Kitabı oku: «30 Jahre Deutsche Einheit – eine Bilanz», sayfa 4
AUS „WIR SIND DAS VOLK!“ WIRD „WIR SIND EIN VOLK!“
Mit ihrer am 23. Oktober in Jena erstmals öffentlich skandierten Forderung sind die Demonstranten ihrer Zeit weit voraus: „Ich habe beobachtet, dass Menschen in der Demonstration mit Fahnen über den Ring gezogen sind, in denen das Emblem (Anm.: das DDR-Staatswappen mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz) nicht mehr vorhanden war“, erinnert sich Joachim Kramer, von 1981 bis 1991 katholischer Pfarrer in Jena.94 „Ich habe dort selbst die Rufe gehört – nicht ‚Wir sind das Volk!‘, ‚Wir bleiben hier!‘, sondern ‚Wir sind ein Volk!‘. Ich habe damals mit Gesprächspartnern den Kopf geschüttelt: Wissen die eigentlich, was sie da sagen? Der Zaun war noch da. Woher diese Gedanken kamen, war für mich unerklärlich, deshalb haben sie sich so stark bei mir eingeprägt.“
Am 4. November 1989 registriert das MfS in Suhl die ersten Rufe nach „Deutschland, einig Vaterland“, ein Zitat aus der Nationalhymne der DDR, die seit Oktober 1974 nur noch gesummt werden darf. Damals hatte die DDR-Führung das Streben nach der Wiedervereinigung aus der Verfassung gestrichen, fortan ist jeder Hinweis auf die deutsche Nation verpönt, Johannes R. Bechers Text unzeitgemäß. Stattdessen macht die „Bild“-Zeitung am 11. November, zwei Tage nach Öffnung der Mauer, mit der bundesdeutschen Hymne auf: „Deutschland umarmt sich, Einigkeit und Recht und Freiheit“. Zeitlebens hatte der im September 1985 verstorbene Verleger Axel Springer seine Journalisten auf das unbedingte Eintreten für die friedliche Wiederherstellung der Deutschen Einheit in Freiheit verpflichtet, nun scheint sie zum Greifen nah. „Bild“-Chefredakteur Hans-Hermann Tiedje und Herbert Kremp, langjähriger Chefkorrespondent, Chefredakteur und Herausgeber der „Welt“, sitzen in Hamburg beieinander, um die Berichterstattung über die Maueröffnung zu diskutieren: „Als auf den Montagsdemonstrationen der Ruf erklang ‚Wir sind das Volk!‘, war es für mich – bei meinen Auffassungen – selbstverständlich, dass ich sagte, das muss eigentlich heißen ‚Wir sind ein Volk‘“, sagt Kremp später und ist überzeugt: „Die Wiedervereinigung wird kommen, das war damals, also am 11. November, eigentlich noch gar nicht so ein Tenor der offiziellen Politik.“95
Vier Tage nach seiner Wahl zum Vorsitzenden des Ministerrates ergreift Hans Modrow am 17. November in der Volkskammer die Initiative und schlägt in seiner Regierungserklärung eine weitreichende deutsch-deutsche Kooperation vor: „Indem sich beide deutsche Staaten uneingeschränkt respektieren, können sie zugleich wertvolles Beispiel kooperativer Koexistenz schaffen. Wir sind dafür, die Verantwortungsgemeinschaft beider deutscher Staaten durch eine Vertragsgemeinschaft zu untersetzen, die weit über den Grundlagenvertrag und die bislang geschlossenen Verträge und Abkommen zwischen beiden Staaten hinausgeht. Dafür ist diese Regierung gesprächsbereit.“96 So vage Modrow inhaltlich bleibt, so präzise hat er seine Zielgruppe vor Augen: „Dem Volk der DDR, das einen guten Sozialismus will, wird diese Regierung verpflichtet sein. Der Wille zur Erneuerung der sozialistischen Gesellschaft und ihres Staates hat Millionen Bürger erfasst.“97
Hans Modrow (SED-PDS) ist letzter Vorsitzender des Ministerrates der DDR.
