Kitabı oku: «Meine europäische Familie», sayfa 6
DER ERSTE HUND
EINIGE MEINER VERWANDTEN BLIEBEN IN SPANIEN und Südwestfrankreich. Andere aus der mütterlichen Abstammungslinie zogen weiter nach Süden, über Gibraltar nach Afrika: an die Küsten, in die Berge der Kabylei und bis in den Senegal. Dort trifft man noch heute auf ihre Nachkommen. Das wissen wir dank des Vorkommens von Mitochondrien der Haplogruppe U5b1 in diesen Gegenden. Sie sind zwar selten, aber es gibt sie.
Wieder andere wanderten stattdessen nordwärts, nachdem die strengste Kälte vorbei war. Sie folgten den Rentieren, die ihre wichtigste Jagdbeute waren.
Einige zogen entlang des Flusses, den wir heute Rhein nennen, geradewegs nach Norden.
Vor ungefähr 14 700 Jahren wurde das Klima in Nordeuropa deutlich milder. Bäume wie Birken, Weiden und Espen eroberten die Steppe. In Laubwäldern dieser Art fühlen sich Rentiere nicht wohl, denn dort gibt es für sie im Winter nichts zu fressen. Meine Verwandten im Rheintal waren daher gezwungen, sie rasch durch andere Beutetiere wie Elche, Hirsche und Biber zu ersetzen, was für sie eine große Umstellung bedeutete.
Zwei meiner Verwandten starben in Höhe der heutigen Stadt Bonn: ein fünfzigjähriger Mann und eine Frau um die Zwanzig. Ihre Begleiter hoben ein Grab aus, betteten sie dicht nebeneinander hinein und bestreuten sie reichlich mit rotem Farbpulver. Als Grabbeigaben schenkten sie den Toten eine feine Haarnadel aus Knochen, ein verziertes Stück Hirschgeweih und einen rot angemalten Hirschzahn.
Außerdem wurde ihnen ein Hund auf den Weg in das Totenreich mitgegeben. Das war sicherlich ein großes Opfer, das größte, das man bringen konnte.
Die Grabfunde mit Namen Bonn-Oberkassel sind um die 14 500 Jahre alt und stammen somit aus einer Zeit direkt nach dem Ende der Eiszeitkultur des Magdalénien. Analysen der mitochondrialen DNA der beiden Personen ergaben, dass sie in mütterlicher Linie der Gruppe U5b1 angehörten.
Das ist die Gruppe, zu der auch ich gehöre. Wir hatten also vor mehreren Jahrtausenden eine gemeinsame Vorfahrin. Sie waren Kinder und Enkel von „Ursula“, genau wie ich.
Das Interessanteste an Bonn-Oberkassel ist allerdings nicht die Tatsache, dass entfernte Verwandte von mir dort begraben wurden. Der wichtigste Fund ist der Hundeschädel.
Es ist der älteste Fund eines Hundes, über den bei allen Forschern Einigkeit herrscht. Der Schädel erfüllt alle Anforderungen an einen frühen Hund. Das Aussehen stimmt, die Zeit stimmt, der Ort stimmt und die DNA des Hundes stimmt ebenfalls.
Die Frage, wann der Wolf zum Hund wurde, war viele Jahrzehnte lang Gegenstand hitziger Debatten. Es geht dabei auch um viel Prestige. Der Hund war unser erstes Haustier und wird bis heute der „beste Freund des Menschen“ genannt.
Anfangs versuchten Archäologen Hund und Wolf nur nach dem Aussehen ihrer fossilen Knochen zu unterscheiden. Dabei gingen sie in erster Linie davon aus, dass Hunde, die viele Generationen lang in der Obhut des Menschen gelebt hatten, kleiner und zierlicher geworden sein und anders aussehen müssten als Wölfe.
Auf Grundlage dieser Definition lassen sich viele Hunde-Kandidaten ausmachen, deren älteste ungefähr 30.000 Jahre alt sind. Fossile Funde gibt es aus Russland, der Ukraine, Tschechien, der Schweiz und Belgien. Einige der angeblichen frühen Hunde stammen von dem Grabungsplatz Dolní Veˇstonice in Tschechien, wie ich im Kapitel „Die Mammuts in Brünn“ erwähnt habe.
