Kitabı oku: «"Ich habe die Wolken von oben und unten gesehen"»
KARL
GABL
„Ich habe die Wolken von oben und unten gesehen“
DIE BERGE. DAS WETTER. MEIN LEBEN.
Für Edith und Stephanie
Berge hinterlassen Spuren: Nach der Expedition auf den Putha Hiunchuli (7246 Meter) im Oktober 2012
VORWORT
Als der Everest-Pionier George Leigh Mallory einmal gefragt wurde, weshalb er auf Berge steige, soll er geantwortet haben: „Weil sie da sind.“ Weshalb ich dieses Buch geschrieben habe? Die Antwort ist ganz einfach: Weil ich darum gebeten wurde. Und ich muss zugeben, ich habe mich lange Zeit davor gedrückt. Nicht nur, weil mir das Ansinnen, meine Memoiren zu verfassen, vor Augen führte, dass mein Cursor auf der Zeitleiste des Lebens schon weit nach rechts gerückt ist. Vor allem war mir bewusst, dass wer sich an sein Leben zurückerinnert, nicht nur an die schönen Momente denken kann. So hat auch der Rückblick auf die 70 Jahre meines Lebens frappierende Ähnlichkeit mit einem spannenden, nicht endenden Bergwetterbericht, der Perioden mit Hochs und Tiefs, mit strahlendem Sonnenschein, mit dichtem Nebel, aber auch mit Schneesturm, Gewittern und Naturkatastrophen beschreibt.
Was bleibt, sind dann aber doch die schönen Stunden. Ich habe sie vor allem entdeckt, als ich mein umfangreiches fotografisches Archiv in Augenschein nahm. Denn es sind ja insbesondere diese Ereignisse, die wir für später festhalten. Für die Retrospektive kramte ich in Tausenden von Fotos. Ich wühlte mich durch Kartons voller Papierbilder, durchforstete Kleinbild- und Mittelformatdias und Ordner mit digitalen Aufnahmen. Die Bilder erinnerten mich an große Abenteuer und berührende Momente. Wochenlang standen auf dem Esstisch und auf dem Fußboden, auf dem Sideboard und dem Couchtisch die grauen Dia-Boxen. Wie die Türme der Sella-Gruppe wuchsen sie in die Höhe. Mal wirkten sie auf mich bedrohlich, weil ich es vor langer Zeit verabsäumt hatte, die Boxen zu beschriften, mal empfand ich unermessliche Mühe, die Dias abzuarbeiten, und das andere Mal hatte ich große Lust auf dieses besondere Abenteuer, das mich natürlich in die Berge führte.
Zwar verbinden viele mit meinem Namen vor allem die Wetterberatung von Bergsteigern. In aller Bescheidenheit möchte ich aber doch behaupten, dass es eine Zeit gab, in der ich ganz passabel unterwegs war: In den Nordwänden von Königsspitze und Ortler und auch in der Ostwand des Monte Rosa. Auch den Peutereygrat am Mont Blanc habe ich gemacht. Im Fels der Dolomiten die Agnèrkante, Routen an der Tofana di Rozes, die „Lacedelli/Ghedina“ in der Scotoni-Westwand, die Nordwand der Großen Zinne, die „Gelbe Kante“ und die „Egger/Sauschek“ an der Kleinen Zinne; im heimischen Karwendel den Hechenbergpfeiler, die meisten klassischen Routen in der Martinswand und auch die Laliderer-Nordwand. Viele dieser Routen kletterte ich zu einer Zeit, als beim Abseilen noch die Dülfer-Methode das Nonplusultra war. Mit einigen bis zum heutigen Zeitpunkt nicht wiederholten Erstbegehungen habe ich lokale Bergsteigergeschichte geschrieben. Mit unserer Skiexpedition zum Noshaq stellten wir sogar den Höhenweltrekord für Skibergsteiger auf. Mittlerweile habe ich fast fünfzig Gipfel über 5000 Meter Höhe bestiegen, zahlreiche Sechstausender und drei Siebentausender. Auf 17 Vulkanen bin ich gestanden, darunter auf dem höchsten aktiven Vulkan der Erde, dem Ojos del Salado (6893 m) in Chile. Und dass ich es im fortgeschrittenen Alter von 66 Jahren noch auf einen Siebentausender geschafft habe, erfüllt mich doch mit einer gewissen Zufriedenheit.