Doch das Vokabular der DDR-Führung wirkt auf das Gros der Menschen antiquiert, und auch die im Herbst 1989 für eine demokratische, sozialistische DDR demonstrierende Bürgerrechtsbewegung büßt nach den „fünf glorreichen Tagen“ zwischen dem 4. und 9. November binnen weniger Monate an Einfluss ein. Nun dominiert ein Meer von schwarz-rot-goldenen Fahnen die Montagsdemonstrationen, die Parolen „Nieder mit der SED“ und „Deutschland, Deutschland!“ werden zur alles beherrschenden Forderung, und „Wir sind ein Volk!“ löst „Wir sind das Volk!“ ab. Parallel brechen überall im Land die kommunalen Strukturen zusammen, und der Exodus nach Westen hält an: Allein am 23. November fahren 18.000 Ausreisewillige von Plauen nach Hof, die Züge kommen schon mit einer Auslastung von 250 Prozent in Plauen an, Autokolonnen stauen sich 50 Kilometer weit in die DDR zurück.
Regisseur Konrad Weiß vertritt Bündnis 90 in der Volkskammer.
DER AUFRUF „FÜR UNSER LAND“
„Nachdenken über deutsche Einheit. Eine Stimme aus dem anderen deutschen Staat“ ist der Beitrag des DDR-Filmemachers Konrad Weiß überschrieben, den die Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“ am 30. Juni 1989 publiziert:98 „Ich kann und mag mich nicht damit abfinden, dass es Deutschland für alle Zeit doppelt geben muss. Der gegenwärtige Zustand ist weniger ein Ergebnis des Zweiten Weltkrieges als vielmehr ein Produkt des Kalten Krieges. Die deutsche Einheit ist Ideologien und Machtinteressen geopfert worden, hier wie dort. Ich will, dass meine Enkelkinder einmal in einem Deutschland ohne Mauer leben. Ich bin kein Politiker, also darf und will ich öffentlich träumen und von meiner Vision sprechen. Die beiden deutschen Staaten müssen sich, um der Einheit willen, grundlegend ändern. Sie müssen sich aufeinander zu reformieren. Ein einheitliches Deutschland kann und soll weder eine um ein Viertel vermehrte Bundesrepublik noch eine um drei Viertel gewachsene DDR sein. Die linken und alternativen Kräfte in der Bundesrepublik dürfen das nationale Feld nicht den Konservativen allein oder gar den rechten Nationalisten überlassen. Ein Umdenken in der nationalen Frage und das Bedenken neuer sozialer und demokratischer Modelle für Deutschland gehört auf die Tagesordnung der Linken hier wie in der DDR.“
Am 12. September 1989 gehört Konrad Weiß zu den zwölf Erstunterzeichnern des Gründungsaufrufs der Bürgerbewegung „Demokratie Jetzt“. Wie Weiß, so kommen auch der Physiker und Synodale Hans-Jürgen Fischbeck, die Mitgründerin des Netzwerkes „Frauen für den Frieden“ Ulrike Poppe und der Kirchenhistoriker Wolfgang Ullmann aus dem Milieu der Evangelischen Kirche. Neben einer Vielzahl von „Thesen für eine demokratische Umgestaltung in der DDR“ formuliert „Demokratie Jetzt“ die Einheit Deutschlands bereits als politisches Ziel: „Wir laden die Deutschen in der Bundesrepublik ein, auf eine Umgestaltung ihrer Gesellschaft hinzuwirken, die eine neue Einheit des deutschen Volkes in der Hausgemeinschaft der europäischen Völker ermöglichen könnte. Beide deutsche Staaten sollten sich um der Einheit Willen aufeinander zu reformieren.“99
Dieses frühe Bekenntnis zur Deutschen Einheit hindert Konrad Weiß nicht, am 26. November 1989, gut zwei Wochen nach Öffnung der Berliner Mauer, gemeinsam mit 29 Persönlichkeiten den Aufruf „Für unser Land“ zu unterzeichnen. Der Dresdner Oberbürgermeister Wolfgang Berghofer zählt zu ihnen, Rocksängerin Tamara Danz („Silly“), Schriftsteller Stefan Heym, Physiker Sebastian Pflugbeil, „Demokratie Jetzt“-Mitgründerin Ulrike Poppe, Pfarrer Friedrich Schorlemmer und Schriftstellerin Christa Wolf. „Unser Land steckt in einer tiefen Krise. Wie wir bisher gelebt haben, können und wollen wir nicht mehr leben. Die Führung einer Partei hatte sich die Herrschaft über das Volk und seine Vertretungen angemaßt, vom Stalinismus geprägte Strukturen hatten alle Lebensbereiche durchdrungen. Gewaltfrei, durch Massendemonstrationen hat das Volk den Prozess der revolutionären Erneuerung erzwungen, der sich in atemberaubender Geschwindigkeit vollzieht. Uns bleibt nur wenig Zeit, auf die verschiedenen Möglichkeiten Einfluss zu nehmen, die sich als Auswege aus der Krise anbieten.
