Westen Belizes, an der Peripherie des Dschungels, einen Jaguarsprung weit von der Grenze zu Guatemala. „Wir wollen Jesus nachfolgen“, sagt der rothaarige Franz. Und wir, die beiden deutschen Touristen, wollen Franz nachfolgen. In den Urwald, zu den Wiedertäufern, nach Upper Barton Creek, zu einem der „settlements“, wie es auf der Zentralamerikakarte heißt.

Franz B. Penner, dreißig, ist Mennonit. Das Wort Gottes ist der Kompaß seines Lebens. Kindertaufe, Zölibat und die Abendmahlsfeier der katholischen Kirche sind ihm ein „Greuel“. Wie schon im 16. Jahrhundert dem katholischen Priester Menno Simons, der 1536 seine Gemeinde im friesischen Witmarsum verließ, sich den Täufern anschloß, als deren Ältester in Emden und Groningen das „Fundament des Christelijken Leers“ neu legte und zum Urvater der Mennoniten wurde. Franz war nie in Emden oder Groningen, nie in Deutschland oder Holland - trotzdem spricht er wie alle Mennoniten friesisches Platt und das Deutsch der Luther-Bibel.

Seine Vorfahren mußten immer wieder um ihres Glaubens willen fliehen. Seit dem Reichstag zu Speyer 1529 stand auf die Wiedertaufe die Todesstrafe. Friesland, die Niederlande, Preußen, Rußland, die USA, Kanada, Mexiko, Süd- und Mittelamerika sind die Stationen von Exil und jahrhundertelanger Flucht der Mennoniten - der Flucht vor Scheiterhaufen, Kriegsdienst und Hunger. Für Franz` Eltern und zwanzig andere Familien endete die Odyssee 1970 mitten im Urwald, in der Siedlung Upper Barton Creek in Belizes Bezirk Cayo.

Wir trafen ihn am Markt in San Ignacio um sechs Uhr morgens. Es war ein Karsamstag. Da stand er mit schwarzer Twillhose, ausgeleierten Hosenträgern, froschgrünem Baumwollhemd und kreisrundem Strohhut vor seinem Planwägelchen wie ein in die Jahre gekommener Huckleberry Finn. Kraut und Kartoffeln bot er schüchtern im Gemenge der Marktschreier und Schnäppchenjäger an und weckte unsere Neugier - einzutauchen in das Leben der Wiedertäufer. Ja, freilich, er könne uns auf dem Rückweg mitnehmen, sagte Franz, aber der Weg sei weit. „Es möchten schon zwei Stunden sein.“

Die zwanzig Kilometer hatte er mit seinem Pferdewagen zurückgelegt, um in dem verschlafenen 8.000-Einwohner-Städtchen im Westen Belizes seinen Kohl zu verkaufen. Vom Erlös hat er Bohnen erstanden. Und einen Becher Popcorn. An anderen Samstagen - „wenn es uns not ist“ - Schuhe und Stoff, auch Pestizide und Kunstdünger. Jeder Luxus ein Tabu, denn „was das Leben angenehm macht, ist Gott ein Greuel“, sagt Franz und strafft die Zügel. Auto, Flugzeug, Elektrizität, Mode, Tanz, Photographieren, Alkohol und Nikotin - sie lehnen es ab. Die Mennoniten leben streng nach der Bibel, die über hundert von Upper Barton Creek strengstens, „ohne maßloses Essen und Trinken, ohne Unzucht und Ausschweifung, ohne Streit und Eifersucht“, wie Paulus den Römern predigte. An einer Texaco-Tankstelle kauft Franz eine Gallone Petroleum. Die 3,785 Liter werden seine Nachtlampe monatelang brennen lassen.

„Der Weg in den Himmel ist schmal“, sagt Franz. Der Weg zu seinem Hof auch. Die Zivilisation, in den Worten der Mennoniten „die Welt“, liegt hinter uns. Vor uns eine Arche Gottes? Lehm- und Schotterpiste führen durch den Urwald, bei Anhöhen heißt es vom Wagen absteigen. Tropische Postkutschenromantik im Datenautobahnzeitalter. An einer Kreuzung gabelt Franz seinen Onkel Jakob auf. Der hat ein Glasauge, seit ihn ein Fremder überfiel und ihm Schrot ins Gesicht blies. Wegen ihrer unbedingten Gewaltlosigkeit sind die Mennoniten oft Opfer von Gewalttätern. „Arbeiten die deutschen Bauern auch mit dem Pferd?“, will Onkel Jakob wissen.