Wer 70 Jahre in zwei Buchdeckel packen will, der kann nur unvollständig bleiben. Meine Memoiren sind deshalb keine taxative Aufzählung aller meiner Taten und auch keine Chronik meiner Missetaten. Sie können dem Leser nur einige für mich wichtige Momente am Berg, im Beruf und mit der Familie näherbringen.
Zwar dachte ich zunächst, mein Leben würde nie und nimmer ein ganzes Buch füllen können. Nachdem ich mir aber die ersten Zeichen mühevoll abgerungen hatte, bestand die Schwierigkeit am Ende darin, mich zu beschränken. Ich konnte deshalb nicht alle Wegbegleiter namentlich erwähnen und genauso wenig all jene, die mir heute wichtige Stützen und liebe Freunde sind. Sie mögen mir das verzeihen.
Danken möchte ich an dieser Stelle Anette Köhler und Margret Haider, die meinen Text mit großer Umsicht und mich zur rechten Zeit auch mit dem nötigen Nachdruck begleitet haben. Ich danke allen Bergsteigern, die zu diesem Buch einen Beitrag beigesteuert haben. Über die Jahre sind sie mir sehr ans Herz gewachsen und zu Freunden geworden. Und schließlich möchte ich auch meiner Frau Stephanie danken, ohne deren Unterstützung ich mir dieses Projekt nie und nimmer zugetraut hätte.
Karl Gabl
Sankt Anton, 26. Juli 2016 – am Fest der heiligen Anna
INHALT
Der „Piargers Karl“
In der Stella Matutina
Bergleidenschaft
Skigeschichten
Spiel und Ernst: Meine Zeit bei Fußball, Musikkapelle und Bergrettung
Ein Weltrekord auf 7492 Meter Höhe
Wolfgang Nairz: Vor dem Sturm am Elbrus
Neue Wege in Südamerika
Thomas Klimmer: Touren in Fels und Eis
Im Lawinenstrich
Bergpraxis
Ernst Vogt: Das „Rucksackradio“
Im Dienste der Sicherheit am Berg
Gegen den weißen Tod
Thomas Huber: Vier perfekte Tage am Ogre
Alexander Huber: Free solo am Grand Capucin
Wetterwissen
Stephan Siegrist: Die halbe Miete
Familienwege
Simone Moro: Im Vertrauen
Die Arlberger Baruntse-Expedition
Alix von Melle: Sturm am Dhaulagiri
In Richtung Achttausender
Ralf Dujmovits: Ohne Erfrierungen
Schienen durch St. Anton: Wie es zur Bahnverlegung kam
Axel Naglich: Nicht ohne Charlys Handynummer
Von Goldmedaillen, Warnsystemen und Wetter-Radarstationen
Tamara Lunger: Das unsichtbare Teammitglied
Wetterfenster in Sicht – Expeditionsberatungen
Gerlinde Kaltenbrunner: Noch eine Chance am K2
Ungewöhnliche Prognosen
Heinz Zak: Ein langer Weg mit Charly
Weitere Expeditionen an hohen Bergen
Hansjörg Auer: Die Richtung, aus der das Wetter kommt
Touren in Afrika
Ines Papert: Ein Grundkurs in Wetterprognose
Mit 66 Jahren
DER „PIARGERS KARL“
Bei meiner Geburt im Dezember 1946 war der Zweite Weltkrieg gerade eineinhalb Jahre vorüber. Mein Vater Karl, von Beruf Malermeister, hatte den Krieg als Soldat der Wehrmacht hauptsächlich an der Eismeerfront in der Nähe von Murmansk verbracht, am einzigen eisfreien Hafen nördlich von Finnland. Meine Mutter Marianne ängstigte sich und zitterte, ob mein Vater wieder aus dem Krieg nach Hause kommen würde. Meine Schwester Erika, die im September 1939 geboren wurde, und mein Bruder Sigi, der im April 1944 zur Welt gekommen war, mussten ihre ersten Lebensjahre ohne Vater auskommen. Ich hatte es da besser.