Entweder können wir auf der Eigenständigkeit der DDR bestehen und versuchen, mit allen unseren Kräften und in Zusammenarbeit mit denjenigen Staaten und Interessengruppen, die dazu bereit sind, in unserem Land eine solidarische Gesellschaft zu entwickeln, in der Frieden und soziale Gerechtigkeit, Freiheit des Einzelnen, Freizügigkeit aller und die Bewahrung der Umwelt gewährleistet sind.
Oder wir müssen dulden, dass, veranlasst durch starke ökonomische Zwänge und durch unzumutbare Bedingungen, an die einflussreiche Kreise aus Wirtschaft und Politik in der Bundesrepublik ihre Hilfe für die DDR knüpfen, ein Ausverkauf unserer materiellen und moralischen Werte beginnt und über kurz oder lang die Deutsche Demokratische Republik durch die Bundesrepublik vereinnahmt wird.
Lasst uns den ersten Weg gehen. Noch haben wir die Chance, in gleichberechtigter Nachbarschaft zu allen Staaten Europas eine sozialistische Alternative zur Bundesrepublik zu entwickeln. Noch können wir uns besinnen auf die antifaschistischen und humanistischen Ideale, von denen wir einst ausgegangen sind. Alle Bürgerinnen und Bürger, die unsere Hoffnung und unsere Sorge teilen, rufen wir auf, sich diesem Appell durch ihre Unterschrift anzuschließen.“100
Schriftstellerin Christa Wolf legt letzte Hand an den Aufruf „Für unser Land“.
Die Schlussredaktion des Aufrufs erfolgt in der Wohnung von Christa Wolf; von ihr stammt die Gegenüberstellung von Entweder und Oder. Zwei Tage später stellt Stefan Heym den Aufruf im Internationalen Pressezentrum in Ost-Berlin in- und ausländischen Journalisten vor. Bis zum 19. Januar 1990, dem offiziellen Ende der Unterschriftenaktion, unterzeichnen knapp 1,2 Millionen Bürger, darunter – zum Verdruss der Initiatoren – Egon Krenz, Erich Honeckers Nachfolger als Generalsekretär der SED und Vorsitzender des Staatsrats. „Der Aufruf ‚Für unser Land‘, den Persönlichkeiten in der DDR am 28. November 1989 der Öffentlichkeit übergeben haben, wird vom Vorsitzenden der CDU, Lothar de Maizière, begrüßt“, heißt es am 1. Dezember 1989 im Zentralorgan der DDR-CDU „Neue Zeit“.101 „Er würdigt es als ein Hoffnungszeichen, dass Menschen, die unterschiedliche politische Standpunkte vertreten, mit einer Stimme sprechen, wenn es um die Existenz unseres Staates und um die demokratische Erneuerung unserer Gesellschaft geht.“
Für illusionär halten dagegen die Mitarbeiter des Forschungsinstitutes Manfred von Ardenne, weiterer Dresdner Betriebe sowie Mitglieder der Staatskapelle Dresden und Solisten der Dresdner Staatsoper den Aufruf: „Es genügt nicht, wenn wir uns den Kopf über gerechtes Verteilen zerbrechen“, schreiben sie in einem Gegenaufruf.102 „Es muss zuerst effektiv und genügend produziert werden. Wir haben genug von den Utopien! Alle Versuche, die zentrale Planwirtschaft zu reparieren, sind gescheitert. Das sozialistische Wirtschaftssystem mit zentralisierter Planung ist der sozialen Marktwirtschaft Westeuropas unterlegen. Wir sind gegen weitere Experimente. Die Vereinigung der beiden deutschen Staaten ist nicht für alle Zeiten ausgeschlossen. Unsere Blicke richten sich jedoch mehr nach Straßburg als nach Bonn. Unsere Zukunft liegt in einer engen Bindung an die EG. Von der Regierung fordern wir ein Programm zur Einführung marktwirtschaftlicher Prinzipien.“
KOHLS ZEHN-PUNKTE-PROGRAMM
