Kitabı oku: «Einführung in die systemische Sexualtherapie», sayfa 2

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1.1.2Die evolutionäre Perspektive

Wenn man der biologischen und evolutionären Perspektive folgt, dass Männer einen Trieb besitzen, um für reproduktive Zwecke so viel Samen wie möglich zu verbreiten, und Frauen ein Interesse daran haben, ihre Energie für Schwangerschaften zu bewahren, und deswegen von Natur aus monogam angelegt sind, sind feministische Wünsche nach Gleichberechtigung utopisch und eine klare Rollenverteilung der beiden Geschlechter ergibt Sinn (Weeks 2017). So einleuchtend die evolutionäre Perspektive erscheinen kann, genauso schwierig ist es, ihr Gegenteil zu beweisen.

Aber auch die evolutionäre Theorie ist eben eine solche und nicht beweisbar – sie ist allerdings in höchstem Maße suggestiv. Es stimmt, dass Männer im Durchschnitt sexuell aktiver sind, und vielleicht liegt es an den Genen. Aber es könnte genauso gut etwas mit unserer Kultur zu tun haben. Durchschnittszahlen sind gleichzeitig wahr und dennoch nicht sehr hilfreich. In der realen Welt, in der wir leben, ist alles etwas komplexer (Weeks 2017).

Während einzelne Forscher Erregbarkeit weiterhin dichotomisch verstehen – männliche Erregung als spontan, die weibliche als responsiv –, vertritt die jüngere Forschung die Ansicht, dass Erregbarkeit nicht geschlechtsspezifisch sei. Stattdessen könne Erregbarkeit besser erklärt werden durch die Erregung fördernde oder hemmende Faktoren, wobei die einzige Differenz die Stärke des Stimulus sei (Meana 2010). Aber viele Menschen fühlen sich von dem Thema und den möglichen Folgerungen überwältigt und bevorzugen weiterhin einfache Antworten auf schwierige Fragen.

1.1.3Gesellschaftliche Einflüsse auf das Sexualverhalten

Wenn bei Partnern eine Diskrepanz in Bezug auf das Begehren vorliegt, passiert es vor allem bei heterosexuellen Paaren häufig, dass die Frau Sex nicht unbedingt als etwas sieht, das sie für sich tut. Es hat sehr viel mit der oben genannten »Erzählung« zu tun, dass Männer die sexuell Aktiven seien und Frauen die Passiven. Tatsächlich bewirkt solch eine Vorstellung, dass viele Frauen an Sex als etwas denken, das sie für jemand anderen tun; als Gefallen, um den Beziehungsfrieden nicht zu stören oder um das Ego des Partners zu schützen. Frauen ordnen nicht selten ihre Bedürfnisse denen des Partners unter, und ihre eigene Lust scheint ihnen eine ziemlich komplizierte Angelegenheit zu sein (Stirn u. Pika 2016). Das hat u. a. damit zu tun, auf welche Art viele Mädchen immer noch erzogen werden und welche Werte und Botschaften sie von Haus aus mitbekommen. Zusätzlich verstärkt werden diese durch das dominante Narrativ in den Medien. Jugendliche werden schon vor und während der Pubertät heterosexuellen »Drehbüchern« und Skripten ausgesetzt, in denen schwule, lesbische oder bisexuelle Personen höchstens im Hintergrund auftreten, wodurch die Heterosexualität als Norm umso klarer hervortritt. So kommt es heutzutage zu einer ungewöhnlich frühen expliziten und offensiven heterosexuellen Sozialisation (Schmidt 2014).