Die Zeit nach dem Krieg war von Entbehrungen geprägt. Die Leica, die sich mein Vater während des Kriegs gekauft hatte, tauschte er nach seiner Rückkehr aus Russland gegen eine Ziege ein, um täglich frische Milch für die Familie zu haben. Das ist auch der Grund, weshalb es keine Fotos von mir als Baby gibt. Alles, was ich über meine ersten Wochen und Monate sagen kann, weiß ich aus den Erzählungen meiner Mutter. Etwa, dass Weihnachten 1946 sich alles um mich scharte, den „Piargers Karl“ – „Piargers“ ist unser Hausname, der wohl von den Vorfahren herrührt, die von Tannberg, also von der anderen Seite des Arlbergs, stammten. Der Piargers Karl lag also Weihnachten 1946 in seinem Bett und die Nachbarn kamen mit Geschenken, um das „Christkindl“ mit den blonden Haaren und den blauen Augen zu bestaunen. So erzählte es meine Mutter.
Obwohl ich ein Nachkriegskind bin, sind meine ersten eigenen Erinnerungen aus meiner Kindheit die Erzählungen vom Krieg. Fast jeder Kunde meines Vaters, der den elterlichen Malerbetrieb als Ältester übernommen hatte, erzählte von seinen Erlebnissen an diversen Kriegsschauplätzen im hohen Norden, in Russland oder auf dem Balkan. Ich hörte auch manchmal etwas von den Partisanen dort, vor denen sich alle fürchteten. Mir machten die Erzählungen, die ich als Kind belauschte, fürchterliche Angst. Das führte so weit, dass ich höllische Angst hatte, wenn eine Eisenbahn, deren Strecke direkt an unserem Haus verlief, vorbeifuhr. Noch heute sehe ich die Räder des Zuges vor mir, wie sie sich um die Achse drehen, und noch immer steigt bei dem Gedanken daran latente Angst in mir hoch. Als ich den ersten Düsenjäger durch das Stanzertal donnern sah und hörte, lief ich schreiend ins Haus und verkroch mich. Woher sollte ich als Kind wissen, dass das nicht der Vorbote eines weiteren Krieges war?
Meine Eltern Marianne und Karl Gabl
Natürlich waren mir auch die Besatzungssoldaten nicht geheuer. Noch gut erinnere ich mich an eines der Wintermanöver. Bei großer Kälte in weiße Mäntel gehüllt, führten uns französische Soldaten auf der anderen Talseite, in der Wolfsgrube, ihre Präsenz deutlich vor Augen. Meine Mutter machte ihnen viele Kannen Tee und ich schaute zu, wie die Franzosen ihre kalten Hände an den dampfenden Tassen wärmten. Zum ersten Mal sah ich auch „Neger“. So hieß das damals. Und besonders stolz war ich, als mir ein schwarzer Soldat Bonbons schenkte.
Neben den Nachkriegserzählungen habe ich eine weitere dramatische Erinnerung aus meiner Kindheit. In unserem Radio, einem alten Röhrenempfänger mit massiver Holzverkleidung und Stoffbespannung über dem Lautsprecher, wurde Anfang Februar 1953 über die Flutkatastrophe in Holland berichtet. Durch einen Orkan war das Wasser gegen Deiche gedrückt worden, woraufhin diese zerbarsten. Fast 2000 Menschen ertranken damals in den Fluten. Gespannt saß ich vor dem Radio und hörte die Berichte über die unfassbare Katastrophe. Vielleicht hat dieses Ereignis mich unbewusst zur Meteorologie gebracht. Letztlich war es aber wohl mehr ein Artikel über den Innsbrucker Meteorologen und Glaziologen Herfried Hoinkes, der das Internationale Geophysikalische Jahr 1956 in der Antarktis verbrachte. Die Aussicht, möglicherweise ebenfalls einmal am Südpol zu sein, lockte mich mehr, als ein Jus-Studium oder die Ausbildung zum Steuerberater, die sich mein Vater hätte für mich vorstellen können.
Der Beginn meiner Bildungskarriere verlief recht holprig. Ich verbrachte gerade einmal zwei Tage im Kindergarten in St. Anton, dann entschloss ich mich, fortan wieder zu Hause zu bleiben. Der erste Grund war die überaus gestrenge geistliche Schwester in ihrem Ordenskleid, die mich nicht das tun lassen wollte, was mir gefiel. Der zweite war wahrscheinlich die Tätigkeit meiner Eltern. Meine fleißige Mutter, die ohne weitere Hilfe für ihre drei Kinder, ihren Mann und die elf Gesellen des Malerbetriebes kochte und – ohne Waschmaschine – wusch, hatte keine Zeit, mich jeweils eine halbe Stunde zum Kindergarten auf die andere Seite des Dorfes zu begleiten und dort wieder abzuholen. Vielleicht war es ihr bei all der Arbeit von früh bis spät ganz recht, dass ich kein gesteigertes Interesse am Kindergarten zeigte. Mein Vater war ab 7 Uhr im Betrieb, sodass meine Weigerung auch bei ihm auf fruchtbaren Boden fiel.