Während der letzten zwanzig Jahre haben sich Genforscher in die Debatte eingeschaltet und sich dabei auf mehr oder weniger umfassende DNA-Analysen und mehr oder weniger ausgereifte Berechnungsmethoden gestützt. Ihre Resultate wiesen in verschiedene Richtungen. Sie sind sich bis heute nicht einig, um es vorsichtig auszudrücken. Den gegenwärtigen Kenntnisstand könnte man folgendermaßen zusammenfassen:
Die Vorgänger der heutigen Hunde scheinen vor mindestens 15.000 Jahren gezähmt worden zu sein, vielleicht sogar schon viel früher. Wahrscheinlich wurde der erste Hund irgendwo in Europa oder Sibirien geboren, doch auch China kann als Geburtsort nicht ausgeschlossen werden.
Natürlich ist es möglich, dass Menschen bereits früher versucht haben, Wölfe zu zähmen. Im Altaigebirge in Sibirien und der Goyet-Höhle in Belgien wurden 30.000 Jahre alte Fossilien gefunden, die hundeähnlich aussehen und durchaus Belege für derartige Zähmungsversuche sein könnten. Dennoch scheint es sich hier nicht um den Ursprung der heutigen Hunde zu handeln, sondern eher um genetische Sackgassen.
Alle heute lebenden Hunde, auch Basenjis in Afrika, verwilderte Dingos in Australien, blauäugige sibirische Huskies, wohlfrisierte Zwergpudel und verspielte Labradore, scheinen auf eine kleine Gruppe von Wölfen in Europa oder Asien zurückzugehen. Diese Wölfe sind wahrscheinlich schon vor langer Zeit ausgestorben, was die Ermittlung des Verwandtschaftsgrades erschwert. In Vergleichen von Zehntausende Jahre alter DNA fossiler Wölfe mit fossilen und heute lebenden Hunden tritt das Muster deutlicher hervor.
Dass zahme Hunde sich gelegentlich mit Wölfen gepaart haben, stellt für die Forscher ein Problem dar. Das wird zum Beispiel in der DNA von Jagdhunden in Skandinavien und halbwilden Hunden in China sichtbar. Solche Kreuzungen machen das Bild unscharf.
Doch das Grundmuster bleibt: Als wir aus Afrika auswanderten, wurden wir nicht von Hunden begleitet. Wölfen begegneten wir erst in Europa und Asien. Irgendwann während der Eiszeit zähmten wir sie, als wir noch als Jäger und Sammler lebten und noch bevor einige von uns über Beringia nach Amerika zogen.
Die Frage ist nur, warum. Welchen Nutzen hatte der Hund für uns?
Im Laufe der Jahre habe ich annähernd ein Dutzend der führenden Hundeforscher der Welt interviewt – und dabei fast genauso viele verschiedene Erklärungen dafür erhalten, warum Hund und Mensch begannen, zusammenzuleben.
Viele Wissenschaftler sind der Ansicht, dass es gar nicht der Mensch war, der den Hund zähmte, jedenfalls nicht zu Anfang. Der Hund zähmte stattdessen uns.
Wölfe wurden von den Eiszeitmenschen wegen ihres Pelzes gejagt und müssen sie als Bedrohung wahrgenommen haben. Sie profitierten aber auch von den Menschen, da die große Mengen an Futter zurückließen: Reste von Jagdbeute, die sie nicht selbst verwerten konnten. Diese Reste deponierten sie am Rande ihrer Lager, weil sie schlecht rochen und Raubtiere anzogen.
Nachts, wenn die Menschen sich um die Feuer versammelten oder schliefen, schlichen die Wölfe zu den Essensresten. Ab und zu, vor allem in der Dämmerung, konnte es geschehen, dass Mensch und Wolf einander begegneten. Das endete häufig mit dem Tod des Wolfs. Doch manchmal war der Wolf ganz einfach zu niedlich. Vielleicht war es ein kleiner Welpe, ein übermütiges und zutrauliches Jungtier, das kein Mensch, der ein Herz hatte, töten konnte. Dann durfte das Wolfsjunge mit am Feuer sitzen. Und mit den Kindern spielen. Jeder, der schon einmal ein kleines Kind und einen Welpen miteinander hat spielen sehen, versteht, was ich meine.
Die Jahrtausende vergingen und diejenigen Wölfe, denen es gelang, ihre Aggressivität zu beherrschen und die Zuneigung der Menschen zu gewinnen, hatten eine Nische gefunden, die ihnen das Überlebten ermöglichte. In der Biologie heißt das Selektion: Eigenschaften, die der Mensch schätzte, hatten größere Chancen, an die nächste Generation weitergegeben zu werden.
