Kitabı oku: «Todesvoting»

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Karin Szivatz

Todesvoting

Du entscheidest, ob sie freikommen, leiden oder sterben

Dieses ebook wurde erstellt bei

Inhaltsverzeichnis

Titel

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Impressum neobooks

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Todesvoting

Du entscheidest, ob sie freikommen, leiden oder sterben

Psychothriller

Impressum:

Copyright by EgoLiberaVerlag 2021

Einbandgestaltung Walt H. Johnson

Foto: privat

Jede Vervielfältigung des Textes sowie einzelner Textpassagen ist nur mit ausdrücklicher und schriftlicher Genehmigung des Verlags zulässig.

Alle Rechte vorbehalten

1. Auflage 11/2021

Egolibera.at

„Hi Bell, wo bleibst du denn schon wieder? Du machst mich noch wahnsinnig!“ Sie unternahm nicht einmal den Versuch, ihre Ungeduld zu verbergen. Sie war genervt und fand keinen Grund, es für sich zu behalten.

„Ich bin in zwei Minuten bei dir, schau mal aus dem Fenster und sei nicht immer so pingelig! Du hast aber manchmal schon einen Stock im Hintern, das ist total unlustig und nervig. Ich bin doch erst zwei Minuten zu spät“, raunzte Bell gehetzt und beschleunigte ihre Schritte noch ein wenig mehr.

Alexa lehnte sich mit ihrem Handy am Ohr zum Fenster hinaus und sah ihre Freundin auf den Wohnkomplex zuhasten. „Bis du hier oben bei mir bist sind es insgesamt gut und gern sechs Minuten und das sind um genau... Bell? Bell! O mein Gott, Bell!“

Sie starrte auf den Lieferwagen, der direkt neben ihrer Freundin gehalten hatten. Die seitliche Tür wurde nach hinten stoßen und jemand hatte sie brutal ins Innere gezogen. Zwei Sekunden später hatte sich der Wagen wieder in den Fließverkehr eingefädelt und hielt mit unauffälliger Geschwindigkeit auf die Autobahn zu.

Alexa entglitt das Telefon und beinahe hätte sie das Gleichgewicht verloren und wäre aus dem Fenster im dritten Stock gestürzt. Sie hatte sich zu weit nach vorn gebeugt um dem Lieferwagen nachzusehen. Wie von Sinnen schrie sie immer wieder den Namen ihrer Freundin und zwischendurch nach der Polizei. Ohnmächtig trommelte sie mit den Fäusten aufs Fensterbrett und stieß dabei einen Chilitopf um, der wie eine kleine Bombe auf dem Gehsteig unter ihr explodierte.

Als der Lieferwagen an der Ampel rechts abbog, schnappte sie ihr Handy, hastete in Hausschuhen die Treppen hinunter; immer zwei Stufen auf einmal nehmend. Mit einem kräftigen Schwung war sie in ihrem Auto und schoss aus der Parklücke. Dass sie dabei einen hellroten Porsche rechts hinten touchierte, bemerkte sie nicht. Und selbst wenn sie es bemerkt hätte, wäre es nicht von Belang gewesen. Sie musste den Lieferwagen, in dem ihre Freundin wie ein Fisch in einer Dose gefangen gehalten wurde, erwischen. Während sie die Straße entlang jagte, versuchte sie, den Polizeinotruf zu wählen. Sie schielte immer wieder auf die Tastatur ihres Handys, dann sofort wieder auf die Straße, die sich ihr viel schmäler als üblich präsentierte. Sie tippte drei Zahlen ein, verwählte sich, legte auf, fluchte lautstark, trat noch mehr aufs Gas, hupte, beschimpfte wahllos die anderen Autofahrer und drückte erneut die drei Ziffern auf der Tastatur. Endlich hatte sie die richtige Nummer gewählt. Jetzt fehlte nur noch die Sprechtaste für die Verbindung.

„Polizeinotruf, was kann ich für Sie tun?“

„Meine Freundin Bell…. Sie wurde … entführt. In einem weißen Lieferwagen. Schicken Sie ein paar Hubschrauber, sie sind auf die Autobahn gefahren!“ Alexas Stimme überschlug sich, kreischte und wurde ziemlich schrill.

„Wo sind Sie jetzt? Welche Autobahn meinen Sie?“, fragte die Polizeibeamtin viel zu ruhig für Alexas Geschmack.