Upper Barton Creek. Wo sich bis 1970 Tapir und Gürteltier gute Nacht sagten, breitet sich heute die Kolonie aus. Aus Mexiko waren die Kolonisten gekommen. Belizes „last frontier“, das sind in die gerodete Landschaft gewürfelte Holzhäuser, die nur ein Feldweg verbindet, abgezäunte Weiden, Obstgärten, Kartoffeläcker. Ein Dorfkern ist nicht auszumachen. Das Gemeindehaus ist wochentags Schulhaus, am Tag, als Gott ruhte, Kirche.

„Wen hast du da mitgebracht?“ Susanne, Franz' Frau, erstaunt der Besuch. Deutsche Touristen verirren sich nach Upper Barton Creek so selten wie Mennoniten auf die Hamburger Reeperbahn. Für Gottes abgeschiedene Siedler scheint Gastfreundschaft das elfte Gebot zu sein. Dem jungen deutschen Paar - „Seid ihr geheiratet?“ - werden Hühnchen, Kartoffeln, Möhren und Ananas-Mango-Kompott aufgetischt. Keine Maistortillas, wie fünfzig Kilometer weiter westlich im Land der Maya. Franz spricht das Tischgebet. Rudolf, Hubert und Lydia mühen sich um ernste Gesichter. Drei, vier und fünf Jahre alt sind seine Blondschöpfe. Samuel, sechs Monate alt, schläft. Er wird wohl nicht das jüngste Kind der Penners bleiben. Zehn Esser am Tisch, aufgereiht wie die Orgelpfeifen, sind am Lauf des Urwaldflusses Barton Creek keine Besonderheit. Der nächste Treck weiter Richtung Süden, vielleicht nach Bolivien, vielleicht nach Argentinien, ist programmiert. Für exponentielles Bevölkerungswachstum ist ein 25-Hektar-Gut wie das von Franz nicht geschaffen. Gott hat das Drehbuch zum Exodus geschrieben: „Seid fruchtbar und mehret euch!“

Wir berichten von „der Welt“ - wie von einem fremden Planeten. Von fünf Wochen Guatemala, den Straßenkindern, die Klebstoff schnüffeln, von den Armensiedlungen der Indios. „Wir geben manchmal Leuten aus El Salvador und Guatemala Arbeit. Das sind fleißige Menschen“, fällt Franz dazu ein.

Mit Franz zu reden ist, als müßte man einem Menschen aus dem Mittelalter die Funktion eines Computerchips erklären. Begriffe wie „Bank“, „Universität“ oder „Journalist“ kennt er nicht. Nur eine einzige der 21 Familien liest gelegentlich Zeitung. Ansonsten begnügen sich die Menschen in Upper Barton Creek mit ihrem fünfhundert Jahre alten Weltbild. „Warum so lange lernen für ein rechtschaffenes Handwerk?“, unterbricht Susanne Penner unser Gespräch über Ausbildung in Deutschland. Dabei wippt sie in gemächlichem Rhythmus in ihrem Schaukelstuhl, an der Brust den kleinen Samuel. Samuel wird einmal sechs Jahre lang zur Schule gehen, jeweils ein halbes Jahr ins Gemeindehaus, die anderen sechs Monate des Jahres wird er als Lehrling seinem Vater bei der Feldarbeit und beim Schmieden von Werkzeugen helfen. Lesen, Schreiben, Rechnen und ein Handwerk müssen genug sein für ein gottesfürchtiges Mennonitenleben.