Mehrere Forscher haben untersucht, in welchen Genen sich Hunde und Wölfe voneinander unterscheiden. Die meisten dieser Unterschiede betreffen das Gehirn. Der amerikanische Hundeforscher Robert Wayle hat zum Beispiel eine besondere Genveränderung entdeckt, die bei allen Hunden aufzutreten scheint, jedoch nicht bei Wölfen. Eine ähnliche Veränderung kommt bei Menschen vor, die an dem angeborenen William-Beuren-Syndrom leiden und darum leicht geistig behindert sind. Am charakteristischsten für Menschen mit William-Beuren-Syndrom ist jedoch ihr freundliches, extrovertiertes und zutrauliches Wesen.
Hunde und Wölfe unterscheiden sich vor allem darin, dass Hunde im Allgemeinen kindlicher wirken, sowohl äußerlich als auch in ihrem Wesen. Sie ähneln Wolfsjungen mehr als erwachsenen Wölfen: Sie sind eher verspielt und ausgelassen als ernst und wild. Oft besitzen Hunde außerdem eine stumpfere Nase und kürzere Beine als erwachsene Wölfe, genau wie Wolfsjunge.
Sie haben darüber hinaus die außergewöhnliche Fähigkeit, die Gedanken der Menschen zu lesen. Viele Experimente haben gezeigt, dass Hunde verstehen können, was wir von ihnen möchten. Sie können unseren Blicken folgen und dahin schauen, wohin wir zeigen. Andere Tiere, wie Schimpansen, Wölfe und Katzen, sind in vieler Hinsicht genauso intelligent, doch in der Interpretation menschlichen Verhaltens sind sie Hunden hoffnungslos unterlegen.
In den bitterkalten Nächten der Eiszeit könnten Menschen ihre ersten Hunde als Wärmedecken benutzt haben. Der Archäologe Lars Larsson erzählt mir, dass die australischen Aborigines noch heute von „Einhundnächten“, „Zweihundenächten“ und „Dreihundenächten“ sprechen, deren kälteste die „Dreihundenacht“ ist.
Andere Wissenschaftler vermuten, dass der Mensch zuerst die Funktion der Wölfe als Wachhunde entdeckte. Sie lagen am Rande des Lagers und schlugen sich die Bäuche mit Fleischresten voll. Allmählich gingen sie dazu über, auch dort zu übernachten. Wölfe und Hunde haben einen viel leichteren Schlaf als Menschen. Wenn ein anderes, gefährlicheres Raubtier, zum Beispiel ein Löwe, sich näherte, heulten sie lauthals, worauf die Menschen erwachten und sich verteidigen konnten.
Den Menschen bei der Jagd zu helfen, gehörte sicherlich auch schon früh zu den Aufgaben der Hunde. Im Rudel zu jagen ist ein Teil des ererbten wölfischen Verhaltensrepertoires. Viel ist schon darüber geschrieben worden, dass Hunde die Jagd der Menschen effektiver gemacht haben, nicht zuletzt bei eiszeitlichen Jagden auf die ganz großen Tiere wie Mammuts und Wollnashörner. Einigen Theorien zufolge war das Großwild in Europa, Asien und Amerika in dem Moment dem Untergang geweiht, als Mensch und Hund begannen, bei der Jagd zusammenzuarbeiten. Doch herrscht diesbezüglich Uneinigkeit. Neue Erkenntnisse deuten darauf hin, dass Hunde und Menschen unschuldig sind und dass sowohl die Mammuts als auch die Nashörner ausstarben, weil das Klima sich erwärmte und die Pflanzenwelt sich veränderte.
Der Archäologe, der sich in letzter Zeit am intensivsten mit den fossilen Hunden in Bonn-Oberkassel beschäftigt hat, heißt Martin Street. Er spricht sich dafür aus, dass die in Schweden sogenannte „Jagd mit stellendem Hund“ eine der ersten wichtigen Aufgaben der Hunde war. Diese Form der Jagd wird auch heute noch vielerorts ausgeübt, nicht zuletzt in den schwedischen Wäldern. Der Hund läuft dabei auf der Suche nach dem Wild selbstständig durch den Wald, während der Jäger nach Möglichkeit in der Nähe bleibt. Hat der Hund das Wild aufgespürt, verbellt er es, sodass das Tier stehen bleibt und sich ganz auf den lästigen Hund konzentriert. Der Hund hat das Wild „gestellt“. Währenddessen kann der Jäger sich anschleichen und das Tier mit seiner Waffe töten.