„Du blödes Arschloch!“, schrie sie, meinte damit aber einen Autofahrer, der viel zu langsam fuhr. Sie überholte ihn, fuhr mit quietschenden Reifen bei rot über die Ampel und handelte sich ein Hupkonzert ein, das sie aber nur in ihrer Stimmung unterstützte. „Ich verfolge den Wagen auf die A2 in Richtung Norden. So schicken Sie verdammt noch mal die Kavallerie, einen Hubschrauber, das Militär, was weiß ich, nur tun sie etwas!“

„Sie wissen, dass Sie sich strafbar machen, wenn Sie…“

„Jetzt halten Sie die Klappe und hören Sie mir zu! Meine Freundin wird entführt und sie haben die verdammte Pflicht, ihr zu helfen!“

Nach dieser Ansage breitete sich im Hörer Stille wie in den Tiefen des Ozeans aus. Eine Sekunde, eine zweite. Alexa war gerade dabei, eine hässliche Schimpftirade in den Hörer zu keifen, als sich die Beamtin wieder meldete. „Wie sieht das Fahrzeug aus? Konnten Sie sich das Kennzeichen merken? Hat der Wagen besondere Merkmale?“

Alexa holte knapp 180 Stundenkilometer aus ihrem nicht mehr ganz neuen Wagen heraus, hupte die furchtbar langsamen Schnecken vor ihr an, die sie in ihrer rasanten Fahrt behinderten und schimpfte nebenbei wie ein alter Seebär. „Es ist ein weißer Lieferwagen, Marke Stern mit einer seitlichen Schiebetür. Und dort drin ist meine Freundin! Herrgottnochmal, jetzt reden Sie nicht so viel, tun Sie etwas!“ Sie brüllte ins Handy als ob die Polizistin am anderen Ende der Leitung völlig schwerhörig wäre.

„Beruhigen Sie sich doch, es sind bereits drei Streifenwagen unterwegs und der Helikopter startet in einer Minute. Wenn Sie sich aber einen Scherz…“

Alexa warf das Handy erbost auf den Beifahrersitz. „Ach, leck mich doch!“ Für solchen Schwachsinn hatte sie jetzt aber wirklich keine Zeit. Sie musste den Lieferwagen finden und so lange verfolgen, bis die Polizei ihn stoppte. Die Häuser neben der Autobahn rasten im Eiltempo vorbei, hinterließen in ihren Augen jedoch nur noch verschiedene Farbstreifen. Als hätte Gott mit überbreiten Pinseln Streifen neben die Fahrbahn gemalt um die Fahrer zu unterhalten. Sie raste an unzähligen Autos in den verschiedensten Farben vorbei, hupte, fluchte und schüttete dabei so viele Stresshormone aus, dass ihr der Schweiß in Strömen von der Stirn lief. Doch das alles war nicht wichtig. Nur Bell war wichtig. Sie hatte den weißen Lieferwagen nicht mehr zu Gesicht bekommen und jetzt kam die erste Ausfahrt. Alexa verringerte ihr Tempo ein wenig und überlegte panisch, ob sie abfahren oder auf der A2 bleiben sollte. In ihrem Kopf fochten tausend Gedanken ein Turnier aus, doch keiner von ihnen konnte den Sieg für sich verbuchen.

Letztendlich setzte sie den Blinker und überquerte die beiden Spuren bis zum Pannenstreifen. Dort brachte sie ihren Wagen mit einem kurzen Schlingern zum Stehen, legte erschöpft die Stirn auf das Lenkrad und heulte verzweifelt los.

2

Alexa saß in der Ecke des nüchtern eingerichteten Wachzimmers und zitterte, obwohl es recht warm im Raum war. Ihr Adrenalinspiegel machte sich bemerkbar und ein Beamter legte ihr fürsorglich eine Decke über die Schultern. Ihre Atmung kam unbeabsichtigt stoßweise aus ihrem Mund und sie fühlte sich elend. Als ob sie gerade gegen Vitali Klitschko im Ring gestanden und den Kampf natürlich verloren hätte. Sie versuchte, einen Becher Kaffee an ihre Lippen zu führen, doch sobald der bittere Geruch in ihre Nase stieg, kam gleichzeitig Ekel in ihr auf. Sie liebte Kaffee in allen Varianten, doch jetzt löste er beinahe Brechreiz aus. Sie stellte den Becher auf den Schreibtisch neben ihr und starrte weiterhin die Wand gegenüber an. Das Plakat, das vor Taschendieben warnte, prangte in deren Mitte wie ein Blutfleck auf einem weißen T-Shirt, doch sie sah es nicht. Mittlerweile kauerte sie auch schon nur noch auf dem Stuhl, denn zum Sitzen fehlte ihr die Kraft.