Vier Prozent der 328.000 Belizer und etwa 2,1 Millionen Menschen weltweit leben nach dieser mennonitischen Auffassung. Trotz ihrer geringen Zahl tragen sie dank ihres Fleißes wesentlich zur Lebensmittelversorung in der früheren britischen Kolonie bei. Forst- und Landwirtschaft sind der größte Wirtschaftsfaktor in dem Zwergstaat, der 1981 unabhängig wurde. Nicht größer als Hessen ist der Vielvölkerstaat. Mestizen, Kreolen, Maya-Indios, Schwarze, Asiaten und Europäer leben friedlich unter dem Dach der parlamentarischen Monarchie zusammen. Ihr gemeinsames Staatsoberhaupt ist Queen Elizabeth II. Die USA und Großbritannien sind Belizes wichtigste Handelspartner. Mahagoni, Rindfleisch, Zucker, Melasse, Zitrusfrüchte, Bananen, Kakao und Fisch gehen in den Export, Maschinen und andere Industriegüter, Brennstoffe und Konsumgüter werden importiert. Touristen schätzen das einstige Britisch-Honduras - wegen seines Urwalds, zahlreicher Maya-Stätten und der Cays, den palmenbestandenen Inseln zwischen Karibikküste und Riffs.

Fix, der schwarze Mischlingshund der Penners, fängt an zu bellen. Sein Kläffen kündigt den Besuch von Peter Penner, Franz' Vater, an. Es hat sich schnell herumgesprochen, daß zwei „Ditsche“ im Dorf sind. Bei Peter Penner weckt das missionarischen Eifer, aber auch Gastfreundschaft: Er lädt uns ein, bei ihm zu übernachten. Eine Petroleumfunzel wirft diffuses Licht in der Wohnstube, während draußen die Grillen zirpen.

Stolz nimmt der 67jährige einen leinengebundenen Wälzer aus dem Regal: den „Märtyrerspiegel“. Das Buch dokumentiert die Leidensgeschichte aller verfolgten Christen, in deren Tradition sich auch die Mennoniten sehen: von der Christenverfolgung im alten Rom über die Inquisition bis zum Vernichtungsfeldzug gegen die Wiedertäufer.

Katharina Penner, Peters 68jährige Frau, kommentiert einen schwarzweißen Holzschnitt aus dem 16. Jahrhundert, als wäre es ein dpa-Foto von einer Hinrichtung in China oder dem Iran: „Guck, da ziehn'se ihm die Beene lang, und den da ham'se aufjespießt.“ Peter Penners Vorwurf, daß wir dieser verruchten katholischen Kirche angehören, die einst seine Vorfahren blutig verfolgte, ist nicht zu überhören. Auch unsere Jeans und Turnschuhe sind für ihn Zeichen eines falschen Glaubens. „Eine Frau soll nicht die Ausrüstung eines Mannes tragen“, zitiert er das Buch Deuteronomium und zupft dabei an seinem weißen Prophetenbart, der ihm bis zum Gürtel reicht. Er hat sich nie im Leben rasiert, auch das sei ein Gebot Gottes. Mit manchen Geboten, glaubt Peter Penner, will Gott nur den Gehorsam des Menschen prüfen. Wie bei Abraham. Der sollte für Gott seinen Sohn schlachten.

Bedingungslosen Gehorsam leisten die Mennoniten nur Gott. Den Staat tolerieren sie bestenfalls. Sie zahlen zwar Steuern, doch gehen sie nicht wählen. Nur eine Bedingung stellen sie: Der Staat muß die Männer vom Kriegsdienst und die Kinder von der Schulpflicht freistellen. Plötzlich fragt die alte Katharina Penner aus dem Dunkel des Raumes: „Lebt der Hitler eigentlich noch?“ Sie wundert sich, daß er Selbstmord begangen hat. „Der wollte doch über allen sein“, meint sie.

Idyllisch liegen die skandinavisch anmutenden Holzhäuser in der tropisch-grünen Hügellandschaft. Die Luft ist noch kühl an diesem Ostermorgen. Auf der ganzen Welt feiern Christen diesen Tag als das höchste Fest ihres Glaubens. Nicht jedoch in Upper Barton Creek. Wiehernde Pferde durchbrechen die morgendliche Stille. Peter Penner spannt die beiden Hengste vor den Wagen. Um acht beginnt die Versammlung im Gemeindehaus. Eine Kutsche nach der anderen fährt vor. Die Menschen, die aussteigen, sind kaum zu unterscheiden. Die schlichten hochgeschlossenen Kleider sind alle gleich geschnitten, nur die Farben variieren: schwarz, braun, grün oder blau.