Diese Jagdtechnik erlangte Bedeutung, als Wälder in der Tundra heranwuchsen und die Sicht behinderten. Vorher war es einfacher gewesen, sich auf einen erhöhten Punkt zu stellen und nach Beutetieren Ausschau zu halten.
In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass der erste sicher belegte Hund in Bonn-Oberkassel vor 14 500 Jahren lebte, also genau zu dem Zeitpunkt, als die eiszeitliche Tundra sich bewaldete. Meiner Meinung nach kann das kein reiner Zufall gewesen sein.
Falls wir bereits vorher Hunde gehalten haben sollten, schon während der kältesten Perioden der Eiszeit, dann vermutlich, um mit ihrer Hilfe Dinge zu transportieren. Hunde könnten als Saumtiere Verwendung gefunden haben, um Gepäck zu tragen, oder als Schlittenhunde oder Zughunde für Skiläufer. Sie könnten dazu beigetragen haben, dass wir uns über größere Distanzen fortbewegen und entsprechende Netzwerke unterhalten konnten. Zwar sind keine derart alten Tragegestelle, Schlitten oder Skier gefunden worden, doch wären diese ja aus Holz oder einem anderen organischen Material gefertigt gewesen, das wohl kaum einen Zeitraum von mehreren Zehntausend Jahren überdauert hätte.
Denkbar ist auch, dass es die erste Aufgabe des Hundes war, selbst als Nahrung für den Menschen zu dienen. Zahme Hunde wären dann in harten Zeiten eine sichere Fleischquelle gewesen. Der Forscher, der mir diese Möglichkeit nannte, heißt Peter Savolainen. Er gehört zu den Verfechtern der These, dass die Wiege der Hunde in China stand.
Savolainen arbeitet an der Königlich Technischen Hochschule in Stockholm und war einer der Ersten, die einen groß angelegten Vergleich der mitochondrialen DNA von Hunden unternahmen. Schon 1997 berichtete ich in Dagens Nyheter über diese Studie. Er und seine Mitarbeiter reisten zu Hundeausstellungen und sammelten Haare mehrerer Hundert Hunde, die sie mit denen von Wölfen aus vielen Teilen der Welt verglichen. Die Idee dahinter war, dass Kriminaltechniker die DNA-Profile benutzen könnten, um Aussagen darüber zu treffen, welche Hunderassen ihre DNA an einem Tatort hinterlassen hatten. Doch schon bald ging den Wissenschaftlern auf, dass ihre Arbeit auch dazu beitragen könnte, den Ursprung des Hundes einzukreisen.
Ihre Ergebnisse deuteten darauf hin, dass der Wolf zuerst in Südostasien zum Hund wurde, in einer Gegend, wo die Menschen übrigens heute noch Hundefleisch essen.
Ich bin in Hanoi, Vietnam, gewesen, das in der betreffenden Region liegt, und habe dort eine Straße besucht, in der sich zahlreiche Restaurants aneinanderreihen, die sich auf Hundefleisch spezialisiert haben. Einige Vietnamesen machen sich einen Spaß daraus, Europäer hier hinzuführen und über diese Essgewohnheit zu scherzen, weil sie sich durchaus der Tatsache bewusst sind, dass dies ein absolutes Tabu in unserer Kultur berührt. Der vietnamesische Journalist, der mich in Hanoi begleitete, erzählte, dass er und seine Bekannten genau wie Europäer Familienhunde hielten, zu denen sie eine starke gefühlsmäßige Bindung entwickelten, dass sie aber auch Hundefleisch äßen. Das sind schlicht zwei verschiedene Blickwinkel. Ähnliches zeigen auch die Ausgrabungen aus dem steinzeitlichen Europa. Einige Hunde sind offenbar geschätzte Familienmitglieder gewesen, die mit wertvollen Gaben geehrt wurden. Andere Hundefossilien weisen Kratzspuren von Werkzeug auf – die durchaus ein Hinweis darauf sein könnten, dass Menschen ihr Fleisch gegessen haben. Beide Arten von Funden traf man auch am Hornborgasee in Schweden an, der älteste ist 10.000 Jahre alt.
Peter Savolainens frühe Schlussfolgerung, dass die Wiege des Hundes in Südostasien stand, ist heute stark umstritten, nicht zuletzt seit andere Forscher DNA von sehr alten fossilen Hunden und Wölfen untersucht haben. Mittlerweile führen mindestens genauso deutliche Spuren nach Europa.