Selbstverständlich fördert dies die gefährliche Erzählung, dass für Männer Sex das Wichtigste wäre, für Frauen jedoch die Beziehung. Frauen werden nicht erzogen zu denken, dass Sex für sie gut sei, sondern dass es etwas sei, worin sie gut sein müssen. Ein süßes Mädchen ist eines, das für andere da ist, und entwickelt sich nicht zu einer Frau, die Sex liebt! Und wer kann schon die Leidenschaft am Leben halten, wenn es dein Ziel sein soll, anderen zu gefallen (Ogden 2008)? Wenn man mit der Botschaft groß geworden ist, dass man als Frau eigene Wünsche und Bedürfnisse zur Seite stellen sollte, kann es sehr schwierig werden, mit der eigenen Sexualität in Kontakt zu bleiben. Außerdem haben viele Mädchen schon im jungen Alter sexuelle Beziehungen, um den anderen einen Gefallen zu tun, während sie selber dafür noch nicht bereit sind und nicht wissen, welche Bedingungen für sie wichtig sind, um Sex genießen zu können (van Lunsen e. Laan 2017).

Frauen können außerdem schnell das Gefühl bekommen, dass es sich hierbei nur um kleine Opfer handelt, die man um des lieben Friedens willen bringt. Aber wenn diese aufopferungsvolle Einstellung sich auf die Sexualität bezieht, ist dies ein sicherer Weg, um auf die Dauer sexuell uninteressiert zu werden und am Ende gar kein Begehren mehr zu spüren. Wenn jemand sich selber ein paar Mal so in die zweite Reihe gestellt hat, indem er oder sie nur das macht, was der Partner möchte, kann ein Mangel an sexuellem Vergnügen zu einem Teufelskreis werden (Hall 2004).


Abb. 1: Teufelskreis

Dazu kommt noch die Tatsache, dass sehr viele Frauen frühe Erfahrungen mit übergriffigem Verhalten haben, das vielleicht keine direkte Kinderschändung oder Vergewaltigung, aber trotzdem grenzüberschreitend war und dazu beigetragen hat, dass sie glauben, dass Männer von Frauen vor allem Sex wollen. Und zu viele Mädchen und Frauen haben Sex mit dem Ziel, ein Verhältnis zu beginnen, zu bewahren oder wiederzubeleben. Dann ist Sex kein intimer Akt mehr, sondern wird instrumentalisiert, als Mittel zum Zweck (Hall 2004). Manche Frauen können es kaum aushalten zu wissen, dass ihr Mann sich schwer damit tut, sexuell abgewiesen zu werden, und meinen dann, sie müssten seinetwegen bald Sex haben. Das Problem bei solchen Gedankengängen (und noch mehr bei deren Umsetzung) ist, dass es die Frau noch weiter von ihrer eigenen Lust entfernt und einem erstickenden Pflichtgefühl für Sex näherbringt.

1.1.4Frauen kommen zu kurz

Die meisten Menschen tun nicht das, wonach sie sexuell verlangen, sondern das, von dem man ihnen beigebracht hat, dass sie es tun sollten (Perel 2016). Ein Mangel an Lust bedeutet z. B. nicht unbedingt einen Mangel an Sexualität: Ein großer Teil der heterosexuellen Frauen hat mehrmals im Monat Sex, ob sie daran interessiert sind oder nicht. Viele Frauen fühlen sich unter Druck gesetzt, Geschlechtsverkehr in ihren intimen Beziehungen zu haben, und der Druck wird durch die Betonung des Sexuellen in unserer Gesellschaft unterstützt (Hall 2004). Hinzu kommt, dass bis heute noch viele Frauen sich damit schwertun, dem Partner Anleitungen für ihre Befriedigung zu geben oder zu signalisieren, dass sie bisher keinen Orgasmus hatten (von Sydow u. Seiferth 2015).