Am selben Tage, an dem Stefan Heym im Internationalen Pressezentrum in Ost-Berlin für die fortbestehende Eigenständigkeit der DDR wirbt, und anderthalb Wochen nach Hans Modrows Volkskammerrede sorgt Bundeskanzler Helmut Kohl mit seinem „Zehn-Punkte-Programm zur Überwindung der Teilung Deutschlands und Europa“ für einen Paukenschlag: „Meine Damen und Herren, es eröffnen sich Chancen für die Überwindung der Teilung Europas und damit auch unseres Vaterlandes“, leitet er am 28. November im Bundestag seine „Kanzlererklärung“ ein.103 „Die bisherige Politik gegenüber der DDR musste sich angesichts der Verhältnisse im Wesentlichen auf kleine Schritte beschränken, mit denen wir vor allem versuchten, die Folgen der Teilung für die Menschen zu mildern und das Bewusstsein für die Einheit der Nation wachzuhalten und zu schärfen. Wenn uns künftig eine frei gewählte Regierung als Partner gegenübersteht, eröffnen sich völlig neue Perspektiven. Stufenweise können neue Formen institutioneller Zusammenarbeit entstehen und ausgeweitet werden. Wie ein wiedervereinigtes Deutschland schließlich aussehen wird, das weiß heute niemand. Dass aber die Einheit kommen wird, wenn die Menschen in Deutschland sie wollen, dessen bin ich sicher.“
Eine „Regierungserklärung“ ist es nicht, denn seinen liberalen Koalitionspartner Hans-Dietrich Genscher hat Kohl weder konsultiert noch informiert. Mehr noch: Sein Konzept kennt zu diesem Zeitpunkt nur eine Handvoll enger Mitarbeiter; den unter Leitung von Horst Teltschik verfassten Entwurf hatte Kohl zu Hause in Oggersheim redigiert und seine Ehefrau Hannelore auf ihrer Reiseschreibmaschine abgetippt. Lediglich US-Präsident George Bush bezieht Kohl in seine Überlegungen ein, in einem Telefonat versichert er sich dessen prinzipieller Unterstützung: „Bush verstand sehr genau, dass der Westen die Deutschen tief enttäuschen, ja verstören würde, wenn er sich ihre berechtigte Forderung nach Selbstbestimmung nicht zu eigen machte. Schließlich hatten die westlichen Verbündeten der Bundesrepublik genau diese Unterstützung seit Abschluss des Deutschlandvertrages im Jahr 1952 immer wieder für den Tag X zugesichert. Nun war der Augenblick gekommen.“104
Horst Teltschik (rechts) zählt zum engsten Beraterkreis um Helmut Kohl.
In seinen bisherigen deutschlandpolitischen Reden hatte Kohl stets von der „Einheit der Nation“, von der „gemeinsamen Freiheit aller Deutschen“ und vom „Selbstbestimmungsrecht aller Deutschen“ gesprochen, nun verwendet er bewusst die Worte „wiedervereinigt“ und „Wiedervereinigung“. „Was aus heutiger Sicht ein unbeachtliches Detail zu sein scheint, war damals – psychologisch gesehen – ein großer Sprung nach vorn“, meint Michael Mertes, als Chefredenschreiber des Kanzlers einer der Autoren des „Zehn-Punkte-Programms“.105 „Diese Begriffe brachten sein deutschlandpolitisches Fernziel hinreichend klar zum Ausdruck. Zugleich ließen sie der Phantasie genügend Spielraum, sich verschiedene Varianten deutscher Einheit in Freiheit vorzustellen – bis hinunter zum Minimum einer sogenannten ‚Österreich-Lösung‘ (Anm: Auferlegung strikter Neutralität) für die DDR. Ausgerechnet jetzt nahm Kohl die in den 1950er- und 1960er-Jahren gängige, seit der sozialliberalen Ostpolitik zunehmend verpönte Vokabel ‚Wiedervereinigung‘ in den Mund. Damit unterstrich er auf unzweideutige Weise, dass er das deutschlandpolitische Maximum, die staatliche Einheit Deutschlands, anvisierte.“
„ZWEIMAL HABEN WIR DIE DEUTSCHEN GESCHLAGEN! JETZT SIND SIE WIEDER DA!“