Zwar könnte Savolainen durchaus recht haben mit der Annahme, die erste Aufgabe des Hundes sei es gewesen, als Nahrungsreserve für den Menschen zu dienen. Doch könnte der Hund ebenso gut Gesellschafter und Spielkamerad, Wärmedecke, Transportmittel, Wachhund oder Jagdhund gewesen sein. Das eine muss das andere nicht ausschließen.
Die erste Aufgabe des Menschen war es zweifellos, die Hunde mit Nahrung zu versorgen.
Wir sollten aber auch die Liebe nicht unterschätzen. Die Gefühle, die heutige Hundebesitzer für ihre Tiere hegen, waren sicherlich bereits in der Eiszeit bekannt: Schließlich wurde meinen Verwandten in Bonn-Oberkassel – dem Mann und der Frau mit der Haplogruppe U5b1 – vor 14 500 Jahren ein Hund mit auf ihren Weg in die ewigen Jagdgründe gegeben.
DOGGERLAND
HUND, MANN UND FRAU AUS DEM GRAB in Bonn-Oberkassel lebten in einer Zeit großer Veränderungen. Nur wenige Hundert Jahre vorher hatte Europa eine Wärmeperiode erlebt, die das Ende der Eiszeit ankündigte.
Die Kälte ging zurück. Schon seit mehreren Tausend Jahren taute die Erde ganz allmählich auf. Ihre Umlaufbahn um die Sonne hatte sich den sogenannten Milankovic-Zyklen entsprechend verändert. Immer mehr der Sonnenenergie erreichte die Erde. Als Eis und Schnee schmolzen und dunkles Wasser und dunklen Erdboden freigaben, konnte die Erde noch mehr Sonnenstrahlen absorbieren. Im Meer und im Boden gespeichertes Kohlendioxid und Methan wurde freigesetzt und beschleunigte den Erwärmungsprozess zusätzlich.
Außer der großflächigen Erwärmung, die die ganze Erde betraf, erlebten einzelne Gegenden regional begrenzte, aber dramatische Temperaturveränderungen. Innerhalb von nur ein paar Hundert Jahren – vielleicht sogar noch schneller – stieg die Durchschnittstemperatur in Nordwesteuropa um mehrere Grade. Das ist vermutlich auf veränderte Strömungsverhältnisse im Atlantik zurückzuführen.
Es erscheint uns wie ein Segen für die eiszeitlichen Menschen, dass das ehemals so raue Klima sehr viel milder wurde, doch bin ich mir nicht sicher, dass sie selbst es auch so empfanden. Der Umschlag kam so plötzlich, dass sie keine Zeit hatten, sich daran zu gewöhnen. Die Eiszeitjäger sahen sich genötigt, innerhalb weniger Generationen eine Lebensweise hinter sich zu lassen, an der ihre Vorfahren mehrere Jahrtausende lang festgehalten hatten.
Auf längere Sicht bedeutete das wärmere Klima deutlich verbesserte Lebensbedingungen. Höhere Temperaturen und steigende Niederschlagsmengen führten zu vermehrtem Pflanzenwachstum und damit auch zu reicherem Tierbestand. Dadurch konnten mehr Menschen überleben und Kinder bekommen. Am Ende der Eiszeit erlebte Europa ein kräftiges Bevölkerungswachstum, wie DNAAnalysen gezeigt haben.
Doch die Menschen mussten nun entweder lernen, die neuen Tierarten zu jagen, deren Lebensraum die jungen Wälder waren, oder den Rentieren auf deren Wanderungen nach Norden und Osten folgen.
Wer den Rentieren von Bonn-Oberkassel aus auf direktem Weg nach Norden folgte, kam nach Doggerland – ein Land, das es nicht mehr gibt. Heute kennen wir Dogger als Teil der Nordsee und aus dem Seewetterbericht. Doch Doggerland, das jetzt auf dem Grund des Meeres liegt, erstreckte sich einst vom heutigen Dänemark bis nach Schottland. Zur Zeit ihrer größten Ausdehnung – auf dem Höhepunkt der Eiszeit vor ungefähr 20.000 Jahren – reichte seine Landmasse wahrscheinlich sogar bis hinauf zu den Shetlandinseln. Zwischen Doggerland und der norwegischen Küste verlief ein schmaler, tiefer Graben, heute Norwegische Rinne genannt. In der Mitte zwischen den Shetlandinseln und der heutigen norwegischen Stadt Bergen lagen mehrere Erhebungen, die später den Namen Vikingbank erhielten.