Dies mag auf den ersten Blick vielleicht etwas übertrieben wirken. Aber die Forschung zeigt, dass heterosexuelle Frauen im wahrsten Sinne des Wortes immer noch zu kurz kommen. Während die Kriterien für sexuelle Dysfunktionen zum größten Teil immer noch auf den Geschlechtsverkehr zielen, haben mindestens zwei Generationen von Sexualforschern belegt, dass ungefähr drei Viertel der Frauen durch Geschlechtsverkehr nicht befriedigt werden, sie brauchen klitorale Stimulation und ein sogenanntes Vorspiel (Ogden 2008). Seit dem Kinsey-Report weiß man, dass es beim Koitus große Unterschiede in puncto Häufigkeit des Orgasmus von Frauen (27 %) und Männern (80 %) gibt, wozu sogar Kinsey schon äußerte, dass dies »von erheblicher sozialer Bedeutung ist« (Kinsey 1953, S. 398). Diese »Orgasmuskluft« ist, obwohl sie seit mehr als einem halben Jahrhundert bekannt ist, leider weiterhin sehr prominent: Moderne Studien zeigen immer wieder, dass nur ein Viertel der heterosexuellen Frauen einen Orgasmus beim Geschlechtsverkehr hat, im Gegensatz zu ca. 90–95 % der Männer. Gleichzeitig erleben ungefähr 50 % der Frauen gelegentlich Schmerzen beim koitalen Sex und 10 % jedes Mal (van Lunsen e. Laan 2017). Wenn sie zudem nicht mit der Freude am Orgasmus belohnt werden, lernen sie also nicht, dass Sex etwas Schönes ist. Wie sähe es mit der Lust der Männer aus, wenn die Zahlen umgekehrt wären, d. h., wenn die meisten Frauen beim Geschlechtsverkehr Orgasmen hätten, aber drei Viertel der Männer dabei frustriert und unerfüllt blieben? Vielleicht lässt sich so besser verstehen, wie der Mythos, dass Frauen im Vergleich zu Männern weniger Lust haben, entstehen konnte.

Dementgegen wird die Sexualität von Männern zu einer unaufhaltsamen und unwillkürlichen Kraft reduziert, die vom Kontext unberührt bleibt. Die Daten unterstützen diese Unterscheidung nicht, genauso wenig wie die Erfahrungsberichte aus der klinischen Welt. Außerdem ist die Etablierung einer eigenen Triebtheorie für Männer eine sozial gefährliche. Auch der männliche Sexualtrieb, obwohl er stärker zu sein scheint, wird von sozialen Kräften, Beziehungen und dem Selbstwertgefühl beeinflusst, und der vermeintlich spontane Wunsch der Männer ist keine rein biologische Kraft, die nach einem Ventil sucht. Die Sexualität von Frauen scheint zwar beziehungsorientierter zu sein, verschiedene Untersuchungen stellen diese Annahme jedoch wieder infrage (Meana 2010). Die Botschaft, mit der sehr viele weiter aufwachsen, ist »Richtige Männer landen Treffer« und »Brave Mädchen tun es nicht«, eine Dynamik, die die Leidenschaft bei unzähligen Paaren zerstört (Ogden 2008). Es geht hier nicht darum zu diskutieren, inwieweit die Sexualität von Männern und Frauen gleich ist, es geht darum, die Ungleichheiten der sozialen Kontexte im Auge zu behalten, weil diese einen wesentlichen Teil des Problems darstellen.

Trotzdem liegt bis heute den Abbildungen und Texten im Biologieunterricht eine Vorstellung der Komplementarität von Mann und Frau zugrunde, die weder dem aktuellen Forschungsstand entspricht noch für das sexuelle Erleben der Frau günstig ist (Beck 2016). Es geht um die Vorstellung, dass Penis und Vagina gleichgestellt sind, obwohl es die Klitoris ist, die das eigentliche sexuelle Organ der Frau darstellt. Sie ist übrigens viel größer als der äußerlich sichtbare Teil.