Sie, die Frau, die immer energiegeladen durch den Tag tanzte, die stets anpackte und nichts liegen ließ und die schlagfertig auf jede Aussage reagierte, wenn es nötig war. Alexa sprühte normalerweise vor Herzensgüte und sie lebte nach dem Motto ‚immer nur her mit den Problemen, ich mache ihnen den Garaus’. Doch im Moment würde sie niemand erkennen, nicht einmal ihre Mutter. Alexa hing mehr am Stuhl als sie saß, denn ihrem Körper fehlte es an jeglicher Spannung. Selbst ihre sonst so fröhlichen, von der Natur gelockten Haare hingen kraftlos auf ihre Schultern hinab.

„Ja“, hauchte sie mit geschlossenen Augen. Der junge Beamte tippte etwas in seinen Computer. „Haben Sie den Mann erkannt?“

„Nein.“ Sie flüstere nur noch und gab dabei aber schon ihr Bestes. „Lassen Sie mich zwei Stunden in einer Ausnüchterungszelle schlafen, dann geht’s wieder“, flehte sie und kippte beinahe vom Stuhl. Die beiden Beamten griffen rasch zu und hielten sie an den Schultern fest. Dann nickten sie einander zu und der Jüngere fuhr sie mit dem Drehstuhl in eine der beiden freien Zellen am Revier. Dann setzte er sich wieder an seinen Schreibtisch und sah Rodrigo Gonzales, den Ermittler der Sondereinheit für Entführung, fragend an.

„Sie kann uns ohnehin nicht helfen. Und wenn sie doch etwas weiß, wird diese Information gerade von ihrem Gehirn blockiert. Sie ist vom Adrenalin total zugedröhnt, aber das ist völlig normal. Unsere Leute haben jedenfalls vierundzwanzig Fahrzeuge im abgesteckten Abschnitt überprüft. Ohne Ergebnis. Aber ich glaube ihr. Was haben die Anrufe aus der Umgebung bis jetzt ergeben? Die Entführung, so sie tatsächlich stattgefunden hat, muss doch auch noch von anderen Personen beobachtet worden sein.“

Der Polizist tippte ein paar Befehle in seinen Computer und wartete, bis ein Menü auf dem Bildschirm erschien. Dort klickte er ein paar Punkte an und wartete wieder.

Die Beamtin des Notrufs hatte sofort alle diesbezüglich eingegangen Anrufe an die zuständige Dienststelle weitergeleitet. Er sah angestrengt auf den Bildschirm. „Es sind lediglich vier Anrufe eingegangen. Drei wegen der Entführung und eine, weil Frau Alexa Miller Radau gemacht und einen Blumentopf aus dem Fenster auf den Gehsteig geworfen hatte.“

Der Beamte sah Gonzales ungläubig an, verdrehte dann die Augen und schüttelte den Kopf. Der Ermittler lachte. „Das war wahrscheinlich wieder mal so eine alte Schachtel, der nur ihr eigenes Wohlergehen wichtig ist. Das kenne ich zur Genüge.“

Dann drehte der Polizist den Bildschirm zu Gonzales.

„Das sind alle diesbezüglich eingegangenen Anrufe“, erklärte er und grenzte sie mit dem Finger ab. Respektvoll ließ er Rodrigo Zeit um sie zu überfliegen. Insgesamt waren wirklich nur vier Anrufe verzeichnet und drei davon sagten im Prinzip das gleiche aus. Die Geschichte der Lady in der Zelle stimmte also vermutlich.

Rodrigo lehnte sich in seinem Stuhl zurück und wollte um die Weiterleitung der Gesprächsprotokolle bitten, doch der Beamte kam ihm zuvor. „Ich leite alles Nötige weiter an Ihre Dienststelle. Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?“

Rodrigo dachte kurz nach und schüttelte den Kopf. Dann stand er auf, bedankte sich für die reibungslose Zusammenarbeit, nahm die Akte vom Tisch und machte sich auf den Weg ins Dezernat um eine fähige Gruppe zur Auffindung von Natalie Isabell, ‚Bell’ Springer zusammen zu stellen. Die Zeit drängte, denn das Opfer war womöglich in Lebensgefahr. Im Moment zählte nicht nur jede Stunde, sondern jede Minute. Je frischer die Spur war, desto größer war die Chance, das Opfer zu finden. Rodrigo holte sich die Liste der Mitarbeiter und überprüfte, wer von ihnen an keinem anderen Fall arbeitete. Sorgfältig studierte er jeden einzelnen Namen, notierte immer wieder einen davon und filterte somit all jene heraus, die gut zusammenarbeiten konnten und sich auch so richtig engagierten.