Zeitweise könnte Doggerland sogar einer der besten Lebensräume im ganzen damaligen Europa gewesen sein – es besaß fruchtbare Böden, Süßwasserflüsse und eine reiche Tierwelt.
In einer Vitrine im Nationalmuseum in Kopenhagen betrachte ich Werkzeuge und Kunstgegenstände aus Knochen und Horn, die vor vielen Tausend Jahren von den Menschen in Doggerland hergestellt wurden. Einige dieser Artefakte haben sich in Fischernetzen verfangen, andere wurden an dänischen Stränden angespült. Unterwasserarchäologen haben im Meer nach untergegangenen Siedlungen gesucht.
Schon im 19. Jahrhundert fanden Austernfischer in den Gewässern vor England eigenartige Knochen von Mammuts und Rentieren. Im Jahr 1931 zog der englische Trawler „Colinda“ eine mit Widerhaken versehene Speerspitze aus Horn aus dem Wasser, die auf ein Alter von fast 12.000 Jahren datiert wurde. Seitdem haben Fischer, Taucher, Archäologen und Geologen viele Gegenstände entdeckt, die davon erzählen, wie die Menschen damals in jenem Land lebten, das jetzt Meeresboden ist.
Doch die neuesten Erkenntnisse über das versunkene Land kommen aus einer anderen, unerwarteten Ecke.
Ich fahre nach Bradford in England, um den Archäologen Vincent Gaffney zu interviewen. Er leitete ein umfangreiches Projekt, auf dem unter anderem das 2009 erschienene Buch Europe’s lost world – the rediscovery of Doggerland basiert. Es ist die bislang ausführlichste Darstellung des Themas.
Hätte ich diese Reise vor 10.000 Jahren unternommen, wäre ich trockenen Fußes von Schweden nach Bradford gelangt. Jetzt fliege ich stattdessen nach London und nehme von da aus den Zug in Englands Norden. Bradford und Leeds sind Zwillingsstädte. Die umgebende Landschaft mit ihren grünen Hügeln ist wunderschön, doch die Innenstadt von Bradford macht einen beklemmenden Eindruck. Die Blütezeit der Textilindustrie ist lange vorbei. Kaum ein Besucher verirrt sich heute noch hierher. Eine Frau im Zug erkundigt sich verwundert, was ich in Bradford will.
Die Universität der Stadt scheint jedoch einen guten Ruf zu haben. Es stellt sich heraus, dass Vincent Gaffney nach einem Konflikt mit seiner früheren Universität in Birmingham hier eine Stellung bekommen hat.
Eigentlich hatten wir uns für den Vormittag verabredet, doch wird Gaffney kurzfristig zu einem wichtigen Meeting in seiner neuen Universität gerufen. So treffen wir uns spätabends an der Hotelbar. Es wird ein ungewöhnlich chaotisches Interview. Ich trinke zwei kleine Gläser Cider, während Vincent drei große Bier kippt. Er ist um die Sechzig, rothaarig und schon zu Beginn des Abends sehr lebhaft. Je weiter der Abend fortschreitet und je mehr Gläser geleert werden, desto schwieriger wird es für mich, seinen Redefluss in geordnete Bahnen zu lenken. Doch hinter seinen Einfällen und wilden Assoziationen verbirgt sich brillante und richtungsweisende Wissenschaft.
Ursprünglich war Vincent Gaffney auf römische Relikte in der Mittelmeerregion spezialisiert. Doch irgendwann begann er sich mit der sogenannten Fernerkundung zu beschäftigen – verschiedenen Methoden, mit denen man den Erdboden aus der Distanz untersuchen kann, ohne zu graben. Als er in Birmingham einen Kurs in Fernerkundung für Doktoranden leitete, fragte ihn ein Student, welche Region er am liebsten einmal untersuchen würde. Ohne zu zögern antwortete er: „Doggerland“. Dort auf dem Grund des Meeres liegt vermutlich ein großer Teil der europäischen Vorgeschichte. Daraufhin schlug der Student vor, gemeinsam auf die Daten zuzugreifen, die Ölfirmen bei der Suche nach Öl- und Gasvorkommen gesammelt hatten. An diese Möglichkeit hatte Vincent Gaffney noch nie gedacht.
Sie gewannen für ihr Projekt einen Geologen, der Experte für die Untersuchung von Gas- und Ölfunden in der Nordsee war. Mit seiner Hilfe trugen sie eine große Datenmenge zusammen und bearbeiteten sie am Rechner.