Die Männer tragen alle einen zotteligen Pagenschnitt, die Frisuren der Frauen bleiben unter einem Kopftuch und an Sonntagen zusätzlich unter einer schwarzen Rüschenhaube verborgen. Selbst die blassen Gesichter ähneln sich. Weil die Mennoniten unter sich bleiben, sind alle irgendwie miteinander verwandt.

Die Frauen und Mädchen versammeln sich in einem Kreis rechts des Gemeindehauses, die Männer links davon. Außerhalb der Familie haben Männer und Frauen praktisch nichts miteinander zu tun. Wenn neue Holzhäuser hochgezogen, wenn der Schotterweg ausgebessert wird, stehen die Frauen am Herd. Küche, Kinder, Kirche - feministische Emanzipation erübrigt sich, wo es keine Karrieren gibt. Anlässe zum Schwätzen sind rar: Mal bleibt der Sommerregen aus, mal lahmt ein Pferd, mal hat sich ein Waschbär durch den Hühnerstall gefressen, dann hat eine der Harder-Töchter den Ältesten der Friesens geheiratet. Männer grüßen nur Männer, Frauen nur Frauen. „Guten Morgen“ murmeln sie, während sie sich die Hand drücken und sich mit verkniffenen Lippen auf den Mund küssen. Für uns beide tut es auch ein Handschlag.

Das Gemeindehaus ist kahler eingerichtet als jede afrikanische Dorfschule. Es gibt nichts als Sitzbänke. Jedes schlichte Holzkreuz wäre den Traditionalisten ein Götzendienst. „Oh Sünder, erwach von deiner Schuld“, müht sich die Gemeinde zu singen. Doch der Gesang gleicht mehr einem Jaulen und Heulen, denn sie kennen keine Noten, lehnen Instrumente ab und haben noch nie Musik in Radio oder Fernsehen gehört. Bis zu acht Strophen geben die Lieder aus dem Gesangbuch, der „Unparteiischen Liedersammlung“ her.

„Unerwartet kann sich das Tor zum Himmel schließen“, mahnt Prediger Cornelius Harder. Die Männer von Upper Barton Creek haben ihn in dieses Amt gewählt - auf Lebenszeit. Nur bei „Hurerei“ kann er abgesetzt werden. Der Prediger spricht davon, wie unnötig christliche Feste seien, warnt vor dem „Modernen“ und der Gefahr, vom rechten Weg abzuweichen. Die Predigt ist auf uns gemünzt. Dennoch wird er uns später zum Mittagessen einladen, zu Reibekuchen, Kartoffelbrei und Mangokompott.

Im Gottesdienst schneiden Mütter ihren Kindern die Zehennägel, wickeln sie, spielen mit ihnen oder stillen sie. Die Kleider sind eigens so geschnitten, daß die nackte Brust dabei nicht zu sehen ist. Nach Cornelius Harder predigen noch zwei Diakone, genauso monoton, nur diesmal auf Englisch, der Amtssprache Belizes - denn einige der Mennoniten von Upper Barton Creek sind erst vor wenigen Jahren aus dem US-Bundesstaat Kansas gekommen und sprechen kein Luther-Deutsch. Auch zwei bekehrte Indio-Familien gehören zur Gemeinde.

Das Wort Gottes ist der Lebensleitfaden der Menschen am Barton Creek, aber die Predigt lassen sie wie den Fluß an sich vorbeirauschen. Susanne hantiert mit einer neongelben Plastikrassel vor Samuels Gesicht herum. Daß zu der Herstellung eines solchen Spielzeugs Maschinen und Elektrizität notwendig sind, stört sie nicht. Für Franz hört die Gewaltlosigkeit bei den eigenen Kindern auf. Wenn er es für nötig hält, versohlt er ihnen den Hintern. „Um ihren Willen zu brechen“, wie er sagt. Um Gottes Willen durchzusetzen. Als kürzlich ein Glaubensbruder von einer giftigen Schlange gebissen wurde und mit dem Tod rang, fuhr man ihn ins Krankenhaus nach Belize City. Der Mann überlebte dank eines Gegengifts.