Zwölf westliche Verbündete sitzen dem Bundeskanzler bei der Tagung des Europäischen Rates am 8./9. Dezember in Straßburg gegenüber: „In den vielen Jahren meiner Mitarbeit in europäischen Gremien, insbesondere in der Europäischen Gemeinschaft und der Nato, gab es keine Sitzung, die in einer so angespannten und unfreundlichen Atmosphäre stattfand“, resümiert Kohl später.106 „Natürlich war ich mir stets bewusst, dass die Deutschen bei den meisten Europäern nicht sonderlich beliebt waren. Dennoch war ich erstaunt über die fast tribunalartige Befragung, die mich in Straßburg erwartete.“107 Angesichts des Alleingangs des Kanzlers mit seinem am 28. November im Bundestag verkündeten Zehn-Punkte-Programm ist der damalige britische Botschafter in Bonn, Sir Christopher Mallaby, keineswegs erstaunt: „Washington erhielt wenige Stunden im Voraus die deutsche Fassung, aber ohne Übersetzung und ohne Angebot, die Punkte durchzusprechen. Wir Briten und die französische Regierung aber bekamen nicht einmal eine Vorwarnung.“108 Rückendeckung bekommt Kohl lediglich von den Regierungschefs Spaniens und Irlands, Felipe González und Charles Haughey, sie unterstützen vorbehaltslos den deutschen Wunsch nach einer Wiedervereinigung.
Umso massiver ist der Widerstand der britischen Premierministerin. Ihr Deutschlandbild habe sich im Wesentlichen bis 1942 gebildet und seitdem wenig geändert, betont die Eiserne Lady im Gespräch mit Bundespräsident Richard von Weizsäcker freimütig. Sie ist „entsetzt“, als sie im Fernsehen sieht, wie sich der Bundestag nach der Maueröffnung erhebt, um – wie sie annimmt – „Deutschland über alles“ zu singen. Außenminister Douglas Hurd ist irritiert: „Ist der Text nicht verändert worden? Ich sollte das lieber wissen.“ Man legt ihm Haydns Partitur mit dem Text von Hoffmann von Fallersleben und dem Hinweis vor, die erste Strophe sei 1952 durch die dritte ersetzt worden. Thatcher sei geradezu „besessen“ von der Gefahr eines wiedererstarkten Deutschlands, notiert Frankreichs Botschafter in London Luc de La Barre de Nanteuil nach einem Abendessen mit der Premierministerin.109 „Kohl ist zu allem fähig, er ist ein anderer Mensch geworden, er kennt sich selbst nicht mehr, er hält sich für den Größten und führt sich auch schon so auf“, zitiert der Diplomat die Eiserne Lady in einem Telegramm.110 Ein Satz Thatchers bleibt Kohl dauerhaft im Ohr: „Nie werde ich ihre zornige Feststellung vergessen: ‚Zweimal haben wir die Deutschen geschlagen! Jetzt sind sie wieder da!‘ Damit drückte sie genau das aus, was die Allermeisten dachten.“111
Legendär ist das von Thatcher für den 24. März 1990 anberaumte „Chequers-Seminar“, zu dem sie namhafte Historiker, unter ihnen den 1926 im damals preußischen Breslau geborenen, 1938 vor den Nazis in die Vereinigten Staaten geflohenen Fritz Stern, nach Chequers, dem offiziellen Landsitz der britischen Premierminister, nordwestlich von London einlädt. Vor dem Treffen haben die Teilnehmer einen vertraulichen Fragenkatalog erhalten, der als Grundlage ihrer Diskussion dienen soll: „Die Liste enthielt unter anderem die Frage, was uns die Geschichte über den Charakter und das Verhalten Deutschlands sage, ob Deutschland bestimmte dauerhafte nationale Charakteristika habe und ob sich die Deutschen in den letzten 40 Jahren geändert hätten“, blickt der amerikanische Deutschland-Experte Gordon A. Craig im Jahr darauf zurück.112 „Würde ein vereinigtes Deutschland seine politische Macht und sein Territorium zu erweitern suchen? Wenn ja, wäre es dann möglich, jene Macht einzudämmen? Ist ein vereinigtes Deutschland Anlass zu Besorgnis? Gibt es einen internationalen Rahmen, in den ein vereinigtes Deutschland eingefügt werden kann? Welche Wirkung dürfte die Vereinigung auf die deutschen Minderheiten in Osteuropa haben, auch im Hinblick auf das Anwachsen nationaler Emotionen in dieser Region?“