Die Technik nennt sich 3D-Seismik und wird normalerweise für die Untersuchung von tief unter dem Meeresboden liegenden Schichten genutzt, in denen Ölvorkommen vermutet werden. Die Archäologen wollten jedoch näher an der Oberfläche arbeiten, in nur wenigen Metern Tiefe. Zu ihrem Entzücken ließ sich die Methode auch für ihre Zwecke nutzbar machen. Innerhalb von nur achtzehn Monaten konnte die Forschergruppe eine detaillierte Karte eines Teilgebiets von Doggerland erstellen, das so groß war wie Holland. Sie rekonstruierten eine komplette Landschaft mit Seen, Feuchtgebieten, Flussmündungen, Bergen und Ebenen. Mitten durch die Landschaft verlief ein großer Fluss, den sie nach einem bekannten Geologen Shotton River nannten.
Eine Frage scheint jedoch leider schwer zu beantworten zu sein: Wie sahen eigentlich die Konturen von Doggerland aus? Wie weit erstreckte sich die Landfläche zu verschiedenen Zeitpunkten in den Atlantik hinein?
Ich formuliere meine Frage mehrmals neu und schließlich gibt mir Vincent Gaffney zu verstehen, ich solle akzeptieren, dass man das einfach nicht wisse.
Die besten heute existierenden Karten wurden Ende der 1990er-Jahre von der britischen Archäologin Bryony Coles in Exeter erstellt. Sie legte ihnen in erster Linie die aktuellsten Höhenmessungen vom Meeresboden zugrunde. Damals hatte die Forschung gerade erkannt, dass der Meeresspiegel seit der kältesten Periode der Eiszeit vor 20.000 Jahren um ungefähr 120 Meter angestiegen war. Alle Flächen des Meeresbodens, die in geringerer Tiefe als 120 Meter liegen, müssten früher einmal trockenes Land gewesen sein. Wo das Meer noch deutlich flacher ist, wie zum Beispiel auf der Doggerbank, müssten eigentlich damals hohe Berge gelegen haben. Doch ganz so einfach ist es nicht. Die großen Flüsse, die durch Doggerland flossen, führten Sedimente mit, die sich im Laufe der Jahrtausende ablagerten. Sowohl der Umfang als auch die Höhe der Landmasse veränderten sich dadurch. Deshalb sind Bryony Coles Karten nur Abbilder von wohlbegründeten Annahmen, aber nicht von gesicherten Fakten.
Pollenanalysen von Bohrkernen aus an Doggerland angrenzenden Gebieten zeigen, wie sich die Pflanzenwelt verändert hat. Während der kältesten Perioden der Eiszeit herrschte hier eine trockene Tundra vor. Anders als Skandinavien war Doggerland vermutlich nicht von dickem Inlandeis bedeckt. Vincent Gaffney glaubt, dass kleine Gruppen der Eiszeitjäger dieses Gebiet auch während der kältesten Perioden aufsuchten. Darauf deutet eine Feuersteinspitze hin, die durch Zufall bei einer Bohrung im Meeresboden in der Nähe der Vikingbank gefunden wurde.
Am Ende der Eiszeit stieg der Meeresspiegel an und die Fläche von Doggerland schrumpfte, wobei die Gebiete, die nicht überflutet waren, umso fruchtbarer wurden. Wälder aus kleinen Birken und Weiden entstanden, später kamen Kiefer und Hasel hinzu und schließlich Edellaubhölzer wie Ulme, Linde und Eiche.
Vincent Gaffney hofft jetzt, dass ihm Gelder für weitere Forschungen bewilligt werden. Er möchte dort, wo er ehemalige menschliche Ansiedlungen vermutet, mit umfangreichen Bohrungen beginnen, vor allem entlang der Flüsse und an ihren Mündungen und nicht zuletzt rund um den großen See Silver Pit (Silbergrube).
Vereinzelte Bohrungen hat er bereits durchgeführt. Die DNA von Funden aus einer Siedlung in der Nähe der Isle of Wight hat er mittels einer neuen Methode untersucht, bei der der Bohrkern als Ganzes analysiert wird und man erst im Anschluss daran mithilfe von Computern zu entschlüsseln versucht, von welchen Organismen die Spuren in der Probe stammen. Auf diese Weise kann man Detailinformationen über die Ernährung der Menschen der betreffenden Siedlung gewinnen. Verschiedene Pflanzen- und Tierarten – alles manifestiert sich in der DNA-Probe.