Bereits zwei Stunden später stürmte die vierzehnköpfige Truppe aus dem Besprechungsraum und verteilte sich in drei Gruppen in alle Himmelsrichtungen und dazwischen. Team Alpha sollte mögliche Zeugen der Entführung finden. Sie mussten sich Wohnung für Wohnung vorarbeiten, an jede einzelne Tür klopfen um mit den Bewohnern zu sprechen. Das waren geschätzte neunhundert Befragungen, wenn man für jeden Haushalt drei Personen rechnete. „Guten Tag, Lisa Willinger mein Name, wir untersuchen eine vermeintliche Entführung, die heute um dreizehn Uhr drei vor Ihrem Haus stattgefunden hat. Haben Sie etwas gesehen oder…. Bla bla bla.“ So uninteressant konnten Ermittlungsarbeiten sein, aber sie waren nötig. Lisa Willinger und ihre Kollegen ließen sich davon jedoch nicht entmutigen. Ihnen war durchaus bewusst, dass sie durch diesen zähen Anfang hindurch mussten um irgendwann direkt an den wirklich interessanten Ermittlungen teilnehmen zu dürfen. Aber sie alle waren noch jung und neu in der Abteilung. Somit fiel ihnen die langweilige Knochenarbeit ohne Lohn, Ruhm und Ehre zu.

Team Beta sprach mit Passanten und den Verkäuferinnen der umliegenden Geschäfte. Sie kümmerten sich auch darum, Kassetten von Überwachungskameras mitzunehmen, beziehungsweise digital gespeicherte Aufzeichnungen ans Dezernat zu übermitteln. Team Gamma war bereits in der nächsten Liga und durfte sich mit dem Ehemann, den Eltern, den Freunden, Verwandten und Arbeitskollegen des Opfers über mögliche Motive der Entführung unterhalten. Auch die Vermögensverhältnisse der Entführten wurden dabei im Groben überprüft. Dieses Team wurde vom Kriminalpsychologen Dr. Hans Gruber geleitet. Bei Freunden und Verwandten von Entführungsopfern musste man mitunter sehr vorsichtig und sensibel vorgehen und sehr viel psychologisches Wissen sowie Einfühlungsvermögen besitzen.

Ein internes Team übernahm die Auswertung der Überwachungsbänder, ein anderes machte sich im Register für KFZ-Anmeldungen auf die Suche nach allen weißen Lieferwagen. Aber ohne auch nur einen Teil des Kennzeichens zu kennen, führte diese Spur praktisch ins Nichts. Es war völlig aussichtslos, aber dennoch mussten sie ihr nachgehen.

Kurz vor zwanzig Uhr versammelte sich das gesamte Team im Besprechungsraum. Auf dem Flipchart stand in roten Lettern ‚Natalie ‚Bell’ Springer’, darunter ‚32 Jahre’, ‚verheiratet mit Toby Springer’.

Hans Gruber, der Psychologe, meldete sich als Erster mit den Ergebnissen seiner Befragung. „Im Großen und Ganzen hat sie bis jetzt ein normales Leben geführt. Sie hat einen Ehemann, einen normalen Job, keine besonderen Hobbys, etliche Freunde. Aber in einem Punkt war oder ist sie alles andere als gesellschaftsangepasst.“

Er legte eine kurze Pause ein, um sich der Aufmerksamkeit des gesamten Teams sicher sein zu können. „Sie hatte in den letzten vier Jahren ein reges Sexualleben – und zwar außerhalb ihrer Ehe!“

Erneut arbeitete er mit dem Stilmittel einer Pause. Er genoss es, im Mittelpunkt zu stehen und von allen angesehen zu werden. Dabei verspürte er ein Ziehen und Kribbeln in seinem Schritt, auf das er unheimlich stand. Es war keine Erektion, aber so etwas Ähnliches und er konnte davon nicht genug bekommen. Manchmal war dieser Erfolgsorgasmus für ihn weitaus erfüllender als ein sexueller Orgasmus. Er schloss kurz die Augen, genoss das Ziehen, atmete schwer aus und fuhr dann fort.