In dieser Zeit muss es auch gewesen sein, dass mir unser Arzt, Doktor Santeler, der Hausarzt der ganzen Einwohnerschaft von St. Anton, einen Milchzahn reißen musste. Dass mir das als kleinen Buben keine große Freude bereitete, kann ich mir in Anbetracht meiner noch heute vorhandenen Aversion gegen Zahnarztbesuche gut vorstellen. Ich soll mich schon damals nicht nur mit Händen und Füßen gewehrt haben, aus Erzählungen meiner Mutter weiß ich, dass ich den Doktor bei dieser Gelegenheit in den Finger gebissen haben soll. So schmerzhaft kann es aber nicht gewesen sein, denn ich blieb sein Patient.
Konnte ich den Kindergarten noch vermeiden, gab es bei der Schule keine Ausreden mehr. Ich hatte aber auch da Glück. Aufgrund meines Geburtstages am 21. Dezember hätte ich schon als Fünfjähriger, im Herbst 1952, eingeschult werden müssen. Wegen meiner schmächtigen Körpergröße – die St. Antoner sagen dazu „Greggaler“ – wurde ich aber wieder nach Hause geschickt. Ein Jahr später gab es aber kein Entrinnen mehr.
Dass meine Eltern mich am ersten Schultag nicht in die Volksschule begleiteten, machte mir nichts aus. Selbstbewusst betrat ich nach dem Gottesdienst eines der Klassenzimmer, und fast alle Eltern und Erstklässler folgten mir. Dass es leider die falsche Klasse war, stellte sich erst hinterher heraus. Das fing schon einmal gut an.
An die Schule und den Unterricht in den ersten Klassen habe ich wenige Erinnerungen, viele aber an den Schulweg mit meinem Nachbarn und Mitschüler Walter Strolz. Nur selten kam es vor, dass wir über die wenig befahrene, langweilige Hauptstraße ins Dorf gingen. Es gab viel mehr Spannendes auf der Sunnawiesa, im Gassli oder in der Au zu entdecken. Eines Tages im Winter nach einem starken Schneefall – wir hatten auch am Nachmittag Schule – gingen wir über das abgelegene, bei Schneelage nicht begangene Gassli nach Hause. Hinter dem Gasthaus Krone hüpften wir von einem niederen Schuppen in den tiefen, nassen und kompakten Neuschnee. Plötzlich blieb ich stecken. Alle Bemühungen, meine kleinen Füße freizubekommen, nützten nichts. Auch Walter konnte mir nicht helfen. Mit dem Versprechen, meinen Bruder Sigi mit einer Schaufel zu mir zu schicken, ging er weiter. Ganz offensichtlich hatte Walter auf dem weiteren Nachhauseweg zu meinem Leidwesen aber wieder etwas Interessantes entdeckt und mich vergessen. Als es dunkel wurde und meine Mutter mich vermisste, ging sie hinüber zu den „Nazalers“, so lautete der Hausname der Familie Strolz, um sich nach mir zu erkundigen. Da erinnerte sich auch Walter wieder an mich. Mein Bruder Sigi kam mir zu Hilfe und fand mich durchgefroren mit vielen Tränen auf den Wangen vor. Weil auf Walter aber bis auf diese Ausnahme Verlass war und bis zum heutigen Tag ist, war ich ihm nicht böse. Und noch immer lachen wir viel, wenn er diese Geschichte in einer gemütlichen Runde zum Besten gibt.
Beim Indianerspielen unterhalb meines Elternhauses. V. I.: Karl Wolfram, Karl Gabl, ein heute nicht mehr erinnerlicher Spielkamerad, Robert Alber
Aus Mangel an Trikots trugen die Nassereiner mit T-Shirts, die Dörfler mit nacktem Oberkörper ihre Fußballspiele aus: Mit Schiedsrichter Karl Cordin in der Mitte. V. I.: Gebhard Strolz, Karl Wolfram, Elmar Schulter, Karl Cordin, Walter Strolz, Karl Gabl, Reinhold Falch, Benno Mussak, hinten versteckt Harald Rofner, Walter Wasle, Martin Hauser, Gerd Doff-Sotta
Walter wusste um meine Blauäugigkeit. Einmal riet er mir bei tiefen Minusgraden, meine Zunge an das Rohr des Schulbrunnens zu halten. Ich tat, wie mir der gute Freund geraten. Daraufhin klebte ich aber für längere Zeit am gefrorenen Rohr fest, bis es, erwärmt von der Zunge, mich wieder freigab. Auch dieser Vorfall schweißte Walter und mich noch mehr zusammen. Ich habe in ihm einen wunderbaren Freund gefunden, mit dem ich später dann auch viel beim Klettern und auf Skitouren unterwegs war. Noch heute schätze ich seinen intelligenten und trockenen Humor.