Vincent Gaffney ist davon überzeugt, dass Doggerland ein Kernland der Jägerkulturen war, die nach dem Ende der Eiszeit in Nordwesteuropa lebten. Hier befanden sich die besten Jagdgebiete und Fischgründe. England und Schottland wiederum waren zu jener Zeit karge, unzugängliche Gebirgsgegenden, wo es nicht viel zu holen gab. Vielleicht haben sich die Einwohner von Doggerland dennoch zeitweise dort aufgehalten, um zu jagen.
Wahrscheinlich nutzten diese Menschen auch das heutige Südschweden gelegentlich als Jagdgebiet. Vor 14.000 Jahren waren große Teile Schwedens noch von Eis bedeckt und nur der äußerste Süden und die Westküste waren eisfrei. Dorthin kamen gelegentlich Besucher. Um hierherzugelangen, brauchten sie lediglich einige Flüsse zu überqueren. Zeitweise konnten sie sogar trockenen Fußes von Doggerland aus das heutige Schonen erreichen.
Die allerersten Besucher Schwedens waren wahrscheinlich ein paar abenteuerlustige Jugendliche, die vor ungefähr 14.000 Jahren lebten. Sie gehörten der sogenannten Hamburger Kultur an, einer nach der Stadt Hamburg benannten Rentierjägerkultur, deren Angehörige ihrer Jagdbeute über weite Strecken folgten. Doggerland war eines ihrer Kerngebiete, doch erstreckte sich die Hamburger Kultur vom heutigen Belgien im Westen über Dänemark und Norddeutschland bis nach Polen im Osten.
Um vom heutigen Dänemark nach Schweden zu gelangen, mussten die wagemutigen jungen Rentierjäger breite, reißende Stromschnellen überqueren. Diese Überfahrt im Paddelboot muss sehr gefahrvoll gewesen sein, besonders an der schmalsten Stelle zwischen den heutigen Städten Helsingør und Helsingborg. Östlich davon lag der große Baltische Eisstausee, der durch Schmelzwasser des Inlandeises entstanden war. Er lag deutlich über dem Meeresspiegel an der Westküste, weshalb das Wasser mit großer Kraft durch den Öresund ausströmte. Vermutlich war es für die Jugendlichen sicherer, die Querung etwas weiter nördlich zu wählen und dann in der schwedischen Provinz Halland an Land zu gehen.
Im Winter könnten sie auch über das Eis gegangen sein, was ebenfalls gefährlich war. Sie mussten unablässig mit ihren Speeren auf die Eisdecke schlagen, um zu prüfen, wie dick und stabil sie war.
Es war aber wohl der Mühe wert, denn sowohl Rentiere als auch Pferde fühlten sich im Sommer am Rand des großen Gletschers wohl, ebenso wie die begehrtesten Pelztiere, der Vielfraß und die weißen Füchse. Darüber hinaus bedeutete eine Reise in neue, unbekannte Länder auch einen Prestigegewinn, wie die Archäologen vermuten.
Die unternehmungslustigen Jugendlichen besuchten das Land mehrmals, um zu jagen, blieben aber nie länger dort.
Tausende Jahre später (das Land jenseits des Sunds heißt schon seit mehreren Hundert Jahren Schweden) werden ab und zu einzelne Pfeilspitzen aus Feuerstein entdeckt, die die ersten Besucher hier zurückgelassen haben.
Für kurze Zeit, vielleicht dreihundert Jahre lang, bestand vermutlich eine Landbrücke zwischen Dänemark und Schweden. Damals war das Klima wieder ein wenig milder geworden. Die Hamburger Kultur der Rentierjäger aus der Tundra wurde von der mehr auf die Jagd auf Hirsche, Elche und andere Tiere des Birkenwaldes spezialisierten sogenannten Bromme-Kultur abgelöst. Alles deutet darauf hin, dass es sich hierbei weitgehend um dieselbe Menschengruppe handelte, die nur ihre Kultur ein wenig anpasste, als das Klima sich erwärmte, die Wälder wuchsen und die Tierwelt sich veränderte. Der Öresund scheint vor ungefähr 13.000 Jahren trockengefallen und daraufhin von Rentieren, Hirschen, Bären, Bibern und Menschen durchquert worden zu sein. Angehörige der Bromme-Kultur hielten sich mehrere Generationen lang in Schonen auf.
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