„Diese sehr vertrauliche und äußerst delikate Information kommt von ihrer besten Freundin Alexa Miller. Toby Springer, ihr Ehemann, wusste von einem Liebhaber, vielleicht auch noch von einem zweiten. Laut Aussage von Frau Miller hatte Natalie im Lauf der Zeit jedoch sechs Liebhaber, einer davon war ein katholischer Priester. Mit letzterem hatte Bell zwar keinen Geschlechtsverkehr, aber sie umgarnte den Ordensmann und versuchte, ihn auf die Abwege der Sünde zu locken. Vermutlich ging es ihr hierbei um den Sieg über Gott und den Glauben und weniger um das Ausleben ihrer Sexualität.“

Er setzte erneut eine Pause ein und hoffte, es würden gleich mehrere Beamte eine bestimmte Frage stellen. „Wieso ein Sieg über Gott?“, fragte Lisa Willinger und noch drei ihrer Kollegen. Da war er, der Weg zum Erfolgsorgasmus! Sie hatten ihn ihm nicht verwehrt. Ganze drei Sekunden lang genoss er diese Frage, dann fühlte er sich bemüßigt, die Lösung zu präsentieren.

„Der Priester hat sein Leben Gott gewidmet und dafür strenge Auflagen erhalten. Wenn sie, das Menschenkind, nun fähig war, den Priester zum Sex zu verführen, würde er seine Ehe mit Gott brechen und sie an die erste Stelle seines Lebens setzen. Somit hätte sie einen Sieg über Gott errungen.“

Die meisten nickten zustimmend und bewundernd. Sein Innerstes entflammte und der Psychologe genoss seine kleine Perversion in vollen Zügen, deren er sich vollends bewusst war.

Rodrigo Gonzales sah ihn nachdenklich an. „Und? Hat sie es geschafft, ihn zu verführen? Hätte er deshalb ein Motiv, sie zu entführen? Wenn er schon Sex hatte, so kann er doch auch jemanden entführen… wenn mal eine Sünde begangen ist, dann kann man doch gleich weitermachen, oder?“

Philipp aus der letzten Reihe rieb sich schmunzelnd die Hände. „Er hat sie entführt und hält sie jetzt in einem Keller als seine Sexsklavin gefangen. Er ist auf den Geschmack gekommen und holt nun alles nach, was er sich jahrelang verboten und vorenthalten hat. Im Keller feiert er jetzt Sexorgien, bis er wundgescheuert ist!“ Das gesamte Team drehte sich zu ihm um und lachte.

„Willst du dich dem ehrenwerten Pater vielleicht anschließen? Gegen einen flotten Dreier hast du doch nichts einzuwenden, oder?“, warf Henrik ein und zog damit die Aufmerksamkeit des Teams auf sich.

Gonzales lächelte und freute sich, dass das Team einander vertraute und guter Dinge war. Die Gruppendynamik funktionierte hervorragend.

Der Psychologe ließ das Team noch eine Weile herumalbern, erhob aber dann doch wieder seine Stimme und fuhr fort. „Wir wissen nur, dass er Pater Pius heißt und dem Konvent der Franziskaner im hiesigen Kloster angehört. Während er ihr die Beichte abgenommen hatte, haben sie sich kennen gelernt. Mehr weiß ich im Moment auch nicht. Aber dieser Pater ist auf alle Fälle einen näheren Blick wert. Und ich werde mich noch eingehender mit dem Ehemann beschäftigen. Ich denke zwar nicht, dass er wegen ihrer Untreue etwas damit zu tun hat, aber man kann nie wissen. Eine Entführung passt da aber so gar nicht ins Spiel. Das war’s von meiner Seite her. vielen Dank.“

Dr. Gruber blieb noch kurz stehen, sonnte sich im Mittelpunkt und setzte sich dann wieder. Sein Auftritt für den heutigen Tag war vorbei; und er hatte sich gelohnt.

Nun ergänzten die anderen Teams noch ihre Auswertungen, aber es kam nicht viel dabei heraus. Sie war weder vermögend noch hatte sie einen so wichtigen Job, als dass man sie aufgrund von Geheimnissen oder Kennzahlen entführen hätte können. Sie trieb sich nicht mit finsteren Gestalten herum und sie konsumierte oder verkaufte vermutlich auch keine Drogen. Somit war kein echtes Motiv ersichtlich und das mit den Seitensprüngen war nun doch ziemlich dünn.