1.1.5Die »Neuentdeckung« der Klitoris

Im Jahr 1559 behauptete der italienische Anatomieprofessor Colombo, die Klitoris in ihrer ganzen Fülle entdeckt zu haben. Aber der Anatom Falloppio bestand darauf, dass er die Klitoris zuerst erblickt hatte. Beide erhielten im 17. Jahrhundert Kritik vom dänischen Anatomen Bartholin (Junior), der sagte, die Klitoris in ihrer ganzen Ausdehnung sei bereits seit dem zweiten Jahrhundert bekannt. Im Jahr 1844 wurde sie dann vom deutschen Anatomen Georg Ludwig Kobelt wiederentdeckt (Laqueur 1990). Trotz dieses Wissens wurde der ganze Umfang der Klitoris bis vor Kurzem in Anatomiebüchern immer wieder ignoriert. Und so war es eine »Überraschung«, als die australische Anatomin Helen O’Connell 1998 die gesamte Klitoris mit modernen Techniken »entdeckte«.

Wenn die Klitoris beim Geschlechtsverkehr mit einbezogen wird, so verdoppelt sich der Prozentsatz von Orgasmen bei Frauen (van Lunsen e. Laan 2017). Das komplementäre Bild von Penis und Vagina ist veraltet und gehört in die Zeiten, in denen man Sex ausschließlich für reproduktive Zwecke haben durfte. Aber der häufigste Sex, der heute auf der Welt geschieht, findet nicht zur Fortpflanzung statt, sondern im Gegenteil: Viele versuchen eine Schwangerschaft gerade zu vermeiden. Außerdem lässt sich eine Befruchtung heutzutage im Reagenzglas durchführen, dafür braucht man keinen Koitus mehr.

1.1.6Sexualität jenseits alter Reaktionen

Unsere Klienten sehen Sexualität oft noch im Schatten alter Ideen, wie Sexualität zu sein habe. Aber sie begrüßen die Möglichkeit, sich sexuell kompetenter zu fühlen, auch wenn sie etwas Zeit brauchen, ihre eigenen Reaktionen oder die des Partners nicht zu bewerten und keinen Druck zu machen, um eine »richtige« sexuelle Reaktion zu erschaffen (Iasenza 2010). Es ist deshalb erfreulich, dass mehr und mehr Forscher die Meinung teilen, dass es mehr Übereinstimmungen als Unterschiede zwischen den Geschlechtern gibt. Das ist eine gute Nachricht für uns alle: Nur wenn wir die Rigidität begrenzter Geschlechtsauffassungen verlassen können, wird es möglich, vor allem Langzeitbeziehungen von den limitierenden sexuellen Szenarien zu befreien, die für so viele charakteristisch sind und zu sexueller Langeweile führen (Schnarch 1997).

Gleichzeitig sind es aber die kleinen Unterschiede, die die meisten interessieren, die Schlagzeilen machen und Umsatz generieren. Letztendlich ist es die Variation, die die einzige wirklich universelle Eigenschaft von Sexualität darstellt (Nagoski 2015). Menschen können sich selbst umso besser verstehen, je mehr sie ihre eigene Sexualität kennenlernen. Und zwar nicht, um sich in Kategorien einzuordnen, sondern um die persönliche Eigenart zu begrüßen. Die Sexualität eines Individuums kann nie komplett erfasst werden in einem einheitlichen Modell.

Es hilft, sich die Sexualität als ein Mosaik vorzustellen, bei dem nicht zwei Steinchen gleich sind. Es sind genau diese vielen individuellen Variationen und Unterschiede zwischen Menschen, die die Arbeit mit dem Thema Sex für manche Psychotherapeuten unüberschaubar machen. Und für andere gerade sehr spannend.