Drei Stunden hat die Versammlung gedauert. Erleichterung und die Vorfreude auf das Mittagessen steht den Nachfolgern Menno Simons ins Gesicht geschrieben. „Wißt ihr schon, wo ihr Mahl haltet? Habt ihr schon Quartier für die Nacht?“ Mehrere Familien laden uns ein zu bleiben. Sie respektieren unseren Wunsch zu gehen. Nicht ohne uns zuvor mit Orangen aus eigenem Anbau und mennonitischen Schriften einzudecken. Darauf gründet der Prediger die Hoffnung, daß die beiden aus „Ditschland“ doch noch auf den rechten Weg finden werden. „Vielleicht sehen wir uns im Himmel wieder“, verabschiedet er sich.

Malawi Secondary Road

Im Geisterwald von Nkhotakota

"Es war jetzt gegen drei Uhr morgens, und Francis Macomber, der eine kurze Zeit über geschlafen hatte, nachdem er aufgehört hatte, über den Löwen nachzudenken, wachte auf und schlief wieder ein und erwachte plötzlich, im Traum geängstigt von dem blutköpfigen Löwen, der über ihm stand (...)."

Ernest Hemingway, Das kurze glückliche Leben des Francis Macomber

I.

Warum nicht mit einem Mord beginnen? Besser gesagt, einem über Jahre hinweg verübten Massenmord. Die Man Eaters of Njombe waren heimtückisch, sie töteten bestialisch, nie allein, immer als Meute, ihre Opfer waren arglos und wehrlos. Fünfzehn Jahre dauerte ihr Raubzug, am Ende sollen sie bis zu 1.500 Menschen zur Strecke gebracht haben. Das war in den Jahren 1932 bis 1947. Schauplatz war der Distrikt Njombe im Süden des heutigen Tansania.

Mord, bestialisch, Meute - das ist die menschliche, die anthropozentrische Sicht auf das, was sich ereignete. Der Mensch als Mittelpunkt der Welt. Nur seine Sicht der Dinge zählt. Die, die töteten, kann man nicht befragen. Es waren Löwen.

22 Tiere waren es. Der Tragödie war ein Eingriff des Menschen in das natürliche Gleichgewicht vorausgegangen. Im damals britisch verwalteten Tanganyika, wie Tansania vor seiner Vereinigung mit Sansibar hieß, hatte die Kolonialregierung massenhaft Beutetiere der Löwen erlegt, um der Rinderpest Herr zu werden, die ganze Viehherden eingehen ließ. Die Löwen stellten sich um. Was sonst hätten sie tun sollen, als Gazellen und Antilopen rar wurden? Menschenfleisch stand fortan auf ihrem Speiseplan.

Anders als die meisten ihrer Artgenossen jagten sie nicht nachts. Der Tod kam am Nachmittag. Nachts wanderten sie fünfzehn oder zwanzig Meilen von einem Dorf im Umkreis der Kleinstadt Njombe zum nächsten. Dort legten sie ihre Blutspur. Die Hütten der Einheimischen waren primitiv, die Wände aus dünnem Lehm oder nur aus Stroh. Die Tiere brachen durch Türen und Wände in die Häuser. Oder sie lauerten ihnen draußen auf, vor den Hütten, auf dem Feld, auf den Wegen, niemand war irgendwo sicher. Wie Staffelläufer sollen sich die Löwen darin abgewechselt haben, die Menschen aus den Dörfern in den Busch zu schleifen.

Warum waren die Dörfer nicht gewarnt? Und das über fünfzehn Jahre hinweg? Den damaligen Berichten nach waren die Todesfälle unter den Dörflern ein Tabu, die Angst war sprachlos. Ein schwarzer Hexenzauber lag wie ein Todesschatten über den Dörfern. Der Aberglaube besagte, Männer hätten die Gestalt von Löwen angenommen. Spirit lions, Geisterlöwen, Löwengeister, übernatürliche Mächte in Gestalt von Löwen. Noch heute glauben die Menschen in der Region an schwarze Magie, an Untote, die in Löwengestalt an ihren Feinden Vergeltung nehmen.