Dieser Fall würde sicher zu den schwierigsten zählen, aber Rodrigo Gonzales liebte gerade diese. Es waren Herausforderungen, die er jedes Mal gerne wieder von neuem annahm. Er hatte seine Heimat Mexiko vor sieben Jahren der Liebe wegen verlassen und wurde schon nach zwei Jahren wieder von dieser Liebe verlassen. Seither stürzte er sich mehr oder minder in seine Arbeit, denn für eine neue Beziehung war er noch nicht bereit.

Rasch fasste er alles noch einmal stumm zusammen, dann verteilte er die weiteren Aufgaben an sein Team. Er hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, täglich neu zu überprüfen, ob seine Leute auch ihren Fähigkeiten nach effektiv genug eingesetzt waren. Fixe Partnerschaften lehnte er ab, obwohl es sich meist ergab, dass immer wieder die gleichen zusammenarbeiteten; Talente änderten sich eben nicht. Aber er wollte, dass sich jedes Zweier- und auch Dreierteam gegenseitig ergänzte.

Nach der Einteilung entließ er seine Leute und wünschte ihnen eine gute Nacht. Sie würden sich am nächsten Tag wieder mit vollem Elan auf die Suche nach Bell machen. Kurz nach der Einteilung betrachtete er noch eine Weile das Foto von Bell und dann verließ auch er das Dezernat, nahm sich jedoch die Akte mit nach Hause. Vielleicht hatte er in den eigenen vier Wänden den einen oder anderen Geistesblitz, wie sie die entführte Person finden und befreien konnten.

Während sich das Team rund um Rodrigo ausruhte, kontrollierten Streifenpolizisten weiterhin weiße Lieferwagen, hielten nach Natalie Springer Ausschau und sahen wieder und wieder die Überwachungsfilme an. Vielleicht hatte der Kollege vom Tagdienst ja doch die eine oder andere Kleinigkeit übersehen, die weiterhelfen konnte.

Rodrigo ging langsam die Treppe hinab, setzte sich in seinen Wagen und starrte in die schwarze Nacht hinein. Er war von Menschen umgeben, von denen er nicht wusste, welche kriminellen Gedanken sie gerade hegten oder welche dunklen Pläne sie schmiedeten, die ihrem Nächsten irgendwann schaden könnten. Und auch ihm selbst. Eigentlich war jeder dem anderen auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. So, wie Natalie heute. Sie geht am helllichten Tag nichts ahnend zu ihrer Freundin und wird entführt. Der nächste fängt eine verirrte Pistolenkugel ab, der andere wird vor die U-Bahn gestoßen und an irgendeiner Ecke wird jemand ausgeraubt. Wir denken immer, unser Leben im Griff zu haben, fast alles kontrollieren zu können, aber das ist völliger Schwachsinn. In Wahrheit sind wir den anderen Menschen ausgeliefert, nur verdrängen wir diese Tatsache allzu gern. Wir sind ohnmächtig dem gegenüber, was der andere macht. Und Gesetze schützen uns davor nicht, sonst würde niemand verschleppt, ausgeraubt, vergewaltigt, gefoltert oder ermordet.

An diesem Punkt riss er sich aus seinem inneren Monolog und kehrte in die Realität zurück. Er wusste, dass er eine zu negative Einstellung seinen Mitmenschen gegenüber hatte und er nahm sich gelegentlich vor, diese zu ändern. Nicht alle Menschen waren schlecht, nur einige. Und er nahm sich vor, sich in seiner Freizeit wieder mit Menschen zu umgeben. Die Einsamkeit wirkte sich nicht gerade positiv auf ihn aus. Allerdings würde er sich nach positiven Menschen umsehen müssen, was sich doch als sehr schwierig gestalten konnte. Aber im Moment hatte er andere Sorgen; er musste sich auf das Wesentliche seiner Arbeit konzentrieren.

Mit vollem Kopf startete er den Motor und fuhr los. Doch anstatt nach Hause zu fahren zog es ihn zurück zum Tatort. Er wollte sich dort noch etwas umsehen, obwohl er ahnte, dass er nichts finden würde. Dennoch setzte er den Blinker nach links und bog ab.

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