Nicht weit weg in der Nachbarschaft wohnte die Familie Schmidt-Chiari in einem großen Haus mit riesigem Garten. Constantin, den wir Tino nannten, der jüngste der Kinder, ging mit meinem Bruder Sigi in die Volksschule. Oft spielten wir mit Tino im Haus der Familie. Mit seinen älteren Geschwistern Monika, die später Architektur studierte, und mit Guido, von uns – wegen seines zweiten Vornamens – Niko gerufen, dem späteren Generaldirektor der Creditanstalt in Wien, hatten wir weniger Kontakt. Tinos Großmutter war die Gräfin und Freifrau Chiari, von der wir unseren ersten Hund, den Nilo, bekamen. Nilo war ein Mischling, dessen Wurzeln wir nicht genau nachvollziehen konnten.
Wir hatten gehört, dass Tinos Vater in Wien ein „hohes Tier“ – so bezeichnete man ranghohe Persönlichkeiten – gewesen sei. Als Fünfjähriger interessierte mich das aber nicht weiter. Erst später realisierte ich, dass er vor dem Einmarsch Hitlers im Jahr 1938 Außenminister in der Regierung von Kanzler Kurt Schuschnigg war. Nach dem Zweiten Weltkrieg stand Tinos Vater über viele Jahre Semperit, dem renommierten österreichischen Reifenerzeuger, als Generaldirektor vor. Mit ihm bin ich zum ersten Mal in einem Auto mitgefahren. Geplant war ein Ausflug zum Tramser Weiher, einem idyllischen Badesee oberhalb von Landeck. Bis Wiesberg kamen wir auf der kurvenreichen Strecke gut voran. Vielleicht war es der Anblick der die Trisanna in einem hohen Bogen überspannenden Eisenbahnbrücke, der mich blass werden ließ. Ich musste mich jedenfalls übergeben. Anstatt eines erwarteten Donnerwetters wurde ich aber liebevoll betreut und die Rückstände wurden rasch beseitigt. Dann setzten wir unsere Fahrt nach Landeck fort. Bis heute wird mir im Fond eines Autos, aber auch in den hinteren Sitzreihen eines Busses übel.
Der zwei Jahre ältere Tino war aber nicht nur unser Spielkamerad, er war auch Sponsor. Das kam so: Neben verschiedenen damals üblichen Spielen im Freien erinnere ich mich an das Spiel „Pfui Zeit erleas“, ein Versteckspiel, bei dem man sich unbemerkt vom Suchenden abklatschen, also erlösen, musste. Neben den Spielen organisierte ich Laufrennen, die vom Reselehof über St. Jakob, Rafalt und das Pitzi wieder zum Reselehof zurückführten; es war eine Strecke von über zwei Kilometern. Gerne rannten alle um die Wette, weil es Preise zu gewinnen gab. Eine kleine Schokolade, Bonbons, uraltes Skiwachs, das ich auf dem Dachboden gefunden hatte, und manchmal eben auch ein paar Schillinge von Tino als Hauptpreis. Karle Cordin, der spätere Skirennläufer, ein Abfahrer von Weltklasse, machte mit, genauso wie der dritte Karl in Nasserein, Karl Wolfram, der so wie Karle etwa ein Jahr jünger war als ich. Jedes Rennen habe ich gewonnen. Und die von Tino gestifteten Preise waren neben meinem Ersparten Grundlage für den Kauf meines ersten Eispickels.