Das von Thatchers außenpolitischem Privatsekretär Charles Powell verfasste Memorandum des fünfstündigen Treffens ist vertraulich. Durch eine Indiskretion gelangt es an die Zeitung „The Independent on Sunday“, die es im Wortlaut druckt und damit die „Chequers-Affäre“ auslöst. Denn das auf Chequers gezeichnete Deutschlandbild fällt wenig schmeichelhaft aus: „Im März haben Margaret Thatcher und eine Gruppe von Beratern bei einem vertraulichen Treffen in Chequers die Fehler des deutschen Nationalcharakters festgestellt“, schreibt der Historiker und Publizist Neal Ascherson unter der Schlagzeile „Be nice to German bullies, PM told“ („Seien Sie nett zu den deutschen Rüpeln, wurde der Premierministerin empfohlen“).113 „Dazu gehörten Angst, Aggressivität, Angeberei, Eigendünkel, Minderwertigkeitskomplexe, Sentimentalität. Eine Downing-Street-Aufzeichnung von diesem Treffen ist in unseren Besitz gelangt, und wir drucken sie in vollem Wortlaut. Charles Powell, dem Privatsekretär der Premierministerin zugeschrieben, ist sie ein freimütiges und überraschendes Dokument. Wenige Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft dürften je über einen ihrer Partner in solchen Begriffen gesprochen haben.“114 Am Tage darauf publiziert „Der Spiegel“ den Beitrag in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Komplott gegen Europa“.115
Anders als Margaret Thatcher unterstützt George H. W. Bush vorbehaltlos den Wunsch der Deutschen nach Wiedervereinigung.
Was Presse und Öffentlichkeit nicht erfahren: „Es war versäumt worden, die Aufzeichnung über die Diskussionen den Teilnehmern zur Billigung vorzulegen“, moniert Craig.116 „Wäre das geschehen, hätte das Eindringen der Ansichten des Verfassers der Aufzeichnung, des Privatsekretärs C. D. Powell, korrigiert und ein Großteil der anschließenden Missverständnisse vermieden werden können. C. D. Powells Einwirkung war am stärksten in den ersten Passagen des Memorandums, vor allem in dem unglücklichen Satz, mit dem Neal Ascherson seine Story in ‚The Independent‘ einleitete. Der größere Teil der Tagespresse stürzte sich freudig auf Powells Satz, machte diesen zum Kern der Kommentare und verbreitete damit den Eindruck, die Premierministerin habe ein Treffen zur Bestätigung ihrer Vorurteile einberufen, und Gastgeber wie Gäste hätten einhellig die Deutschen verurteilt, nicht für etwas, das sie getan haben, gerade tun oder in Zukunft tun könnten, sondern für das, was sie sind.“
Fritz Stern, den Thatcher so gern als Kronzeugen gegen ein geeintes Deutschland hatte instrumentalisieren wollen, plädiert ganz im Gegenteil für eine „zweite Chance“: Vor einem in die westliche Wertegemeinschaft eingebundenen Deutschland brauche keiner Angst zu haben. Auch Außenminister Douglas Hurd und dessen Foreign Office widersprechen der Eisernen Lady heftig im Bemühen, nicht „die ewigen Bremser“ zu sein: Wir erschweren das Problem beträchtlich, wenn wir es mit einer antagonistischen Einstellung angehen“, warnt Nigel Broomfield, britischer Botschafter in Ost-Berlin.117 Im Übrigen würde eine anhaltende Feindseligkeit der britischen Regierung eben jenen deutschen Nationalismus befeuern, den London doch zu verhindern suche, und dem „sprunghaften Oskar Lafontaine Anti-Nato-Material“ für dessen Wahlkampf liefern.118 Die britische Bevölkerung denkt in dieser Frage überaus deutschfreundlich: Meinungsumfragen ermitteln eine deutliche Mehrheit für die Wiedervereinigung. Letztlich setzt sich diese positive Einstellung auch in der britischen Außenpolitik durch, in den Zwei-plus-Vier-Gesprächen spielt Großbritannien schließlich eine hilfreiche Rolle.