1.2Sexualtherapie in einer vielfältigen Welt

Wenn es um Sex und Sexualität geht, begibt man sich in eine Welt von Unklarheiten und mehrfachen Bedeutungen. Dazu kommt, dass Sex und Geschlechtsidentität heutzutage kontrovers beladene Begriffe sind, was die Arbeit mit dem Thema für manche zu einer kaum zu bewältigenden Aufgabe machen kann (Iasenza 2010). Deswegen ist es wichtig, Therapeuten zusätzliche Fertigkeiten und Kenntnisse anzubieten, die sie in einer systemischen Psychotherapieausbildung nicht unbedingt erhalten haben. Leider ist es aber so, dass in den meisten Literaturlisten von Paartherapiekursen keine Referenzen zur Unterstützung der Behandlung sexueller Probleme aufgeführt sind. Dies kann den Eindruck erwecken, dass die Sexualtherapie ganz von der Paar- und Familientherapie abgetrennt wird. Das Thema Sexualität fehlt sogar vollkommen in der üblichen systemischen Literatur (Markovich 2007) und spiegelbildlich gibt es in der klassischen Sexualtherapie keinen Platz für systemisches Denken. In den klassischen Ausbildungen zur Sexualtherapie lernt man viel über funktionellen sexuellen Kontakt, aber wenig darüber, wie man sexuelle Intimität fördert (Kleinplatz 2012a). Darum funktioniert die klassische Sexualtherapie am besten bei Paaren, die außer ihrer Sexualität sonst keine Probleme miteinander haben (von Sydow u. Seiferth 2015). In allen anderen Fällen machen die Klienten die Hausaufgaben, die man in der klassischen Sexualtherapie mitgibt, einfach nicht oder es kommt zum Therapieabbruch (Ogden 2008).

Erst in jüngerer Zeit haben Sexual- und Paartherapeuten ernsthaft versucht, diese beiden Bereiche zu integrieren und zu erforschen, wie Sexualität und Intimität als anspruchsvolle Systeme funktionieren und interagieren (Schnarch 1997). Deswegen kann man auch argumentieren, dass alle neueren paartherapeutischen Ansätze zur Behandlung von sexuellen Problemen systemisch sind, insofern als sie Regelkreise des Zusammenspiels der Partner analysieren und zu verändern suchen und ressourcenorientiert arbeiten (von Sydow u. Seiferth 2015).

Auf theoretischem Niveau ist es eine Selbstverständlichkeit, das Thema Sex zu behandeln. Eine andere Sache ist es, sich in einer Sitzung aktiv damit zu befassen. Das fühlt sich für viele Therapeuten heikel an, vielleicht ist es sogar ein Thema, das manche überfordert. Wichtig ist zu wissen, dass sexuelle Krisen nicht unbedingt bedeuten, dass eine Beziehung auseinanderfällt – sie können sogar ein entscheidender Impuls für einen Wachstumsprozess des Paares sein. Als Therapeuten fühlen viele sich allerdings schlecht auf das Thema vorbereitet, nicht nur, weil es in den meisten Ausbildungen nicht thematisiert wird, sondern auch, weil zahlreiche Menschen sich immer wieder Gedanken oder Sorgen über die eigene Sexualität machen und die vielen Unsicherheiten, die damit verbunden sein können: ein wichtiger Punkt, sich mit der eigenen Sexualität zu beschäftigen, um als Therapeut gut mit dem Thema arbeiten zu können. Nur so wird einem bewusst, welche Themen einem eher liegen als andere, nur so versteht man die eigenen Werte und Vorstellungen von Sex besser und nur durch Selbstreflexion und den Austausch mit Kollegen sowie dem eigenen Therapeuten bzw. Supervisor kann man empathischer auf Klienten eingehen, denen es schwerfällt, in einer Sitzung offen über das Thema zu sprechen.