Wir waren aber nicht immer lieb mit Tino. Beim Indianerspiel kam uns der Gedanke, Tino an einen Marterpfahl zu fesseln. Als Pfahl verwendeten wir den Holzpfosten einer Wäscheaufhängung, dazu ein dünnes Seil, das wir in Kreisen unter ausgerissenen Grashalmen versteckten. Indianertänze aufführend, baten wir Tino in den Kreis vor unserem Marterpfahl, und ehe Tino es bemerkte, griff Walter die Schnur unter dem Gras und stülpte sie über die Schienbeine von Tino. Sofort begannen wir nun, die Schnur in Händen, so oft um den Pfahl zu laufen, bis Tino bis zur Brust gefesselt war. Es war aber keine martialische Aktion, Tino lachte, wir lachten, und alles war wieder gut.
Mein Elternhaus in Nasserein. Das Kellergewölbe stammt aus der Zeit um 1480, die Stube aus dem Jahr 1680.
Auf unserem Haus in St. Anton haben wir ein Bezugsrecht für Holz, üblicherweise wenige Kubikmeter Brennholz, bei Umbauarbeiten am Haus sind es einige Kubikmeter Bauholz. Oft durften Sigi, mein um zwei Jahre älterer Bruder, und ich unseren Vater zu Arbeiten „ins Holz“ begleiten. Eines Tages wurden wir zu einem Holzschlag über dem Rifaplan mitgenommen. In den Hängen waren aber die kleinen Bäche und die feucht-moosigen Stellen vereist. Die vom Vater ins Tal zu transportierenden Baumstämme kamen auf den vereisten Stellen in Fahrt. Sie rutschten nicht nur, sondern sausten, sich überschlagend und in Stücke zerbrechend, ins Tal. Sigi und ich konnten uns vor Lachen kaum halten, da kaum ein Baum unversehrt seine Drift beendete. Aber Vaters Gesicht verfinsterte sich von Baumstamm zu Baumstamm. Er hatte gerade wertvolles Bauholz in Brennholz umgewandelt.
Meine Schwester Erika versuchte manchmal, etwas strenger zu mir zu sein. Zu recht, denn meine Eltern ließen mir, dem damals Jüngsten, so ziemlich alles durchgehen. Meine Schwester Eva kam erst zehn Jahre später zur Welt. Mit Sigi verbrachte ich in der Kindheit die meiste Zeit. Wir spielten stundenlang miteinander, und wir holten schon als kleine Buben alleine die Weihnachtsbäume aus dem Wald, wobei wir es mit den Grundstücksgrenzen nicht so genau nahmen. Sigi gab mir, dem Volksschüler, sein Wissen und den Lehrstoff aus der ersten und zweiten Klasse Hauptschule in Landeck weiter. Er hatte einen Schulatlas, in dem man die gesamte Erde mit ihren Kontinenten und Ländern bewundern konnte. Oft nahmen wir abends – schon im Bett liegend – den Atlas zur Hand und veranstalteten ein geografisches Ratespiel. Dabei musste der jeweils andere eine Stadt in einem fremden Land oder auf einem fernen Kontinent suchen, die ihm vom anderen genannt worden war. Manchmal ärgerte sich Sigi, wenn ich scheinbar ganz interessiert eine bestimmte Stelle im Atlas fixierte und aus dem Augenwinkel gleichzeitig einen davon weit entfernten Ort las, nach dem ich ihn dann befragte.
In unserer Nachbarschaft lebte auch Oberst Adelbert Homa, der Schwiegervater von Skischulleiter Rudi Matt. Wir grüßten Adelbert Homa immer recht freundlich. Was wir nicht wussten, war, dass er an der Dolomitenfront ein hoch dekorierter Soldat gewesen war. Er war Abschnittskommandant beim 2. Regiment der Tiroler Kaiserjäger am Col di Lana, dessen Gipfelkuppe von den Italienern im April 1916 mit 5 Tonnen Dynamit in die Luft gesprengt wurde. Hunderte Soldaten starben. Oberst Homa wurde einen Tag vor der Sprengung von Oberleutnant Anton von Tschurtschenthaler als Kommandant abgelöst. Aus heutiger Perspektive bedauere ich es sehr, dass ich erst viele Jahre nach seinem Tod erfahren habe, was dieser Mann erlebt hat und ertragen musste. Viele Schauplätze der Dolomitenfront habe ich bei meinen Klettereien und Wanderungen bewusst besucht und mir dabei auch die Stollen und Schützengräben angeschaut. Mit den Kindern wanderten meine Frau Edith und ich sogar einmal zum Col di Lana. Und in mahnender Erinnerung an diesen Wahnsinn habe ich zu Hause ein Kreuz hängen, das ich aus dem bei Stellungen gefundenen Holz und rostigem Stacheldraht gefertigt habe.