Damals hieß es, der Medizinmann eines lokalen Stammes, Matamula Mangera, habe die Löwen unter seiner Kontrolle. Weil er von seinem Posten als witch doctor, als Hexendoktor, abgesetzt wurde, habe er die Geistertiere aus Rache auf seine eigenen Leute gehetzt.

Die Dörfler waren so entsetzt von den ersten Löwenattacken, daß sie nicht wagten davon zu sprechen. Sie glaubten, schon die bloße Erwähnung der man eater ließe sie an Ort und Stelle erscheinen. Sie flehten ihr Stammesoberhaupt an, dem Medizinmann seinen Posten wiederzugeben, aber der chief lehnte ab. Damaligen Berichten nach soll der Medizinmann die Dorfbewohner auch gezwungen haben, Tribut an ihn zu leisten - Geld, Vieh, Fronarbeit. Wer sich widersetze, soll er gedroht haben, werde den Löwen zum Opfer fallen.

1945 schließlich wurde der britische Wildhüter George Gilman Rushby gerufen, die Löwen zu erlegen. Rushby, ein ehemaliger Wilderer und berühmt-berüchtigter Elefantenjäger, war der stellvertretende Jagdaufseher Tanganyikas. Rushby brauchte Monate, um die Löwen aufzuspüren. Immer wieder gab es bei der Jagd Mißerfolge. Die Einheimischen leisteten ihm kaum Hilfe. Rushby redete gegen den Zauberglauben an, vergebens. Dafür fand er die Erklärung für das artfremde Verhalten der Raubkatzen: Die jungen hatten von den alten Löwen die Vorliebe für Menschenfleisch übernommen - bis in die dritte Generation.

Als das Rudel ein Kind tötete, das er liebgewonnen hatte, begann Rushby die Sache sehr persönlich zu nehmen. Kurz darauf erlegte Rushby die erste Löwin. In der Folge gelang es ihm, vierzehn weitere Löwen auszuspüren und zu erschießen. Die übrigen Tiere des Rudels verließen die Gegend. Der Häuptling hatte sich am Ende doch beknien lassen, den Hexendoktor zu rehabilitieren. Genau darin sahen die Einheimischen den Grund, weshalb der Alptraum ein Ende nahm. Rushby war nur das Werkzeug.

Nie zuvor oder danach haben Löwen mehr Menschen getötet als die „Menschenfresser von Njombe“. Der Zweite Weltkrieg und die Abgeschiedenheit des südlichen Tansania hatten die Tragödie, die ähnlich viele Menschenleben auslöschte wie der Untergang der Titanic, lange mit dem Mantel des Schweigens bedeckt.

Und heute? Weite Teile im Süden Tansanias sind heute noch so rückständig wie in den 1940er Jahren. Kaum etwas hat sich geändert. Die Menschen in den Dörfern leben noch immer in den gleichen primitiven Hütten wie ihre Großeltern, ihr Leben dreht sich um das, was auf ihren spärlichen Feldern wächst, bestenfalls haben Fahrrad und Handy Einzug gehalten.

Die Löwen sind noch da, nicht mehr in Njombe, aber in weiten anderen Teilen der Region, in Tansania, in Mosambik, in Malawi und anderswo, Gegenden, in die kaum ein Europäer einen Fuß setzt. Und so spielen sich heute noch in diesen Winkeln Afrikas Jahr für Jahr und Tag für Tag stille Dramen ab, von denen in unseren Breitengraden allenfalls eine interessierte Fachwelt hört und liest. Es ist der tödliche Konflikt zwischen Mensch und Raubtier, der bis heute ungelöst ist und auf beiden Seiten nur Opfer kennt.

Tansanias Bevölkerung erlebte von 1990 an eine Verdreifachung der Zahl von Löwenangriffen. Von 1990 bis 2005, dem Ende des untersuchten Zeitraums, wurden dort 563 Menschen von Löwen getötet, weitere 308 verletzt. Pro Jahr waren das 37 Tote. „Die Löwen ziehen Menschen nachts aus dem Bett, greifen stillende Mütter an, packen sich Kinder, die draußen spielen“, heißt es in einem Bericht des Löwenforschers Craig Packer von der University of Minnesota.

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