Die Sexualtherapie ist bei sexuellen Problemen auch von daher besonders effektiv, da andere Therapieformen diese nur als Symptome tieferer emotionaler Probleme betrachten. Bis zum Aufkommen der Sexualtherapie konnten Menschen Jahre auf der sprichwörtlichen Couch verbringen, ohne jemals ihre sexuellen Probleme direkt zu thematisieren (Hall 2004). Allerdings besteht ein großes Defizit an Ausbildungsmöglichkeiten in der Sexualtherapie und es ist äußerst selten, dass sie interdisziplinär angeboten wird (Kleinplatz 2012a). Dies kann mit der Vorstellung zu tun haben, dass, wenn man die Beziehungsdynamik verbessert, der Sex von alleine wieder funktioniert. Das kann durchaus passieren, wenn Paarkonflikte mit im Spiel sind. Allerdings geschieht es auch oft, dass sich zwar die Beziehungsdynamik verändert hat, der Sex aber trotzdem nicht besser wird. Veränderungen im Leben oder in der Beziehung vorzunehmen, um das zu korrigieren, was aus dem Gleichgewicht gekommen ist, führt nicht automatisch zu einem Wiederaufleben der sexuellen Lust. Außerdem kann man in Verhaltensmustern stecken und steckenbleiben, die das sexuelle Erleben auf einem sehr niedrigen Lustniveau aufrechterhalten.

Die Sexualwissenschaft würde den Menschen besser dienen, wenn sie sich mehr auf das sexuelle Vergnügen anstatt nur auf »genug Sex« konzentrieren würde. Erotik passt nicht gut zur Medikalisierung der Sexualität und der Betonung von Tumeszenz, Lubrikation, Orgasmus und »sexueller Gesundheit«. Die erotische Landschaft ist wesentlich größer, reicher und komplizierter als die Physiologie des Geschlechts oder ein Repertoire an Sexualtechniken. Paare in langjährigen Beziehungen, die einen erotischen Funken beibehalten haben, wissen, wie man auf lange Sicht ein Gefühl von Lebendigkeit, Lebensfreude und Vitalität pflegt. Sie verstehen, dass ein zentraler Akteur der Erotik die Fantasie ist. Nicht unbedingt Fantasien, die sich auf die Vielfalt neuer sexueller Positionen konzentrieren, sondern solche, die dazu beitragen, dass wir uns und unseren Partner weiterhin mit einer faszinierenden Neugierde betrachten und interessant und attraktiv für uns selbst bleiben (Perel 2010).

Die Forschung und klinische Untersuchungen können einen großen Beitrag zur Förderung der Inklusivität und zur Berücksichtigung der Vielfalt des gesamten Spektrums sexuellen Verlangens leisten (Meana 2010). Das menschliche Begehren gedeiht nicht, indem erklärt wird, was eine »richtige« oder eine »gute« Sexualität ist – Sexualität ist vielfältig. Und das Begehren will nicht in Kategorien eingeengt werden. Dafür ist Erotik zu anarchistisch.

Der systemische Grundgedanke, dass die sexuelle Funktion eines Partners immer einen Einfluss hat auf den anderen Partner, ist offensichtlich wichtig. Die systemische Sichtweise ist auch dann hilfreich, wenn man mit Menschen arbeitet, die Beziehungen außerhalb des traditionellen Verständnisses von Monogamie führen. Eine mittlerweile substanzielle Anzahl an Menschen lässt Ausnahmen davon zu. Manche Paare haben Verabredungen, dass man auf Geschäftsreisen mit anderen schlafen darf, andere haben die Regel, nur einmal mit dem gleichen und nur außerhalb des Freundeskreises Sex haben zu dürfen. Wieder andere haben eine feste Beziehung mit einem Dritten, der auf viele Weise in den Alltag mit einbezogen werden kann. Noch andere führen offene Beziehungen mit einem primären Partner und weiteren Liebespartnern. Und schließlich gibt es diejenigen, die polyamorös leben, wenn mehrere Partner gleichgestellt sind. Anders-gesagt: es gibt eine Vielzahl an Möglichkeiten, wie Beziehungen geführt werden, und es ist gut, sich zu vergegenwärtigen, dass Monogamie eher an eine Kultur gebunden ist, als dass sie einen universellen natürlichen Zustand darstellen würde (Weeks, Gambescia a. Hertlein 2016).

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